Auschwitz vor Gericht
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965)
Von Werner Renz, Fritz Bauer Institut
Nationalsozialistische Verbrechen aufzuklären und zu ahnden war der deutschen Justiz nach 1945 aufgrund der alliierten Gesetzgebung zunächst nur begrenzt möglich. Die deutsche Gerichtsbarkeit erstreckte sich auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen und an Staatenlosen. Die Besatzungsbehörden konnten freilich deutsche Gerichte in einzelnen Fällen für zuständig erklären, in denen Deutsche Verbrechen an Bürgern der überfallenen Staaten begangen hatten.
Erst nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war es der bundesdeutschen Justiz gemäß Gesetz Nr. 13 des Alliierten Hohen Kontrollrats (1. Januar 1950) ohne Einschränkung möglich, auch die NS-Untaten zu verfolgen, deren Opfer Angehörige der im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland unterworfenen Länder waren. Anzuwenden war das zur Tatzeit geltende deutsche Strafrecht.
Von 1950 an bis zur Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (ZSt) im Dezember 1958 haben deutsche Staatsanwaltschaften von Amts wegen jedoch bloß in wenigen Fällen gegen Holocaust-Täter ermittelt. Lagen keine Anzeigen von Geschädigten und Verfolgten vor, blieben die Strafverfolger weitgehend untätig.[1]
Die Vorgeschichte des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (20.12.1963–20.8.1965) ist ein Beleg für diesen Befund. Die bundesdeutschen Verhältnisse Anfang der fünfziger Jahre[2] erwiesen sich für eine von Einzelnen durchaus verlangte justizielle Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit als wenig förderlich. Die Entnazifizierung war abgeschlossen, aus ihren Ämtern nach 1945 entfernte Angehörige des öffentlichen Dienstes wurden gemäß dem »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen« (1951)[3] reintegriert. Die in Nürnberg verurteilten sogenannten Kriegsverbrecher waren infolge des ausgebrochenen »Gnadenfiebers«[4] und auf deutschen Druck hin von den Alliierten vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Nach Ansicht vieler Deutscher war endlich die Zeit gekommen, einen »Schlussstrich« unter die jüngste Vergangenheit zu ziehen, zumal sich die Bundesrepublik Deutschland ganz anderen Aufgaben als willkommenes Mitglied der »freien Welt« zu widmen hatte.
Der Prozess gegen Martin Sommer vor dem Landgericht Bayreuth (11.6.1958–3.7.1958)[5], die Flucht des ehemaligen KZ-Arztes Hans Eisele sowie das Verfahren vor dem Schwurgericht Ulm/Donau gegen zehn ehemalige Angehörige der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit (28.4.1958–29.8.1958)[6] verdeutlichten den Verantwortlichen in Bonn, der westdeutschen Justiz und einer die NS-Vergangenheit nicht länger verdrängenden Öffentlichkeit[7], dass die Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen durch die Prozesse der Alliierten und die wenigen Verfahren vor deutschen Gerichten[8] (zumeist auf der Grundlage des geltenden Strafrechts, wenige auf der des Kontrollratsgesetzes Nr. 10) noch längst nicht abgeschlossen war. Auf einer Konferenz in Bad Harzburg Anfang Oktober 1958 berieten die Justizminister und -senatoren der Bundesländer über notwendige rechtspolitische Schritte[9], die NS-Verbrechen umfassend aufzuklären.
Der vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung zuwider, die die Verfolgung und Bestrafung der Täter, die größtenteils unter ihr als unauffällige, anerkannte und geschätzte Bürger lebten, ablehnte, von »Nestbeschmutzung« sprach und die Vergangenheit für erledigt hielt, schlossen die zuständigen Minister und Senatoren eine Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung der Zentralen Stelle. Von den Ländern abgeordnete Richter und Staatsanwälte sollten von Amts wegen die von den nationalsozialistischen Gewaltherrschern im Ausland in den Jahren 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen restlos erfassen und aufklären.[10] Sobald die Vorermittlungen der Zentralen Stelle hinreichende Ergebnisse erbracht hatten, waren die Verfahren an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zur Durchführung der Strafverfolgung abzugeben. Die Zentrale Stelle wurde am 1. Dezember 1958 gegründet und stellte nach den Worten ihres ersten Leiters, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, »ein absolutes Novum in der deutschen Rechtsgeschichte«[11] dar.
Die Darstellung der bereits im Frühjahr 1958 beginnenden Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses belegt eindringlich, dass ohne die unermüdliche Initiative von überlebenden Opfern und ohne das singuläre Engagement streitbarer Juristen die strafrechtliche Sühne der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz nicht in Gang gekommen wäre.
Überlebende rührten sich, forschten nach dem Verbleib von Tätern, trugen Namen und Anschriften zusammen, tauschten Informationen aus und sammelten Belastungsmaterial. Beherzte Juristen, dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet, schufen in Zusammenarbeit mit Politikern, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst waren, die rechtspolitischen Voraussetzungen, leiteten umfassende Ermittlungen ein, um bislang unerforschte Tatkomplexe aufzuklären und die strafrechtliche Schuld der an Massenverbrechen Beteiligten zu beweisen. Der politischen Bedeutung und erzieherischen Wirkung solcher Prozesse eingedenk, war es den Initiatoren der Verfahren ein wichtiges Anliegen, im Rahmen eines Strafprozesses gegen NS-Täter Aufklärung über die Vergangenheit zu betreiben, einen Beitrag zur politischen Bildung zu erbringen.
Durch die NSG-Verfahren in den sechziger Jahren leistete die deutsche Strafjustiz in Form der Anklageschriften und der Schwurgerichtsurteile, die allesamt ausführliche, quellengestützte allgemeine, historische Darstellungen enthielten, durch in Auftrag gegebene historische Gutachten[12] sowie durch die in der Beweisaufnahme erbrachten Erkenntnisse, was die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland in den fünfziger Jahren durchaus versäumt hatte: Aufklärung über den Mord an den europäischen Juden.
In Auschwitz taten von der Errichtung des Lagers im Mai 1940 bis zur Auflösung der Haupt- und Nebenlager im Januar 1945 insgesamt etwa 8000 SS-Männer und etwa 200 SS-Aufseherinnen (SS-Gefolge) Dienst.[13] Sie bewachten die Häftlinge, verwalteten und leiteten das Stammlager, das Vernichtungslager Birkenau, das IG Farbeneigene Lager Buna/Monowitz und weitere circa 40 Nebenlager. Allesamt leisteten sie unterschiedliche Tatbeiträge zum Gesamtgeschehen, waren Teil der Todesmaschinerie. Am Ende des Krieges lebten noch schätzungsweise 6500 Mitglieder der SS-Besatzung von Auschwitz.[14]. Gerade rund 800 wurden den vorliegenden Forschungsergebnissen zufolge gerichtlich zur Verantwortung gezogen. Vor polnischen Richtern standen etwa 650 Angehörige des Auschwitz-Personals. Hervorzuheben sind der Prozess gegen den Kommandanten Rudolf Höß vor dem Obersten Volksgerichtshof in Warschau (11.3.–2.4.1947) und das Verfahren gegen 40 SS-Männer und Frauen in Krakau (24.11.–16.12.1947). Höß und 21 Angeklagte des Krakauer Prozesses wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet[15] Die meisten der übrigen etwa 600 Auschwitz-Täter verurteilten die polnischen Gerichte zu Zuchthausstrafen unter zehn Jahren.
Auch vor amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Militärtribunalen standen vormalige Angehörige des SS-Personals von Auschwitz vor Gericht. Angeklagt waren sie aber meist wegen Verbrechen, die sie in anderen Lagern begangen hatten. Hervorzuheben ist der 1. Bergen-Belsen-Prozess vor einem britischen Militärgericht in Lüneburg (17.9.–17.11.1945).[16] Unter anderen wurden der ehemalige Auschwitz-Kommandant Josef Kramer, der Schutzhaftlagerführer Franz Hössler, der SS-Arzt Fritz Klein, die SS-Oberaufseherin Elisabeth Volkenrath und die SS-Aufseherin Irma Grese zum Tode verurteilt und hingerichtet.[17] Weiter der 2. Bergen-Belsen-Prozess (16.5.–22.5.1946), in dem gegen den vormaligen Krematoriumsleiter Walter Quakernack die Todesstrafe verhängt wurde. Der Schutzhaftlagerführer von Buna/Monowitz Vinzenz Schöttl und der zeitweilige Chef der Krematorien in Auschwitz-Birkenau Otto Moll wurden im 1. Dachauer-Prozess (15.11.–13.12.1945) vor einem amerikanischen Militärgericht[18] zum Tode verurteilt und in Landsberg Ende Mai 1946 gehängt.
Im Neuengamme-Prozess in Hamburg (18.3.–3.5.1946) bestrafte ein britisches Militärgericht den vormaligen SS-Arzt Bruno Kitt zum Tode.
Der SS-Arzt Friedrich Entress wurde von einem amerikanischen Militärgericht im Mauthausen-Prozess im Mai 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Wegen in Auschwitz begangenen Verbrechen standen bis zum Jahr 1963 vor bundesdeutschen Gerichten folgende SS-Angehörige: der Rapportführer des Lagers Buna/Monowitz, SS-Hauptscharführer Bernhard Rakers (LG Osnabrück, 1952–1953, 1958, 1959)[19], SS-Rottenführer Karl Kotzur (LG Augsburg 1952/54), SS-Oberscharführer Johann Mirbeth (LG Bremen, 1953)[20], Gerhard Herdel (LG Göttingen, 1953)[21], SS-Obersturmführer Wilhelm Reischenbeck (LG München I, 1958)[22] und der ehemalige SS-Arzt Johann Paul Kremer (LG Münster, 1960).[23]
Rakers wurde wegen in Sachsenhausen und Auschwitz verübten Straftaten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, Kotzur zu neun Monaten Gefängnis, Mirbeth zu sechs Jahren Zuchthaus. Seine Straftaten hatte der Angeklagte im Nebenlager Golleschau begangen. Gerhard Herdel, Ende 1944 unter anderem Kommando- und Rapportführer im Lager Buna/Monowitz, erhielt wegen Totschlagversuchs in zwei Fällen ein Jahr Gefängnis, Reischenbeck, seit Herbst 1944 Führer von Wachkompanien, überführten die Richter, auf Todesmärschen Beihilfe zum Totschlag geleistet zu haben. Sein Strafmaß betrug zehn Jahre Zuchthaus. Der ehemalige SS-Arzt Johann Paul Kremer, von Ende August 1942 bis Mitte November 1942 in Auschwitz als Lagerarzt[24] tätig, wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die erkannte Strafe galt durch die in Polen bis 1958 abgesessene Strafe als verbüßt. Kremer war im Krakauer Prozess gegen Liebehenschel u.a. zum Tode verurteilt, später aber begnadigt und 1958 entlassen worden.
1. Das Ermittlungsverfahren gegen Boger u.a. (16 Js 1273/58)
Gegen einen gewissen Wilhelm Boger, vormals SS-Oberscharführer und Angehöriger der Politischen Abteilung des Lagers Auschwitz, erstattete der in der Landesstrafanstalt Bruchsal wegen Betrugs einsitzende ehemalige Auschwitz-Häftling Adolf Rögner mit Schreiben vom 1. März 1958[25] an die Staatsanwaltschaft Stuttgart Strafanzeige wegen Mordes. Rögner, von Mai 1941 bis Januar 1945 »als krimineller Vorbeugungshäftling« (Häftlingsnummer 15.465)[26], in Auschwitz inhaftiert, machte in seinem Schreiben Angaben über angebliche strafbare Handlungen Bogers, über seine Inhaftierung im War Crimes Camp 29 in Dachau, seine Flucht aus einem Überstellungstransport nach Polen, nannte Wohnsitz und Arbeitsplatz Bogers, erbat eine Vernehmung zur Sache, stellte »Beweise u. Zeugen« in Aussicht und verwies die Ermittlungsbehörde darauf, das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) (mit genauer Adressenangabe) und der Zentralrat der Juden (Düsseldorf-Benrath) könnten Beweismaterial gegen Boger zur Verfügung stellen.
Die Persönlichkeit des Anzeigeerstatters, der sich zum Zeitpunkt der Anzeige einer Anklage wegen Meineids und uneidlicher Falschaussage ausgesetzt sah und in der Vergangenheit wiederholt Anzeigen nicht nur gegen ehemalige SS-Angehörige, sondern auch gegen Vollzugs- und Polizeibeamte erstattet hatte, ließ es der Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde geboten erscheinen, die Strafanzeige mit Vorsicht[27] zu behandeln. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wandte sich mit Schreiben vom 17. März 1958[28] bzgl. der »Anzeigensache gegen einen gewissen Boger« (Az.: 16 Js 1273/58) an die Stuttgarter Kriminalpolizei mit der Bitte, »unauffällige Vorermittlungen hinsichtlich der Person und der Vergangenheit des […] Boger durchzuführen«.[29] Mit Schreiben vom 10. April 1958[30] teilte die Kripo der Ermittlungsbehörde mit, bei dem Beschuldigten handele es sich um den »verh. kaufm. Angestellten Wilhelm Boger […] wohnh. Hemmingen Krs. Leonberg«. Boger sei, wie Rögner in seinem Schreiben zutreffend angegeben hatte, »Angestellter bei der Fa. Heinkel, Motorenwerke, Stgt.-Zuffenhausen« und sei »SS-Oberscharführer in Auschwitz« gewesen.[31] Den Hinweisen Rögners in seinem Schreiben vom 1. März 1958 auf zu erbringende Beweise und zu stellende Zeugen durch das IAK und den Zentralrat der Juden ging der sachbearbeitende Staatsanwalt Rolf Weber zunächst nicht nach. Erst mit Schreiben vom 18. August 1958[32] wandte er sich an den Zentralrat. Das IAK, als Vereinigung von nationalen Auschwitzer Lagergemeinschaften fraglos eine wichtige Auskunftsstelle, ersuchte die Staatsanwaltschaft nicht um Mitarbeit bei den eingeleiteten Ermittlungen gegen Boger. Offenbar erschien der Strafverfolgungsbehörde eine Zusammenarbeit mit einer Organisation, die nicht ohne Grund als kommunistisch dominiert galt und ihren Hauptsitz in der Volksrepublik Polen hatte, inopportun.[33]
In einem acht Seiten umfassenden Schreiben Rögners vom 30. März 1958[34] an die Stuttgarter Ermittler lieferte der Anzeigeerstatter weitere wichtige Hinweise. Rögner zählte über ein Dutzend SS-Angehörige auf, die sich Verbrechen schuldig gemacht hätten. Er nannte u.a. die späteren Angeklagten im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess Josef Klehr und Hans Stark und erstattete Strafanzeige gegen die genannten SS-Leute.
Staatsanwalt Weber sah sich nicht gehalten, Fahndungsmaßnahmen gegen die von Rögner benannten, des vielfachen Mordes verdächtigten Personen einzuleiten. Eine Ausdehnung des Verfahrens auf weitere SS-Angehörige von Auschwitz, ein Sammelverfahren, war zunächst nicht beabsichtigt. Hinweise auf Anstrengungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart, Zeugen für strafbare Handlungen Bogers zu ermitteln, finden sich in den Akten nicht. Weber hielt einem Vermerk vom 13. Mai 1958 zufolge Anfang Mai 1958, zwei Monate nach Eingang der Strafanzeige Rögners, Vortrag bei seinem Behördenleiter. Selbst suchte er den Anzeigeerstatter zur Vernehmung nicht auf, er ordnete vielmehr mit Billigung seines Vorgesetzten eine Dienstreise eines Gerichtsreferendars zur Landesstrafanstalt Hohenasperg an, in die Rögner krankheitshalber verlegt worden war. Die Vernehmung, so hielt Weber in dem Vermerk fest, »war erforderlich, weil einerseits der Anzeigeerstatter nach sicherer Erkenntnis aus vorangegangenen Anzeigen ein geltungssüchtiger Psychopath ist und aber andererseits seine Anzeige gegen Boger nach der Bedeutung der Anschuldigung nicht von der Hand gewiesen werden kann, sondern sorgfältige Ermittlungen erfordert«.[35]
Rögner wurde am 6. Mai 1958[36] vernommen. Aus dem der Vernehmungsniederschrift vorangestellten Bericht des Gerichtsreferendars geht hervor, wie schwierig sich die Vernehmung gestaltete. Das sieben Seiten umfassende Protokoll mit fünf Anlagen enthielt wiederum zahlreiche Namen von Auschwitz-Personal: »Rottenf. Pery Broad, Brasilianer, lebt vermutlich in Braunschweig« und »Unterscharf. Dylewski – lebt in Krefeld«.
Von der Ermittlungsbehörde nicht um Hilfe gebeten, wandte sich der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein (Wien), von Rögner[37] über die Anzeige informiert, mit Schreiben vom 9. Mai 1958[38] an die Staatsanwaltschaft Stuttgart, bekräftigte die gegen Boger vorgebrachten Tatvorwürfe und bot die Mitarbeit seiner Organisation an. Die Staatsanwaltschaft bat daraufhin, elf Wochen nach dem Eingang von Rögners Anzeige, am 21. Mai 1958[39] das IAK um Mitteilung von Erkenntnissen über den Beschuldigten Boger. Langbein bestätigte in seinem Antwortschreiben vom 29. Mai 1958[40], der Beschuldigte Boger sei seinem Komitee wohl bekannt, übersandte in der Anlage eine persönliche Aussage im Fall Boger[41] und fragte an, ob sich der Beschuldigte bereits in Untersuchungshaft befinde. Mit Hinweis auf drohende Fluchtgefahr machte Langbein die Verhaftung Bogers zur Bedingung für die in Aussicht gestellte Kooperation des IAK. Langbeins Forderung, erst Boger in Untersuchungshaft zu nehmen und dann Zeugen zu benennen, die beweiskräftige Aussagen über den Beschuldigten machen könnten, erschwerte die Arbeit der Verfolgungsbehörde erheblich. Die ausbleibende Antwort der Ermittlungsbehörde, die noch keine rechtsstaatliche Handhabe sah, einen Haftbefehl zu beantragen, veranlasste Langbein, sich mit Schreiben vom 9. Juli 1958 an die Staatsanwaltschaft[42] mit dem Hinweis zu wenden, dass Boger in Auschwitz »eine Vielzahl von Morden begangen« habe und erbat Mitteilung, ob sich der Beschuldigte »in Haft« befinde. Die Staatsanwaltschaft, die trotz der Aussage Langbeins und seiner Bestätigung der von Rögner vorgebrachten Tatvorwürfe keinen hinreichenden Tatverdacht der strafbaren Beteiligung Bogers an Tötungsdelikten erblickte und deshalb von einem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls absah, ersuchte das IAK ungeachtet der von Langbein gestellten Bedingung mit Schreiben vom 15. Juli 1958 »um Übersendung« von »Unterlagen (Anschriften u. Aussagen von Zeugen über die Straftaten des Boger […]), um nach Prüfung des Beweismaterials, erforderlichen Falls Haftbefehl gegen Boger erlassen zu können«.[43]
Über die Zögerlichkeit der Stuttgarter Staatsanwälte äußerst befremdet, betonte Langbein mit Schreiben vom 27. Juli 1958[44] abermals, das IAK wolle erst dann einen Zeugenaufruf an ehemalige Auschwitz-Häftlinge veröffentlichen, wenn Boger in Haft sei. Zur Unterstützung der Ermittlungsmaßnahmen legte Langbein seinem Schreiben ein Foto Bogers bei. Seine große Sorge, der Fall Boger könne zu einem Fall Eisele[45] werden, Boger mithin sich durch Flucht dem Zugriff entziehen, legte Langbein in einem Schreiben vom selben Tag an das Justizministerium[46] dar. Nicht ohne Grund befürchtete Langbein, »dass Boger von einer Seite, die ihn als ehemaligen SS-ler decken will, gewarnt werden könnte«.[47]
Langbeins Weigerung[48], Zeugen zu benennen und Beweismaterial zur Verfügung zu stellen, zeigte die Hilflosigkeit der Strafverfolgungsbehörde auf, die ihrerseits keine Anstalten machte, Beweismittel herbeizubringen.
Auf Ersuchen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft vom 2. August 1958[49] vernahm das Landeskriminalamt Baden-Württemberg Rögner zwei Wochen später in der Landesstrafanstalt Bruchsal.[50] Rögner bezeugte in seiner zweiten Vernehmung abermals die angebliche Täterschaft von Stark, Dylewski, Klehr und anderen SS-Angehörigen, er benannte darüber hinaus als Zeugen (mit Angabe der Anschrift) die Auschwitz-Überlebenden Emil Behr[51], Arthur Balke[52], Hugo Breiden[53] und Hermann Distel.[54] Rund drei Wochen vergingen, bis Staatsanwalt Weber die polizeiliche Vernehmung der benannten Zeugen in Auftrag gab.
Angesichts der schleppenden Ermittlungstätigkeit der Stuttgarter Staatsanwaltschaft erkannte Langbein die Notwendigkeit einer teilweisen Kooperation, übersandte schließlich mit Schreiben vom 30. August 1958[55] an die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Übersetzung eines auf den 16. September 1944 datierten Kassibers der Internationalen Widerstandbewegung[56] in Auschwitz, in dem der Beschuldigte Boger genannt sei, Kopien des Bunkerbuchs, veröffentlicht in Hefte von Auschwitz, H. 1 (poln. Ausg.; die dt. Ausg. erschien erstmals 1959), sowie die Namen und Anschriften von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, die aus eigenem Wissen über Boger aussagen könnten: Arthur Hartmann[57], Ludwig Wörl[58], Henryk Bartoszewicz[59], Eryk Stanisław Pawliczek[60] und Stanisław Kamiński.[61] Darüber hinaus ergänzte Langbein seine Aussage vom 29. Mai 1958[62] und kündigte an, am 9. September 1958 in Stuttgart zu sein und bei der Staatsanwaltschaft »in der Angelegenheit Boger« vorsprechen zu wollen.
Am 5. September 1958 bemühte sich Staatsanwalt Weber erstmals um die Herbeischaffung von Beweismitteln durch Vernehmung der genannten Zeugen. Er erteilte den Kriminalpolizeien von Kiel und München den Auftrag, die von Langbein benannten Zeugen Hartmann und Wörl zu vernehmen. Den Hinweisen von Rögner auf die Zeugen Behr, Balke, Breiden und Distel ging der Staatsanwalt erst am 11. September 1958 nach. Tage vor seinem Besuch in Stuttgart, am 3. September 1958, stellte Langbein die eidesstattliche Erklärung des in Österreich wohnhaften Josef Rittner vom 1. September 1958[63] zur Verfügung und nannte als weiteren Zeugen die Auschwitz-Überlebende Orli Wald, deren Vernehmung der Stuttgarter Staatsanwalt gleichfalls am 11. September 1958 in Auftrag gab.[64] Langbein, über das aus seiner Sicht sehr zögerliche Vorgehen der Ermittlungsbehörde nicht wenig verwundert, wurde am 9. September 1958 – wie angekündigt – bei der Staatsanwaltschaft und im Justizministerium vorstellig. Während seiner Vorsprache benannte er als weiteren Zeugen Paul Leo Scheidel.[65] In einem Vermerk vom 11. September 1958[66] hielt Staatsanwalt Weber betreffs Vorsprache Langbeins fest, der Generalsekretär des IAK habe sich »in unsachlicher Kritik an den Ermittlungsmaßnahmen« ergangen, die er aber »in gebührender Weise« zurückgewiesen habe. Langbeins Intervention zeigte gleichwohl Wirkung. Am Tag der Abfassung des Vermerks, in dem Weber gleichfalls festhielt, Langbein habe sich »offenbar […] anschließend beschwerdeführend an das Ministerium gewandt«[67], beauftragte er die Kriminalpolizeien in Karlsruhe, Esslingen, Frankfurt am Main, Hannover und München, die von Rögner in seiner Vernehmung vom 20. August 1958 benannten Zeugen (Behr, Balke, Distel und Breiden) und die von Langbein in seinem Schreiben vom 3. September 1958 und bei der Vorsprache eine Woche darauf benannten Zeugen (Wald und Scheidel) zu vernehmen und fuhr selbst endlich nach Bruchsal, um den Erstatter der Anzeige zu befragen und ihn um die Herausgabe von Belastungsmaterial gegen Boger zu bitten. Da Rögner die Unterlagen nicht zur Verfügung stellen wollte, ließ sie Weber kurzer Hand beschlagnahmen.[68] Die Vernehmungen der von Rögner benannten Zeugen Balke[69], Distel[70] und Behr[71] erbrachten allerdings keine den Beschuldigten Boger belastenden Aussagen. Keiner der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge kannte Boger. Erst die Vernehmung von Scheidel[72] begründete den für den Antrag auf Haftbefehl erforderlichen dringenden Tatverdacht. Mit Schreiben vom 21. September 1958[73], das Langbein an Oberstaatsanwalt Robert Schabel persönlich richtete und das nicht zu den Hauptakten genommen wurde, rekapituliert Langbein seine Korrespondenz mit der Staatsanwaltschaft und bemängelt eingehend die aus seiner Sicht unzureichenden Ermittlungsmaßnahmen.
Das Amtsgericht Stuttgart erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 1. Oktober 1958[74] am Tag darauf Haftbefehl[75] gegen Boger. Den zeugenschaftlichen Angaben von Scheidel zufolge war Boger dringend verdächtig, in Auschwitz aus Mordlust einen Menschen getötet zu haben. Der Haftbefehl wurde am 8. Oktober 1958 an Bogers Arbeitsplatz (Ernst Heinkel AG, Zuffenhausen) vollstreckt. In einem an Langbein persönlich gerichteten Schreiben vom 10. Oktober 1958[76] informierte Schabel den Generalsekretär des IAK über die Verhaftung Bogers und bat darum, »die Staatsanwaltschaft bei der Beschaffung von geeigneten Beweismitteln weiter zu unterstützen«. Insbesondere die »Benennung von weiteren Zeugen strafbarer Handlungen Bogers« erschien der Strafverfolgungsbehörde »zunächst [……] nützlich«. Der Behördenleiter schloss sein Schreiben mit der Versicherung, »dass die Maßnahmen getroffen werden, die der Bedeutung des Verfahrens entsprechen«. Die »Genugtuung« des IAK über die Verhaftung Bogers brachte Langbein mit Schreiben vom 17. Oktober 1958[77] zum Ausdruck und teilte Schabel mit, am 4. November 1958 erneut in der Behörde vorsprechen zu wollen. Die Unterredung zwischen Schabel, dem Erster Staatsanwalt Johannes Ferber (Leiter der Abteilung 1 der StA b. LG Stuttgart) und Langbein fand an dem genannten Tag statt. Der von Ferber am Tag darauf angefertigte Vermerk über die eineinhalbstündige Besprechung gibt Auskunft über die Schwierigkeiten, vor die sich die bundesdeutsche Justiz bei der Ahndung der NS-Verbrechen gestellt sah. Um ausreichende Beweise gegen Boger erbringen zu können, erwies sich die Vernehmung von »im Auslande wohnhafter Zeugen« als notwendig. Die erforderliche »Inanspruchnahme des Rechtshilfeweges« erschien den Ermittlern jedoch sehr zeitaufwendig und schwierig, sofern Rechtshilfeersuchen in den Augen der Justiz mit Blick auf osteuropäische Staaten politisch »überhaupt gangbar«[78] waren. Bemerkenswert ist die von der Staatsanwaltschaft gegenüber Langbein aufgestellte Behauptung, der Fall Boger sei »seit der ersten Anzeigeerstattung […] zügig« bearbeitet worden. Hervorzuheben ist die ausdrücklich bekundete Absicht der Ermittler, das nunmehr eingeleitete »Verfahren nach Möglichkeit auch auf alle anderen Angehörigen des SS-Wachpersonals des Lagers Auschwitz auszudehnen«.[79] Zur Überraschung der Ermittlungsbehörde hielt Langbein am Tag nach dem Gespräch, in dem er u.a. darum gebeten worden war, »mit Bekanntgaben an die Presse in diesem Verfahren äußerst zurückhaltend zu sein«[80], in Stuttgart eine Pressekonferenz[81] ab, auf der er Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft erhob. Die Strafverfolgungsbehörde, sekundiert von Generalstaatsanwalt Erich Nellmann, sah sich veranlasst, ihrerseits auf einer Pressekonferenz (6. November 1958) auf die von Langbein vorgebrachte Kritik zu reagieren. In der Pressemitteilung[82] bleibt unerwähnt, dass der Erstatter der Anzeige, Adolf Rögner, in seinem Schreiben vom 1. März 1958 die Ermittler auf das IAK und den Zentralrat der Juden verwiesen hatte und dass mit Rögner erst zwei Monate nach Eingang seiner Anzeige eine Vernehmung durchgeführt worden war. Boger wurde am 13. und 14. Oktober 1958[83] durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart vernommen. Aus der nur sechsseitigen Vernehmungsniederschrift ist nicht ersichtlich, inwieweit die Strafverfolgungsbehörde die bislang vorliegenden Ermittlungsergebnisse zum Gegenstand der Vernehmung gemacht hatte.
2. Vorermittlungsverfahren durch die Zentrale Stelle (2 AR-Z 37/58 u.a.)
Das bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart anhängige Ermittlungsverfahren gegen Boger führte die gerade eingerichtete Zentrale Stelle ab Dezember 1958 parallel zu den Ermittlungen der Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde weiter. Außer gegen Boger und die von Rögner genannten Stark, Broad und Dylewski wurde das Ludwigsburger Vorermittlungsverfahren (Az.: 2 AR-Z 37/58) auf weitere 15 Angehörige der Politischen Abteilung von Auschwitz[84] ausgedehnt. Ende April 1959 wurden Hans Stark, Pery Broad und Klaus Dylewski in Untersuchungshaft genommen. Das Amtsgericht Stuttgart hatte auf Antrag der Stuttgarter Staatsanwaltschaft die Haftbefehle erlassen.
3. Das Ermittlungsverfahren gegen Beyer u.a. (4 Js 444/59)
Thomas Gnielka (1928–1965), Korrespondent der Frankfurter Rundschau, übersandte mit Schreiben vom 15. Januar 1959[85] an den Leiter der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Dokumente, die für Bauer[86] willkommener Anlass waren, beim Bundesgerichtshof gemäß § 13a StPO die Frage der Zuständigkeit hinsichtlich des Komplexes Auschwitz entscheiden zu lassen. Gnielka hatte von dem in Frankfurt am Main wohnhaften Holocaust-Überlebenden Emil Wulkan (1900–1961) Unterlagen erhalten, die dieser nach eigenen Angaben[87] im Mai 1945 in Breslau bekommen hatte. In den sieben Blatt umfassenden Dokumenten aus dem Jahre 1942 (vier Schreiben der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz mit der Angabe von 50 erschossenen Häftlingen und drei Antwortschreiben des SS- und Polizeigerichts XV Breslau mit der Angabe von 102 Häftlingen) kamen Namen von angeblich auf der Flucht erschossenen Häftlingen sowie 37 Namen von SS-Männern vor, die an den Erschießungen beteiligt waren. Unter anderem findet sich im Schreiben der Kommandantur vom 15. August 1942 der Name des späteren Angeklagten Stefan Baretzki. Gegen die SS-Leute waren pro forma Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, die sodann formularmäßig vom SS- und Polizeigericht eingestellt wurden. In den Schreiben bat die Kommandantur von Auschwitz um die »Einstellung der Ermittlungsverfahren« gegen die SS-Schützen, »da die Posten gemäß ihren Dienstanweisungen und nicht rechtswidrig«[88] gehandelt hätten sowie um die Freigabe der Leichen zur »Feuerbestattung«. Die Tötung der Häftlinge wurde mit dem Schein der Legalität versehen.
Bauers Mitarbeiter, Erster Staatsanwalt Wilhelm Metzner, reiste am 20. Januar 1959 nach Ludwigsburg und überbrachte der Zentralen Stelle Kopien des Schreibens Gnielkas und der »Breslauer Dokumente«. Mit Schreiben vom 29. Januar 1959 an Bauer bestätigte der Leiter der Ludwigsburger Einrichtung, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle (1913–1993), die Übernahme des »Verfahrens wegen Erschießungen von Häftlingen ›auf der Flucht‹«[89] Kopien der genannten Schriftstücke sowie ein »Verzeichnis vom 4. September 1958 betr. SS-Leute, die in Auschwitz Dienst gemacht hatten«[90] leitete Bauer[91] mit Schreiben vom 15. Februar 1959 auch dem Generalbundesanwalt »mit der Anregung« zu, »eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs nach § 13a StPO herbeizuführen«.
Der Umstand, dass Bauer die bereits laufenden Vorermittlungen in Sachen Auschwitz nicht bei der Zentralen Stelle beließ, vielmehr ein Verfahren durch die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main anstrebte, ist bemerkenswert. Bauer wollte offensichtlich nicht abwarten, bis durch die Ludwigsburger Vorermittlungen die Sache reif für die Abgabe an eine zuständige Staatsanwaltschaft war. Er strebte an, das Verfahren von Beginn an in Frankfurt am Main durchführen zu lassen. In einem Schreiben vom 27. August 1959 an Hermann Langbein führte er aus: »Ich kann Ihnen und dem Internationalen Auschwitz-Komitee nur nachdrücklich versichern, dass es der durch keinerlei Vorbehalte irgendwelcher Art eingeschränkte Wunsch der Frankfurter Staatsanwaltschaft ist, endlich den Komplex Auschwitz ohne Ansehen der von ihm betroffenen Personen aufzuklären und anzuklagen.«[92]
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe beschloss nach Anhörung des Generalbundesanwalts in der Sitzung vom 17. April 1959 (Gerichtsstandsbestimmung)[93] die Untersuchung und Entscheidung in der Strafsache gegen Beyer[94] u.a. wegen Mordes u.a. gemäß § 13a StPO dem Landgericht (fortan: LG) Frankfurt am Main zu übertragen (Az.: 2 ARs 60/59). Aufgeführt sind in dem Beschluss 94 »frühere Angehörige der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz«, darunter die späteren Angeklagten Richard Baer, Franz Hofmann, Klaus Dylewski, Pery Broad, Willy Frank, Victor Capesius, Josef Klehr, Emil Hantl, Gerhard Neubert, Herbert Scherpe, Hans Nierzwicki, Oswald Kaduk, Hans Stark und Stefan Baretzki. Neben den 37 in den »Breslauer Dokumenten« aufgeführten »SS-Schützen« werden in dem BGH-Beschluss 57 SS-Angehörige genannt, die in dem Verzeichnis vom 4. September 1958 aufgezählt worden waren.[95] Durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs war der Gerichtsstand beim LG Frankfurt am Main begründet, das Verfahren somit bei der Staatsanwaltschaft des Frankfurter Landgerichts anhängig.
Bei der ihm unterstellten Behörde stieß Bauers Vorhaben auf Ablehnung. Sowohl der Leiter der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, OStA Heinz Wolf (1908–1984), als auch der Leiter der Abt. Politische Strafsachen, Hanns Großmann (1912–1999), waren der Auffassung, dass das in Stuttgart anhängige Verfahren auf die hinzugekommenen Beschuldigten ausgedehnt und trotz des BGH-Beschlusses das Verfahren weiterhin in Stuttgart durchgeführt werden sollte.[96]
Verfügung vom 26. Mai 1959[97] sowie die Zentrale Stelle die Vorermittlungsverfahren gegen Angehörige der Politischen Abteilung von Auschwitz und wegen Erschießungen von Häftlingen »auf der Flucht« mit Schreiben vom 30. Juni 1959[98] nach Frankfurt am Main ab.
»Im Sommer«[99] 1959 rief Bauer Staatsanwalt Georg Friedrich (Fritz) Vogel (1926–2007) und Gerichtsassessor Joachim Kügler (1926–2012) zu sich und übertrug den jungen Juristen die Sachbearbeitung des Auschwitz-Komplexes. Das Ermittlungsverfahren gegen Beyer u.a. (Az.: 4 Js 444/59) der Staatsanwaltschaft beim LG Frankfurt am Main war somit eingeleitet. Kügler zufolge lag Bauer viel daran, Juristen mit der Aufgabe zu betrauen, die nicht in die Verbrechen des NS-Staates verstrickt waren. Obgleich für das nunmehr in Frankfurt am Main anhängige Ermittlungsverfahren gegen 94 Beschuldigte laut Generalakten[100] drei Staatsanwälte und fünf Schreibkräfte hätten abgestellt werden sollen, mussten zwei Staatsanwälte und nur eine Schreibkraft das Verfahren durchführen.
Vogel und Kügler reisten Ende Juni 1959 nach Ludwigsburg und studierten in der Zentralen Stelle die ihnen vorgelegten Akten der von Ludwigsburg eingeleiteten Auschwitz-Verfahren. Bei den Frankfurter Staatsanwälten hatte bereits am 23. Juni 1959 Langbein vorgesprochen und seine Mitarbeit angeboten. Auch in Ludwigsburg traf Langbein mit Vogel und Kügler zusammen. Obgleich sich die Ermittlungen äußerst schwierig gestalteten und Kügler zufolge auf die Polizei »kein Verlass«[101] war, gelang es den beiden Staatsanwälten noch im Jahr 1959 Heinrich Bischoff (21.7.1959)[102], Oswald Kaduk (21.7.1959) und Victor Capesius (4.12.1959) verhaften zu lassen. 1960 erfolgten die Verhaftungen von Stefan Baretzki (12.4.1960), Alois Staller (13.4.1960), Hans Nierzwicki (16.9.1960), Josef Klehr (17.9.1960), Robert Mulka (8.11.1960), Kurt Uhlenbroock (14.11.1960), Emil Bednarek (25.11.1960) und Richard Baer (20.12.1960), 1961 die Inhaftnahme von Emil Hantl (26.5.1961), Arthur Breitwieser (9.6.1961), Jakob Fries (12.6.1961) und Herbert Scherpe (15.8.1961).[103] Eine von Kriminalbeamten des Landeskriminalamtes Hessen gebildete Sonderkommission, der Kriminalobermeister Sauerwein und Kriminalmeister Ihring angehörten, unterstützte die Tätigkeit der Ermittler.
Die Strafverfolgungsbehörde erstellte im Januar 1960 eine erste Beschuldigtenliste[104], die im Februar 1960 von Langbein[105] ergänzt wurde. Schwierig war nicht nur die Ermittlung des Aufenthalts der Beschuldigten, äußerst mühsam gestaltete sich auch die Herbeischaffung von Beweismitteln. Neben Langbein[106] waren das Institute of Documentation in Israel for the Investigation of Nazi War Crimes/Haifa, Yad Vashem/Jerusalem, der World Jewish Congress/New York sowie Rechtsanwalt Henry Ormond (1901–1973)[107] hilfreich bei der Suche nach Zeugen. Die Staatsanwaltschaft erstellte einen Fragebogen[108], den sie in der Erwartung an Überlebende von Auschwitz versandte, die zu Beginn des Verfahrens nicht eben einfache Beweissituation durch die Herbeischaffung von verwertbaren Zeugenaussagen zu verbessern. Ungeachtet aller regierungsamtlichen Berührungsängste und aller ungeschriebenen Gesetze des Kalten Krieges knüpften die Frankfurter Staatsanwälte Kontakte nach Polen. Im August 1960 (12. bis 29.8.1960) reisten sie nach Warschau und an den Tatort Auschwitz[109] Eine Dienstreise in die Volksrepublik Polen, mit der die Bundesrepublik Deutschland keine diplomatischen Beziehungen hatte, war ein ungewöhnliches Unterfangen. Allein die Unterstützung durch die hessische Landesregierung machten die Reise möglich. Als überaus wichtig und hilfsbereit erwies sich das Mitglied der Hauptkommission zur Untersuchung der Nazi-Verbrechen, Jan Sehn (1909–1965). Mit Hilfe von Sehn (Direktor des Instytutu Ekspertyz Sądowych w Krakowie)[110] gelang es den Staatsanwälten, wichtige Urkunden aus den Archiven der Hauptkommission und des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau zu erhalten, die sowohl für die Bewertung der den Beschuldigten zur Last gelegten Tatbeiträge als auch für die Sachkenntnis der Ermittler grundlegend waren.
Wie schwierig es war, polnische Auschwitz-Überlebende zum Zweck der zeugenschaftlichen Einvernahme nach Frankfurt am Main einzuladen, veranschaulicht der bürokratische Weg, den die Ermittler zu gehen hatten. Das Bundesministerium des Innern bat das Auswärtige Amt, beim in Warschau ansässigen Travel Permit Office for Germany der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika einen Einreisesichtvermerk für einen Zeugen zu beantragen.
4. Die gerichtliche Voruntersuchung in dem Ermittlungsverfahren gegen Beyer u.a.
Nach zwei Jahren Ermittlungsarbeit stellte die Strafverfolgungsbehörde am 12. Juli 1961 beim LG Frankfurt am Main Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung.[111] Der 168 Seiten umfassende Antrag enthält einen historischen Teil, in dem auf der Grundlage des damaligen Forschungsstands[112] unter anderem die »Entwicklung der Judenverfolgung«, die »Organisation und Aufgabe der SS«, die »Konzentrationslager«, die »Durchführung des Vernichtungsprogramms« und die Geschichte des »Konzentrationslagers Auschwitz« dargelegt werden. In Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsprechung betrachtete die Staatsanwaltschaft Hitler, Göring, Himmler und Heydrich als Haupttäter, die Beschuldigten als Mittäter und Gehilfen, insofern sie sich »an der Vollstreckung eines einheitlichen Vernichtungsprogramms beteiligt« hätten, »Teil der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz«[113] gewesen seien. Angeschuldigt wurden: 1. Richard Baer, 2. Robert Mulka, 3. Victor Capesius, 4. Kurt Uhlenbroock, 5. Willy Frank, 6. Willi Schatz, 7. Franz Hofmann, 8. Oswald Kaduk, 9. Stefan Baretzki, 10. Johann Schoberth, 11. Bernhard Rakers, 12. Heinrich Bischoff, 13. Jakob Fries, 14. Wilhelm Boger, 15. Hans Stark, 16. Pery Broad, 17. Klaus Dylewski, 18. Max Lustig, 19. Josef Klehr, 20. Hans Nierzwicki, 21. Emil Hantl, 22. Arthur Breitwieser, 23. Emil Bednarek und 24. Alois Staller, »durch mehrere selbständige Handlungen, teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen, aus Mordlust und sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und grausam sowie teilweise mit gemeingefährlichen Mitteln – für die Zeit vor dem 4. September 1941 auch vorsätzlich und mit Überlegung – Menschen getötet zu haben oder dies versucht zu haben oder hierzu durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben«[114], mithin Verbrechen nach §§ 211 aF u. nF[115], 43 aF (Versuch), 47 aF (Mittäterschaft), 49 aF (Beihilfe), 74 aF (Realkonkurrenz, Tatmehrheit) StGB begangen zu haben.
Der Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung führt sodann die Tatvorwürfe im Einzelnen auf: 1. Richard Baer (*1911), SS-Sturmbannführer, Kommandant von Auschwitz I (Stammlager) in der Zeit von Mitte Mai 1944 bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945, hat Befehle zur Tötung einer Vielzahl von Menschen, insbesondere von Juden aus Ungarn, erteilt; 2. Robert Mulka (*1895), SS-Hauptsturmführer, Adjutant des Lagerkommandanten Höß von Anfang 1942 bis März 1943, hat den Befehl zum Transport des Gases Zyklon B nach Auschwitz und zur Verbringung von Deportierten zu den Gaskammern gegeben, hat sich weiterhin bei der »Verwirklichung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms […] an den auf die Tötung von Häftlingen gerichteten Maßnahmen beteiligt«[116] ; 3. Victor Capesius (*1907), SS-Sturmbannführer, Leiter der SS-Apotheke in der Zeit von Ende 1943 bis Ende 1944, hat Selektionen auf der Rampe durchgeführt und überwacht, zusammen mit dem SS-Arzt Mengele Selektionen im Lager vorgenommen, die Tötungsmittel Zyklon B und Phenol angefordert, verwaltet und ausgefolgt; 4. Kurt Uhlenbroock (*1908), SS-Hauptsturmführer, Lager- und Standortarzt in der Zeit vom 17. August 1942 bis zum 2. Oktober 1942, hat SS-Ärzte zum Rampendienst eingeteilt und Selektionen angeordnet; 5. Willy Frank (*1903), SS-Hauptsturmführer, Leiter der SS-Zahnstation in der Zeit von März 1943 bis August 1944, hat sich während der Vernichtung der ungarischen Juden im Sommer 1944 gemäß Dienstplan auf der Rampe in Birkenau an Selektionen beteiligt; 6. Willi Schatz (*1905), SS-Untersturmführer, SS-Zahnarzt in der Zeit von Frühjahr bis Herbst 1944, hat ebenso wie Frank »Dienst auf der Rampe« verrichtet; 7. Franz Hofmann (*1906), SS-Hauptsturmführer, Schutzhaftlagerführer in Auschwitz I (Stammlager) in der Zeit von Dezember 1942 bis Mai 1944, hat Selektionen auf der Rampe überwacht, Lagerselektionen angeordnet, bei sogenannten Bunkerentleerungen im Block 11 des Stammlagers inhaftierte Häftlinge zur Erschießung an der »Schwarzen Wand« bestimmt, Einzeltötungen durchgeführt; 8. Oswald Kaduk (*1906), SS-Hauptscharführer, Block- und Rapportführer in der Zeit von 1942 bis Januar 1945, hat Selektionen im Lager durchgeführt und eine Vielzahl von Erhängungen, Erschießungen, Einzeltötungen begangen; 9. Stefan Baretzki (*1919), SS-Rottenführer, Blockführer in Birkenau, hat sich an Selektionen auf der Rampe, an Hinrichtungen und an der Liquidierung des Theresienstädter Familienlagers (BII b; März 1944) beteiligt sowie Einzeltötungen vollzogen; 10. Johann Schoberth (*1922), SS-Unterscharführer, Mitglied der Politischen Abteilung in der Zeit von Mitte 1943 bis Mitte 1944, hat mindestens einmal im Sommer 1944 an einer Selektion mitgewirkt, mindestens einmal sich an einer Vergasungsaktion beteiligt und gemeinschaftlich mit einem Angehörigen der Politischen Abteilung Erschießungen von Häftlingen im Krematorium I (Stammlager) durchgeführt; 11. Bernard Rakers[117](*1905), SS-Hauptscharführer, Kommando- und Rapportführer im Stammlager und in Buna/Monowitz in der Zeit von Oktober 1942 bis Dezember 1944, hat zwei Häftlinge getötet; 12. Heinrich Bischoff (*1904), SS-Unterscharführer, Blockführer in der Zeit von 1942 bis 1945, hat eine Vielzahl von Einzeltötungen begangen; 13. Jakob Fries (*1913), SS-Oberscharführer, 1. Arbeitsdienstführer in der Zeit von Sommer 1942 bis Anfang 1943, hat sich an Selektionen auf der Rampe beteiligt und Erschießungen an der »Schwarzen Wand« durchgeführt; 14. Wilhelm Boger (*1906), SS-Oberscharführer, Angehöriger der Politischen Abteilung in der Zeit von 1943 bis 1945, hat sich an Selektionen auf der Rampe und im Zigeunerlager (BIIe) beteiligt, an Aussonderungen von Häftlingen aus Block 11 (Stammlager) mitgewirkt, eine Vielzahl von Erschießungen an der sog. Schwarzen Wand durchgeführt, bei Verhören (»verschärfte Vernehmungen«) Häftlinge zu Tode gefoltert; 15. Hans Stark (*1921), SS-Oberscharführer, Mitglied der Politischen Abteilung in der Zeit von Juni bis Dezember 1941 und März bis November 1942, hat an Erschießungen von Häftlingen, an Selektionen auf der »alten Rampe« und an einer Vergasung im alten Krematorium (Stammlager) mitgewirkt; 16. Pery Broad (*1921), SS-Rottenführer, Angehöriger der Politischen Abteilung in der Zeit von 1942 bis Januar 1945, hat sich an Selektionen auf der Rampe beteiligt, Häftlinge bei Verhören getötet, Insassen von Block 11 (Stammlager) zur Erschießung an der »Schwarzen Wand« mit ausgewählt; 17. Klaus Dylewski (*1916), SS-Oberscharführer, Ermittlungsbeamter in der Politischen Abteilung in der Zeit von 1941 bis 1944, hat an Selektionen auf der Rampe teilgenommen, Häftlinge aus dem Arrestblock 11 von Auschwitz I zur Liquidation an der »Schwarzen Wand« ausgesondert, Erschießungen selbst durchgeführt; 18. Max Lustig (*1891), SS-Obersturmführer, Chef der Gestapo der Stadt Auschwitz in der Zeit von 1941 bis 1944, hat regelmäßig an »Standgerichtsverhandlungen« gegen sogenannte Polizeihäftlinge in Block 11 des Stammlagers teilgenommen; 19. Josef Klehr (*1904), SS-Oberscharführer, Sanitätsdienstgrad (SDG) und Leiter der sog. Desinfektoren in der Zeit von 1941 bis 1944, hat an Selektionen auf der Rampe mitgewirkt, Blockselektionen vorgenommen, als Leiter des Vergasungskommandos (Desinfektoren) Massentötungen in den Gaskammern durchgeführt, eine Vielzahl von Häftlingen durch Phenolinjektionen getötet; 20. Hans Nierzwicki (*1905), SS-Hauptscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1942 bis 1944, hat an Selektionen im Häftlingskrankenbau (HKB) mitgewirkt, Häftlinge durch »Abspritzen«, d.h. Injektionen von Phenol ins Herz, getötet; 21. Emil Hantl (*1902), SS-Unterscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1943 bis 1944, hat an Selektionen im Krankenbau mitgewirkt und durch Phenolinjektionen Häftlinge getötet; 22. Arthur Breitwieser (*1910), SS-Unterscharführer, Mitglied der Lagerverwaltung und Chef der Häftlingsbekleidungskammer von Mai 1940 bis Januar 1945, hat sich an der ersten Vergasung von Häftlingen Anfang September 1941[118] in Block 11 (Stammlager) beteiligt; 23. Emil Bednarek (*1907), Häftling in Auschwitz seit Juli 1940, Blockältester und Capo der Strafkompanie, hat eine Vielzahl von Häftlingen getötet; 24. Alois Staller (*1905), Häftling in Auschwitz seit August 1940, Blockältester und Capo der Strafkompanie, hat eine Vielzahl von Häftlingen getötet.
Die Auswahl der Beschuldigten geschah zum einen nach dem Beweiswert der im Verlauf des Ermittlungsverfahrens erbrachten Zeugenvernehmungen und zum anderen verfolgte die Staatsanwaltschaft das Konzept, »einen Querschnitt durch das Konzentrationslager zu geben, vom Kommandanten bis zum Häftlingskapo«.[119] Nur durch eine im Verfahren zu erbringende »Gesamtdarstellung« ließen sich nach Ansicht der Strafverfolgungsbehörde die »Funktion der einzelnen in der Lagerhierarchie«[120] und somit ihre individuellen Tatbeiträge feststellen.
Gegen die Einbeziehung von Funktionshäftlingen in Verfahren gegen SS-Angehörige erhoben polnische Überlebende Einwände. Nach einem Gespräch mit Sehn vermerkte Ormond Anfang März 1962, Sehns »Freunde hätten erhebliche Bedenken«[121] geäußert, neben SS-Personal auch Häftlinge anzuklagen.
Die Staatsanwaltschaft übergab dem Untersuchungsrichter 52 Bände der Hauptakten mit Vernehmungsprotokollen (ca. 600 Vernehmungen), Fragebögen und sonstigen Schriftstücken (Erklärungen, Briefen) von rund 800 Zeugen sowie Beiakten und Beweismittel. Mit Verfügung vom 9. August 1961[122] eröffnete der Untersuchungsrichter IV, Landgerichtsrat Heinz Düx (1924–2017), beim LG Frankfurt am Main antragsgemäß die gerichtliche Voruntersuchung, die er am 19. Oktober 1962 (Schließungsverfügung)[123] schloss. Die Zahl der Beschuldigten war von ursprünglich 24 durch Verbindungs- bzw. Ausdehnungsanträge auf 28[124], der Bestand der Hauptakten um 22 Bände angewachsen. Mit dem Verfahren verbunden wurde die Voruntersuchung gegen 25. Herbert Scherpe[125] (*1907), SS-Oberscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1942 bis 1943, beschuldigt der Teilnahme an Selektionen und der Tötung von Häftlingen durch Phenoleinspritzungen; 26. Franz Lucas[126] (*1911), SS-Obersturmführer, Lager- und Truppenarzt in der Zeit von Frühjahr bis Sommer 1944, beschuldigt der Beteiligung an Selektionen auf der Rampe in Birkenau während der Transporte aus Ungarn; 27. Karl Höcker[127] (*1911), SS-Obersturmführer, Adjutant des Lagerkommandanten Baer in der Zeit von Mai 1944 bis Januar 1945, beschuldigt der Mitwirkung am in Auschwitz durchgeführten Vernichtungsprogramm; 28. Bruno Schlage[128] (*1903), SS-Oberscharführer, Arrestaufseher in Block 11 des Stammlagers in der Zeit von Ende 1941 bis zur Auflösung des Lagers, beschuldigt der Beteiligung an Aussonderungen und Erschießungen von Häftlingen von Block 11; 29. Gerhard Neubert[129] (*1909), SS-Unterscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1943 bis Ende 1944, beschuldigt der Mitwirkung an Selektionen im Häftlingskrankenbau des Lagers Buna/Monowitz.
Im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung waren ca. 130 weitere Zeugen hinzugekommen und größtenteils richterlich vernommen worden. Hilfreich für den Untersuchungsrichter erwiesen sich neben Langbein[130] die Untersuchungsstelle für NS-Gewaltverbrechen beim Landesstab der Polizei/Tel Aviv sowie das Landesgericht für Strafsachen/Wien, die im Rahmen von Rechtshilfeersuchen kommissarische Vernehmungen durchführten. Düx reiste auch in die DDR und erhielt vom dortigen Generalstaatsanwalt Josef Streit durch die Übergabe von Beweismitteln wichtige Unterstützung.[131]
Am LG Frankfurt am Main stieß Düx auf »Widerstände«, das Verfahren in der Weise durchzuführen, wie es die Staatsanwaltschaft beabsichtigte. Düx zufolge »war es […] manchen Personen […] ein Dorn im Auge, dass dieser Gesamtkomplex Auschwitz jetzt sozusagen im Rahmen einer Generalbereinigung vor die Justiz gebracht werden sollte. Ich entsinne mich noch, dass einige Personen aus der Justiz an mich herantraten, die an und für sich mit dem Komplex Auschwitz zuständigkeitshalber gar nichts zu tun hatten […] und mich dazu zu bewegen versuchten, den Auschwitz-Prozess in viele kleine Prozesse zu zerlegen. Ich habe mich solchen Bestrebungen gegenüber aber ablehnend verhalten, denn das wäre praktisch mit einer Versandung des ganzen Komplexes gleichbedeutend gewesen. Also, es hatte nur Sinn, die Massentötungen während des NS-Regimes in dieser komplexen Form vor die Justiz zu bringen.«[132] Und Düx weiter: »Es gab […] relativ potente Kräfte, die danach trachteten, den Prozess zu verhindern oder zumindest in einer vereinfachenden Form stattfinden zu lassen, nämlich in der Form, dass jeweils nur ganz konkrete Dinge zur Sprache kommen sollten und mit möglichst wenig Angeklagten. Wenn man so verfahren wäre, hätte das bedeutet, dass der eigentliche Hintergrund der ganzen Sache gar nicht aufgehellt worden wäre.«[133]
5. Die Schwurgerichtsanklage in der Strafsache gegen Baer u.a.
Im April 1963 legte die Strafverfolgungsbehörde nach nahezu vier Jahren Ermittlungsdauer in ihrer 700 Blatt umfassenden Schwurgerichtsanklage[134] das Ermittlungsergebnis vor, stellte somit bei der für die Eröffnung von Schwurgerichtsverfahren zuständigen Strafkammer des LG Frankfurt am Main Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens gegen 24 Angeschuldigte wegen Mordes. Die Verfahren gegen vier Beschuldigte, Fries, Rakers, Uhlenbroock und Staller, waren auf Antrag der Staatsanwaltschaft beim LG Frankfurt am Main[135] durch Beschluss der 3. Strafkammer des LG Frankfurt am Main[136] vorläufig eingestellt bzw. die Angeschuldigten außer Verfolgung gesetzt worden.
Angeklagt wurden 1. Baer, 2. Mulka, 3. Höcker, 4. Boger, 5. Stark, 6. Dylewski, 7. Broad, 8. Schoberth, 9. Schlage, 10. Hofmann, 11. Kaduk, 12. Baretzki, 13. Bischoff, 14. Breitwieser, 15. Lucas, 16. Frank, 17. Schatz, 18. Capesius, 19. Klehr, 20. Scherpe, 21. Nierzwicki, 22. Hantl, 23. Neubert und 24. Bednarek, in Auschwitz in den Jahren 1940 bis 1945 »durch mehrere selbständige Handlungen, teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen […] Menschen getötet zu haben«[137] Die den Angeschuldigten zur Last gelegten Handlungen erfüllten den Tatbestand des Mordes § 211 aF und nF sowie §§ 43 aF, 47 aF, 74 aF StGB[138] Als Beweismittel führte die Staatsanwaltschaft die Einlassungen der Angeschuldigten, die Vernehmungsniederschriften von 252 Zeugen[139], 17 Urkunden enthaltende Anlagebände, Lagerpläne, Fotos sowie eine Anzahl von Beiakten auf.
Das Gesamtergebnis ihrer Ermittlungen stellte die Anklagebehörde in fünf Abschnitten der Schwurgerichtsanklage dar. In den Abschnitten B bis D (Allgemeiner Teil) machte die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage von Urkunden, Vernehmungsniederschriften und der vorliegenden Forschungsliteratur[140] Ausführungen über Organisation und Aufgaben der SS, die Konzentrationslager im allgemeinen und das Lager Auschwitz im Besonderen, in Abschnitt E wurden die Straftaten der Angeschuldigten aufgeführt. Die genauen und zutreffenden Erkenntnisse der Ankläger über das Gesamtgeschehen in Auschwitz, die Verwaltungsstruktur des Lagers, die Funktionen und Dienststellungen der Angehörigen der Lageradministration ermöglichten ihr eine präzise Darlegung der einzelnen Tätigkeitsbereiche, Verantwortlichkeiten, Befehlsgewalten und somit eine exakte Darstellung und Beurteilung der Tatbeiträge der einzelnen Angeschuldigten. Da die vormaligen Angehörigen der Auschwitzer SS-Besatzung sowie der Funktionshäftling (Bednarek) wenig zur Erhellung der Tatumstände beitrugen, im Gegenteil in ihren Einlassungen oftmals versuchten, Tatumstand und Tathergang zu entstellen, war die Ermittlung der Sachzusammenhänge durch die Anklagevertretung von herausragender Bedeutung. Die genaue Kenntnis der Befehlswege, der Unterstellungsverhältnisse, der Tätigkeitsbereiche und Zuständigkeiten erlaubte es den Frankfurter Staatsanwälten, das »Ausmaß von Tat und Schuld des einzelnen« festzustellen, indem sie »seine Funktionen innerhalb der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie« herausarbeiteten »und ihm seine verbrecherische Beteiligung im einzelnen konkret«[141] nachwiesen. Die Darlegung der Ermittlungsergebnisse bezüglich der ehemaligen Adjutanten Mulka und Höcker sowie der damaligen SS-Zahnärzte Frank und Schatz, des SS-Arztes Lucas und des SS-Apothekers Capesius macht auf eindringliche Weise deutlich, dass der Nachweis der individuellen Schuld nur möglich war vor dem Hintergrund des Gesamtgeschehens, das die Strafverfolgungsbehörde auf eindrucksvolle Weise zu rekonstruieren wusste. Im Falle der drei Ärzte stützte sich die Staatsanwaltschaft ausschließlich auf Aussagen ehemaliger Angehöriger der SS und den sich hieraus ergebenden zwingenden Folgerungen, die aus der Darlegung des Sachzusammenhangs zu ziehen waren.
Mit Verfügung vom 6. August 1963[142] sowie in ihrer Schwurgerichtsanklage gegen Wilhelm Burger und Josef Erber[143], ebenfalls vom 6. August 1963, beantragte die Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen Burger und Erber mit dem Verfahren gegen Baer u.a. zu verbinden, da der Sachzusammenhang die gemeinschaftliche Verhandlung und Entscheidung rechtfertige. Die 3. Ferien-Strafkammer beim LG Frankfurt am Main lehnte mit Beschluss vom 10. September 1963 den Antrag ab, wogegen die Anklagevertretung erfolglos Beschwerde[144] einlegte.
5.1. Eröffnung des Hauptverfahrens
Die 3. Strafkammer beim LG Frankfurt am Main eröffnete mit Beschluss vom 7. Oktober 1963[145] das Hauptverfahren gegen 23 Angeschuldigte. Richard Baer war am 17. Juni 1963 in der Untersuchungshaftanstalt an einem Herz- und Kreislaufversagen[146], noch nicht 52jährig, verstorben. Der Eröffnungsbeschluss weist nicht unerhebliche Abweichungen in der rechtlichen Qualifikation der Taten auf, die den Angeschuldigten zur Last gelegt wurden. Während die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes gegen alle 24 Angeschuldigten erhoben hatte, befand das LG Frankfurt am Main nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen Boger, Dylewski, Broad, Hofmann, Kaduk, Baretzki, Bischoff, Capesius, Klehr, Nierzwicki und Bednarek des Mordes, hingegen Mulka, Höcker, Schoberth, Schlage, Stark, Breitwieser, Lucas, Frank, Schatz, Scherpe, Hantl, Neubert (Dylewski und Broad in besonderen Fällen) lediglich der Beihilfe zum Mord verdächtig. Die Staatsanwaltschaft legte keine Beschwerde ein, um das Verfahren nicht zu verzögern.[147]
5.2. Die Besetzung des Gerichts
Der Präsident des LG Frankfurt am Main bestimmte mit Verfügung vom 8. Oktober 1963 »den Zusammentritt des Schwurgerichts zu seiner nächsten, der 3. Tagung, auf den 20. Dezember 1963«.[148] Laut Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 1963[149] war Senatspräsident Hans Forester zum Vorsitzenden der 3. Schwurgerichts-Tagung bestellt. Forester machte am 9. Oktober 1963[150] gemäß § 30 StPO Anzeige von dem Verhältnis, selbst »rassisch Verfolgter« zu sein. Außerdem sei sein Bruder »in dem KZ Lublin/Majdanek umgebracht«, seine Mutter in das »KZ Theresienstadt« verbracht worden. Foresters Selbstablehnungsantrag beschied die 3. Strafkammer beim LG Frankfurt am Main positiv. Mit Beschluss vom 14. Oktober 1963[151] wurde Forester »wegen Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung als Richter entbunden«.
Auch der laut Geschäftsverteilungsplan des LG Frankfurt am Main für das Jahr 1963 als 2. Beisitzer der 3. Schwurgerichtsperiode zugeteilte Amtsgerichtsrat Johann Heinrich Niemöller zeigte am 11. November 1963[152] an, Sohn von Martin Niemöller, der von 1938 bis 1945 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau inhaftiert gewesen war, zu sein. Obgleich Niemöller sich nicht für befangen hielt, rechtfertige das angezeigte Verhältnis die Annahme, dass die Angeklagten dies anders beurteilen würden. Auch Niemöller wurde mit Beschluss vom 13. November 1963[153] wegen Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung als Richter an dem Verfahren entbunden. Bereits am 1. Oktober 1963 hatten die Rechtsanwälte Hermann Stolting II und Rainer Eggert namens der Angeschuldigten Höcker und Nierzwicki Landgerichtsrat Richard Koch, Berichterstatter der 3. Strafkammer b. LG Frankfurt am Main, aus Besorgnis der Befangenheit[154] abgelehnt. Laut Antrag der Verteidigung gehöre Koch »selbst zu dem Kreis der rassisch Verfolgten«, weshalb die Annahme naheliege, Koch habe »Verwandte, sonstige Angehörige oder Freunde und Bekannte in den Massenvernichtungslagern des sogenannten Dritten Reiches verloren«.[155] Koch[156] hielt sich nicht für befangen, die 3. Strafkammer b. LG Frankfurt am Main erachtete die Ablehnung Kochs für unbegründet.[157]
Zum Vorsitzenden für die 3. Tagung des Schwurgerichts bestellte das Präsidium des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit Beschluss vom 23. Oktober 1963[158] Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer. Die beiden Beisitzer waren gemäß Geschäftsverteilung Landgerichtsrat Josef Perseke und an der Stelle Niemöllers Amtgerichtsrat Walter Hotz. Hofmeyer ordnete die Zuziehung der Ergänzungsrichter Landgerichtsrat Werner Hummerich und Landgerichtsrat Günter Seiboldt an.
6. Die Hauptverhandlung in der Strafsache gegen Mulka u.a.
Die Hauptverhandlung begann am 20. Dezember 1963 im Plenarsaal der Stadtverordnetenversammlung des Frankfurter Rathauses[159] gegen 22 Angeklagte, von denen neun[160] in Haft waren. Das Verfahren gegen den Angeklagten Nierzwicki war auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 5. Dezember 1963[161] mit Beschluss[162] der 3. Strafkammer b. LG Frankfurt am Main vom 11. Dezember 1963 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten abgetrennt und gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt worden.[163]
Die Prozessbeteiligten:
Schwurgericht: Vorsitzender Richter Hans Hofmeyer; Beisitzer Josef Perseke (Berichterstatter) und Walter Hotz; Ergänzungsrichter Werner Hummerich und Günter Seiboldt; Geschworene: Else Häbich, Gerhard Baum, Gertrud Flach, Erna Grob, Wilhelm Hartung, Adolf Holzhäuser; Ergänzungsgeschworene: Ernst Kadenbach, Emma Kotzur, Elise Knodel, Ferdinand Link, Anna Mayer. An die Stelle von Baum und Hartung traten Kadenbach und Kotzur.
Anklagevertretung:
Hanns Großmann, Georg Friedrich Vogel, Joachim Kügler und Gerhard Wiese.
Nebenklagevertretung:
Rechtsanwälte Henry Ormond[164] und Christian Raabe, die die Nebenkläger Yehuda Bacon (Israel, vormals Tschechoslowakei), Aron Bejlin (Israel, vormals Polen), Milton Buki (Brasilien, vormals Polen), Albert Ehrenfeld (Schweden, vormals Rumänien), Eugen Kiraly (Israel, vormals Rumänien), Werner Krumme (Bundesrepublik), Jelena Madaric (Jugoslawien), Noe Nysenbaum (Frankreich, vormals Polen), Sucher Torenhajm (Belgien, vormals Polen), Anna Sara Fels-Kupferschmidt (Niederlande), Luciano Mariani (Italien), Frederic A. Sandow (Fryderyk Adam Schneikart) (England, vormals Polen), Lajos Schlinger (Rumänien), Franziska Vesely (Österreich) und Mieczyslaw Kieta (Polen) (Klage gegen alle Angeklagten mit Ausnahme von Schoberth, Schlage und Bednarek)[165] vertraten, Friedrich Karl Kaul,[166] der die Nebenkläger Margarete Dombrowsky, Käthe Jaffe, Erwin Naphtali, Hans Spicker, Paula Rosenberg und Günter Schall (allesamt DDR; Klage gegen Mulka, Höcker und Klehr) vertrat. Die Nebenkläger, die Eltern, Kinder, Geschwister oder Ehegatten in Auschwitz verloren hatten, schlossen sich in den genannten Fällen der öffentlichen Klage der Staatsanwaltschaft gegen die Angeklagten an.
Verteidigung:
Rechtsanwalt Rudolf Aschenauer vertrat die Angeklagten Boger und Lucas,
Rechtsanwalt Georg Bürger den Angeklagten Schlage, Rechtsanwalt Rainer Eggert die Angeklagten Mulka, Höcker, Lucas und Bednarek,
Rechtsanwalt Benno Erhard den Angeklagten Stark, Rechtsanwalt Hans Fertig die Angeklagten Schlage, Klehr und Breitwieser,
Rechtsanwalt Eugen Gerhardt die Angeklagten Baretzki und Neubert[167],
Rechtsanwalt Gerhard Göllner die Angeklagten Hofmann und Klehr, Rechtsanwalt Heymann den Angeklagten Hofmann,
Rechtsanwalt Engelbert Joschko die Angeklagten Schoberth, Baretzki und Hantl,
Rechtsanwalt Friedrich Jugl den Angeklagten Kaduk,
Rechtsanwalt Hans Herbert Knögel den Angeklagten Scherpe,
Rechtsanwalt Hans Laternser die Angeklagten Broad, Frank, Schatz, Capesius und Dylewski,
Rechtsanwalt Herbert Ernst Müller den Angeklagten Mulka,
Rechtsanwalt Herbert Naumann den Angeklagten Hantl,
Rechtsanwalt Anton Reiners die Angeklagten Kaduk und Scherpe,
Rechtsanwalt Rönsch den Angeklagten Bischoff,[168]
Rechtsanwalt Hans Schallock die Angeklagten Boger, Bischoff und Neubert,
Rechtsanwalt Karl Heinz Staiger die Angeklagten Stark, Schoberth und Hofmann,
Rechtsanwalt Fritz Steinacker die Angeklagten Broad, Frank, Schatz, Capesius und Dylewski,
Rechtsanwalt Hermann Stolting II die Angeklagten Mulka, Höcker und Bednarek,
Rechtsanwalt Wolfgang Zarnack den Angeklagten Breitwieser.[169]
Um die prozessualen Schwierigkeiten des Großverfahrens zu meistern, hatte Hofmeyer laut Vermerk Ormonds vom 7. November 1963, der ein Gespräch zwischen dem Schwurgerichtsvorsitzenden und dem Nebenklagevertreter festhält, zunächst die Absicht, Zeugen »für bestimmte Komplexe und Angeklagte« zu laden, »die Beweisaufnahme gegen einen oder mehrere Angeklagte« durchzuführen, »hierzu plädieren zu lassen und dann das Urteil« zu verkünden. Hofmeyer wollte Ormond zufolge eine »Abtrennung von Verfahren innerhalb des Gesamtverfahrens« erreichen, »so dass nach und nach immer weitere Angeklagte und deren Verteidiger aus dem Prozess ausscheiden«. Laut Ormond versprach sich Hofmeyer »hiervon eine übersichtliche Handhabung und Erleichterung für die Abwicklung des Verfahrens«. Seine Absicht konnte Hofmeyer[170] nicht verwirklichen, auch wenn er von der Richtigkeit einer solchen Prozessführung überzeugt war.
6.1. Die Beweisaufnahme
An drei Verhandlungstagen wurden die Angeklagten zur Person vernommen, am Ende des dritten Verhandlungstags (6. Januar 1964) verlas der Berichterstatter, Beisitzender Richter Perseke, nach § 243 StPO den Eröffnungsbeschluss.[171] Die Vernehmung der Angeklagten zur Sache endete nach zwölf Verhandlungstagen am 6. Februar 1964. Der Sitzungsniederschrift ist zu entnehmen, dass im Verlauf der Vernehmungen zur Sache seitens der Staatsanwaltschaft eine Vielzahl von Urkunden in das Verfahren eingeführt wurde. Die Angeklagten, die durchweg die im Eröffnungsbeschluss aufgeführten Schuldvorwürfe bestritten, konnten nicht umhin, die Echtheit der Urkunden, die oftmals ihre Unterschriften trugen, zu bestätigen. Durch Vorhalte auf der Grundlage des verfügbaren Beweismaterials versuchte die Staatsanwaltschaft, die Verteidigungspositionen der Angeklagten zu erschüttern. Fragen von Seiten der Nebenklagevertreter beantworteten einige Angeklagte, wohl auf Anraten ihrer Verteidiger, nicht.
6.2. Die zeithistorischen Gutachten
Die Staatsanwaltschaft informierte am 29. Januar 1964[172] das Schwurgericht, sie beabsichtige, »an mehreren der […] Sitzungstage zu Beginn der Beweisaufnahme vier Sachverständige gemäss § 245 StPO zu präsentieren«. Die von Generalstaatsanwalt Bauer[173] angeregten Gutachten, als wissenschaftliches Fundament der Beweiserhebung gedacht, sollten nach Auffassung der Strafverfolgungsbehörde allen Verfahrensbeteiligten ein Gesamtbild von dem Geschehen in der Zeit des Nationalsozialismus geben, Aufklärung über den geschichtlichen Hintergrund liefern. Nur auf der Grundlage einer umfassenden zeithistorischen Darstellung war nach Auffassung der Staatsanwaltschaft eine zutreffende Bewertung der gegen die Angeklagten vorgebrachten Tatvorwürfe möglich. In einer Besprechung im November 1962[174] machte Bauer Sinn und Zweck der Gutachten deutlich. Laut Bauer hatte in vorausgegangenen NS-Prozessen die Verteidigung durch »prozessuale Argumente de[n] eigentliche[n] Sinn« der NSG-Verfahren verschleiert. Mit dem Hinweis, das Gesamtgeschehen, der historisch-politische Kontext seien nicht in den Prozess eingeführt worden und könnten deshalb auch nicht zur Bewertung der den Angeklagten zur Last gelegten Taten zu Grunde gelegt werden, verfolge die Verteidigung die Strategie, die Handlungen der Täter zu isolieren, sie nicht als Teil des Gesamtgeschehens zu verstehen. Mit Hilfe der Sachverständigen ließen sich dagegen die allgemeinen politischen und historischen Vorgänge in die Hauptverhandlung einführen. Einmal zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, konnten die durch die Gutachten aufgeklärten historischen Hintergründe darüber hinaus dazu dienen, die »subjektiven Voraussetzungen bei den einzelnen Tätern« erklären zu helfen. Die prozessuale Bedeutung der Gutachten unterstrich auch Oberstaatsanwalt Großmann in seinem Schlussvortrag, in dem er mehrfach auf die Expertisen der Sachverständigen Bezug nahm, sowie in einem ein Jahr nach dem Ende des Verfahrens gehaltenen Referat. Der Zweck der Gutachten sei gewesen, zeitgeschichtliche Erkenntnisse[175] in die Hauptverhandlung einzuführen, »für die Urteilsfindung die historischen Zusammenhänge als Gegenstand der Hauptverhandlung auszuweisen«.[176] Indem mittels der Gutachten das Gesamtgeschehen, in dessen Rahmen die Angeklagten gehandelt hatten, zum Verfahrensgegenstand gemacht wurde, war überdies eventuellen Einwänden der Verteidigung hinsichtlich des Umfangs des Prozessstoffes vorgebeugt. Wohl nicht zu Unrecht nahm die Staatsanwaltschaft auch an, dass Prozessbeteiligte[177] über die für die Wahrheitsfindung gebotene Sachkunde nicht verfügten. Das Gericht[178] bat sein Mitglied, Ergänzungsrichter Hummerich, um eine Stellungnahme zu den angekündigten Sachverständigengutachten. Im Unterschied zu einem Zeugen, der einzig Tatsachenbekundungen zu machen hat, gibt ein Sachverständiger Erkenntnisse, Auffassungen, Interpretationen, Schlussfolgerungen, Analysen zum Ausdruck. In einer Einschätzung (datiert: 26. Januar 1964) des geplanten Gutachtens »Über Gliederung und Aufbau von SS und KZ«[179] führte Hummerich aus, Tatsachen (historischer Provenienz) könnten allein auf der Grundlage von Urkundenbeweisen in die Hauptverhandlung eingeführt werden, nicht aber von Sachverständigen. Etwaige Deutungen und aus den dargelegten Sachverhalten zu ziehende Schlussfolgerungen lägen ausschließlich in der Zuständigkeit des erkennenden Gerichts. Ein Gutachten[180] sei folglich »in aller Regel […] wertlos«, da das Gericht »keine Zeitgeschichte« treibe. »Allgemeine Gutachten« führten darüber hinaus zu einer »historisch zwar interessanten, für das Schwurgericht jedoch gefährlichen Ausweitung des Stoffes«. Bezüglich des Problems der Echtheit und Vollständigkeit von Urkunden erblickte Hummerich hingegen eine Aufgabe der Historiker als sachverständige Zeugen. Hummerich zufolge hätte die Staatsanwaltschaft in Vorbereitung des Verfahrens eine von Sachverständigen mit den Methoden wissenschaftlicher Quellenkritik erarbeitete Zusammenstellung von Urkunden vorlegen müssen. Die in den Prozess einzuführenden Urkunden hätten dem erkennenden Gericht »vernünftigen Aufschluss über die Machtbefugnisse der einzelnen Angeklagten und die der Vorgesetzten« geben können. Die von der Staatsanwaltschaft bezweckte Aufklärung über die den Angeklagten zur Last gelegten Taten hinaus fand beim Gericht keine Zustimmung. Hofmeyer machte dies rückblickend zu Beginn seiner mündlichen Urteilsbegründung sehr deutlich: »Es ist verständlich, dass in diesen Prozess der Wunsch hineingetragen worden ist, die Grundlagen zu einer umfassenden geschichtlichen Darstellung des Zeitgeschehens zu schaffen, die Hintergründe, die zu dieser Katastrophe führten, zu erkennen, die politische Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg aufzuzeigen und die Phänomene zu ergründen, die zu diesem furchtbaren Geschehen in Auschwitz führten. So wurden dem Gericht fleißige und umfassende Gutachten und zahlreiche Literatur vorgelegt, um ein möglichst vollständiges Bild der psychologischen, politischen, sozialen und rechtsphilosophischen Situation der Ära des nationalsozialistischen Staates zu ermöglichen. Die verwirrende Vielzahl der hieraus resultierenden Fragen durfte jedoch das Gericht nicht in die Versuchung bringen, den ihm vom Gesetz vorgeschriebenen Weg zu verlassen und sich auf Gebiete zu begeben, die ihm verschlossen sind. Aufgabe jedes Strafverfahrens ist es, die Begründetheit der Anschuldigungen zu überprüfen, die von der Staatsanwaltschaft erhoben werden, und nur die Umstände zu erforschen, die zur Entscheidung über diese Angeschuldigten geklärt werden müssen. Das Gericht hat nicht das Recht, andere Ziele anzustreben, und würde, wenn es den ihm vorgezeichneten Weg verlassen wollte, in eine Uferlosigkeit geraten, die ihm eine Entscheidung unmöglich machen würde.«[181]
Die von den Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführten Erkenntnisse waren gleichwohl Grundlage der Feststellungen, die im allgemeinen, einführenden Teil des Urteils (1. und 2. Abschnitt) getroffen wurden. Ausdrücklich hob das Gericht hervor, es habe sich den »überzeugenden und fundierten Darlegungen« der Sachverständigen »in vollem Umfang«[182] angeschlossen.
Nach Abschluss der Vernehmung zur Sache, am 7. Februar 1964 (16. Verhandlungstag), trug Hans Buchheim (Institut für Zeitgeschichte, München) zum Beweisthema »Die Organisation von SS und Polizei unter nationalsozialistischer Herrschaft« sein Gutachten vor. Helmut Krausnick und Martin Broszat (beide Institut für Zeitgeschichte) erstatteten am 17. Februar 1964 (17. Verhandlungstag) ihre Gutachten über »Nationalsozialistische Judenpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Judenverfolgung« sowie über »Nationalsozialistische Polenpolitik« (Fortsetzung von Broszats Gutachten am 28. Februar 1964 (21. Verhandlungstag)). Über »Die Entwicklung der nationalsozialistischen Konzentrationslager« referierte Broszat am 21. Februar 1964 (18. Verhandlungstag). Da im Verlauf des Verfahrens seitens der Verteidigung die Frage des Befehlsnotstandes in den Mittelpunkt gestellt wurde, trug Buchheim am 2. Juli 1964 (60. Verhandlungstag) zum Thema »Das Problem des Befehlsnotstandes bei den vom nationalsozialistischen Regime befohlenen Verbrechen in historischer Sicht« ein weiteres Gutachten[183] vor. Am 14. August 1964 (77. Verhandlungstag) sprach Hans-Adolf Jacobsen (Universität Bonn) über den »Kommissarbefehl«. Rechtsanwalt Kaul teilte mit Schreiben vom 21. Februar 1964[184] dem Schwurgericht mit, dass er für den 28. Februar 1964 beabsichtige, den Sachverständigen Jürgen Kuczinski (Humboldt Universität Berlin) zu dem Beweisthema »Die Verflechtung staatssicherheitspolizeilicher und wirtschaftlicher Interessen als Grundlage für die Errichtung und den Betrieb des Konzentrationslagers Auschwitz und seiner Nebenlager«[185] sowie als sachverständigen Zeugen zu dem Beweisthema »Die Widerstandsbewegung der Häftlinge im Bereich des KZ Auschwitz, ihre Grundlagen, Ziele und Wirksamkeit« den ehemaligen Auschwitz-Häftling und Mitglied des Lagerwiderstands Bruno Baum[186] präsent zu stellen. Nach zwei Ablehnungsanträgen der Rechtsanwälte Laternser und Steinacker[187] wurde Kuczinski am 19. März 1964 wohl gehört, sein Gutachten aber durch Beschluss des Schwurgerichts[188] wegen Einseitigkeit abgelehnt.
Die Gutachten[189] lassen sich an dieser Stelle weder darstellen noch würdigen. Kurz eingegangen sei auf eine von dem Sachverständigen Buchheim vorgetragene Auffassung, die mit der ständigen Rechtsprechung, an der sich auch das erkennende Gericht orientierte, unvereinbar war. Ein Ergebnis der »Untersuchung der geistig-politischen Gesamtsituation«[190], der »Geisteshaltung der Täter«[191] aus historischer Sicht war Buchheim[192] zufolge, dass die Vernichtungsbefehle nicht als »Befehle in Dienstsachen«, vielmehr als »Befehle in Weltanschauungssachen«, nicht als militärische, sondern als politische Befehle zu verstehen waren, als Befehle mithin, die außerhalb aller normativen Ordnung standen. Das Befehls-Gehorsams-Verhältnis bei Befehlen in Weltanschauungssachen gründete nicht mehr in übergeordneter staatlicher Normativität. Der Gehorsam des einen Mordbefehl ausführenden SS-Mannes resultierte nicht aus rechtverstandener, aus geltendem Gesetz sich herleitender staatsbürgerlicher Pflicht und soldatischer, die militärische Ordnung anerkennender Tradition. Der »Führerbefehl« war »aus jeder normativen Bindung herausgenommen«[193], er setzte »die Entschlüsse der Geschichte in die Tat« um, stand »jenseits der gesetzlichen Ordnung«.[194] Für den Befehlsempfänger war es demnach keine von ihm eigenverantwortlich zu prüfende Frage, ob der Befehl ein Strafgesetz verletzte. Die offensichtliche Ungesetzlichkeit, Rechtswidrigkeit der sogenannten Führerbefehle war im Bewusstsein der Täter unbeachtlich angesichts der auf der geschichtlichen Sendung sich gründenden Legitimität der verabsolutierten Führergewalt. Wohl war den Befehlsausführenden durchaus irrtumsfrei erkennbar, dass die Befehle die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen und die sittlichen Normen ignorierten oder suspendierten. Unter Berufung auf § 211 StGB bzw. § 47 MStGB[195] die Mordbefehle zu verweigern, kam dem im ideologischen Konsens mit der Staatsführung handelnden, in Treuepflicht zum »Führer« stehenden SS-Angehörigen[196] gleichwohl nicht in den Sinn. Gegenüber Befehlen in Weltanschauungssachen gab es keine Gehorsams-, keine Rechtspflicht, die sich auf militärische bzw. staatliche Normen gründete. Gefordert war hingegen der in unverbrüchlicher Treue zum »Führer« bestehende Gehorsam des weltanschaulichen Kämpfers, des befehlsergebenen Gefolgsmannes. Der in Treuepflicht zu Hitler handelnde Untergebene führte Befehle aus, die weder Recht noch Gesetz kannten, jegliche Staats- und Rechtsordnung missachteten. Von einer Tatbestandsverwirklichung i.S. des § 47 MStGB könne sonach angesichts der spezifischen Art des Befehls nicht gesprochen werden. § 47 MStGB war Buchheim zufolge suspendiert.
Für die herrschende Rechtsprechung waren die Befehle zur Vernichtung der Juden hingegen bloße Befehle in Dienstsachen. Der gehorchende Untergebene, angeblich im Rahmen einer von ihm als gültig erachteten Rechtsordnung handelnd, konnte nicht straffrei bleiben. Da der Befehlsempfänger im sicheren Wissen um den verbrecherischen Charakter der befolgten Befehle handelte, im Wissen um die Geltung des § 47 MStGB[197], machte es sich schuldig.
Buchheim legte weiterhin dar, die Täter hätten im allgemeinen ein aus ideologischen Gründen »partiell suspendiertes Unrechtsbewusstsein«[198] gehabt, insofern sie glaubten, außerhalb aller Normativität das geschichtlich Notwendige im – angeblich dem deutschen Volk aufgezwungenen – »Rassenkrieg«, aus dem nur der Stärkere als Sieger und Herrscher hervorgehen könne, verwirklichen zu müssen. Überzeugt von der geschichtlichen Notwendigkeit ihres Handelns, in einem sozialen Ausnahmezustand befindlich, in dem es vorgeblich um Leben und Tod des deutschen Volkes ging, handelten sie im ideologischen Konsens mit der uneingeschränkt und gläubig anerkannten Staatsführung. War die Verbindlichkeit des Befehls für die Täter keine Rechtsverbindlichkeit, sondern außernormativ eine Verbindlichkeit der weltanschaulichen und politischen Treue, so war das Unrechtsbewusstsein keins, das durch die Verletzung von zur Tatzeit und heute geltenden Rechts sich hätte bilden können.
Wiederum stand Buchheims Auffassung der herrschenden Meinung entgegen, die die strafrechtlich zu beurteilende Situation der Täter simplifizierte, um ihre Taten auf der Grundlage des deutschen Strafrechts justiziabel zu machen. Die NS-Täter hatten schlicht geltendes Recht, d.h. NS-Recht[199] verletzt und um die Rechtswidrigkeit ihres Tuns, das ihnen von der obersten Staatsführung befohlen worden war, gewusst.
6.3. Die Zeugen
Nach der Anhörung der ersten drei Gutachter, denen sich jeweils eine intensive Befragung der Sachverständigen anschloss, begann am 24. Februar 1964 (19. Verhandlungstag) die erste Zeugenvernehmung. Schwurgericht und Strafverfolgungsbehörde[200] hatten vereinbart, zu Beginn »Milieuzeugen«[201] zu hören, die den Prozessbeteiligten über das Gesamtgeschehen in Auschwitz Aufklärung geben konnten. Überlebende wie Otto Wolken, Häftlingsarzt im Quarantänelager BIIa in Birkenau, dessen Vernehmung[202] sechs Stunden dauerte, Ella Lingens, Hermann Langbein[203], der über vier Stunden aussagte, und SS-Angehörige wie Hans-Wilhelm Münch (Hygiene-Institut), Joachim Caesar (Leiter der Abteilung Landwirtschaft) und Konrad Morgen (Reichskriminalpolizeiamt, später SS-Polizei-Gericht Krakau) informierten die Prozessbeteiligten über die Ereignisse im Lager.
6.4. Die Ortsbesichtigung (Augenscheinseinnahme)
Die Vertreter der Nebenkläger, die durch die Herbeischaffung von Beweismitteln (Urkunden und Zeugen) eine bedeutsame Rolle im Verfahren spielten, die Stimme der Opfer zu Gehör brachten, mithin mehr als nur Gehilfen der Staatsanwaltschaft darstellten, waren für das Zustandekommen des Ortstermins in Auschwitz von ausschlaggebender Bedeutung.
Mit Schriftsatz vom 8. Juni 1964 stellte Rechtsanwalt Ormond Antrag[204] auf Augenscheinseinnahme des Tatortes Auschwitz. Die Ortsbesichtigung sollte als Teil der Beweisaufnahme zur Klärung von Fragen beitragen, die im Verlauf der Hauptverhandlung sich ergeben hatten. Zweifel der Verteidigung an der Glaubwürdigkeit von Zeugen, am Beweiswert von Aussagen, ließen sich am ehesten durch einen Ortstermin in Auschwitz zerstreuen. Rechtsanwalt Kaul[205] schloss sich mit Schriftsatz vom 11. Juni 1964 Ormonds Antrag an und versuchte, die von Vertretern der Verteidigung vorgebrachten Bedenken bezüglich der Vornahme einer Amtshandlung eines deutschen Gerichts auf dem Boden eines anderen Staates zu entkräften. Mit Schriftsatz vom 22. Juni 1964 legten die Rechtsanwälte Laternser und Steinacker ihre Bedenken dar. »In materieller Beziehung« sei eine Ortsbesichtigung 20 Jahre nach dem Tatgeschehen »ein Widerspruch in sich selbst«, sei doch der Tatort durch die Einrichtung eines Museums auf dem Lagergelände, durch Instandsetzungen, durch »Verdeutlichungen« derart verändert worden, dass eine »Gewinnung sicherer Beweisanzeichen nach 20 Jahren […] nicht mehr einwandfrei möglich« scheine. »In formeller Beziehung« setze eine »Durchreise durch die SBZ« bzw. eine »Durchreise durch die Tschecho-Slowakei« eine »Vereinbarung mit der SBZ« bzw. eine zwischenstaatliche Vereinbarung mit Prag voraus. Ebenso habe die Durchführung einer richterlichen Tätigkeit auf polnischem Boden eine Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zur Voraussetzung. Überdies sei eine »Reise hinter den Eisernen Vorhang […] unter den augenblicklichen politischen Verhältnissen in keinem Falle zumutbar«.[206] Gleichfalls mit Schriftsatz vom 22. Juni 1964 gab die Strafverfolgungsbehörde eine »Stellungnahme« ab, in der sie die Durchführung eines Lokaltermins bejahte. Eine Augenscheinseinnahme schien der Staatsanwaltschaft im Interesse der Wahrheitsfindung zweckdienlich, weil sie »im besonderen Maße geeignet« sei, »dem Gericht eine eindeutige Kenntnis der räumlichen Gesamtsituation und räumlichen Zusammenhänge zu geben«.[207] Ormond[208] war es gewesen, der in Verhandlungen mit Sehn, dem Beauftragten der polnischen Regierung, die Möglichkeiten einer Ortsbesichtigung durch das Schwurgericht erörtert hatte. In der Anlage zu seinem Schreiben vom 8. Juni 1964 übergab er dem Gericht eine vom polnischen Minister der Justiz erteilte Vollmacht Sehns[209], dem Frankfurter Gericht gegenüber zu erklären, die Regierung der Volksrepublik Polen wolle einen etwaigen Antrag des Gerichts auf Abhaltung eines Ortstermins wohlwollend prüfen. Das Schwurgericht hatte über die gestellten Anträge[210] zu entscheiden. Mit Schreiben vom 23. Juni 1964 wandte es sich an den Hessischen Minister der Justiz, stellte den Sachverhalt dar und bat um die Prüfung der Frage, »ob von Seiten des Ministeriums geeignete Schritte unternommen werden sollen, eine Amtshandlung des Schwurgerichts im Raum des polnischen Staates zu ermöglichen«.[211] Das Justizministerium wandte sich mit Schreiben vom 30. Juni 1964 an den Bundesminister der Justiz und hob hervor, dass die Frage, »ob ein deutsches Schwurgericht in Polen Amtshandlungen vornehmen« könne, einer »Klärung auf diplomatischem Wege« bedürfe, weshalb eine »Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zu der Frage« herbeizuführen sei, »ob es auf diplomatischem Wege möglich ist, mit der polnischen Regierung Verhandlungen über einen etwaigen Augenscheinstermin in Auschwitz und den Nebenlagern durch das Schwurgericht«[212] zu führen. Am 23. Juli 1964 fand eine Ressortbesprechung[213] im Bundesministerium der Justiz wegen der Behandlung der Frage des Rechtshilfeersuchens betr. Lokaltermin in Auschwitz statt. Vertreter des Bundesministeriums der Justiz, des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums des Innern und des Bundeskanzleramts nahmen an der Besprechung teil. Das Auswärtige Amt und das Bundesjustizministerium sahen die Möglichkeit, mit der Volksrepublik Polen, mit der die Bundesrepublik Deutschland keine diplomatischen Beziehungen unterhielt, eine Vereinbarung bezüglich des geplanten Ortstermins zu treffen. Mit Schnellbrief vom 31. Juli 1964[214] an den Hessischen Minister der Justiz bat das Bonner Ministerium um eine erneute Stellungnahme des Schwurgerichts, die dieses mit Datum vom 21. August 1964[215] vorlegte. Eine Entscheidung über die Notwendigkeit einer Beweiserhebung am Tatort, wie sie von den Bonner Stellen erwartet wurde, traf das Gericht jedoch noch nicht. Die Situation war unklar: Das Auswärtige Amt machte die Aufnahme von Verhandlungen mit Polen von dem ausstehenden Beschluss des Schwurgerichts abhängig; das Schwurgericht wiederum betrachtete den Abschluss einer zwischenstaatlichen Vereinbarung als Voraussetzung für einen eigenen Beschluss über die von Ormond und anderen gestellten Beweisanträge. Nachdem das Gericht am 16. Oktober 1964 Untersuchungsrichter Düx[216] über seine Wahrnehmungen im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz anlässlich einer Auschwitzreise im Juli 1963[217] befragt und Hofmeyer bei einer Besprechung im Bundesministerium der Justiz[218] am 21. Oktober 1964 eine Klärung offener Fragen erlangt hatte, beschlossen die Frankfurter Richter am 22. Oktober 1964[219], durch ein richterliches Mitglied des Schwurgerichts als beauftragten Richter eine Augenscheinseinnahme durchführen zu lassen. Eine zwischenstaatliche Vereinbarung erachtete das Gericht als notwendige Voraussetzung für die Durchführung des Lokaltermins. Da die Ortsbesichtigung nicht von dem gesamten Schwurgericht, sondern durch einen beauftragten Richter durchgeführt werden sollte, war die in Auschwitz vorzunehmende Beweiserhebung nicht Teil der Hauptverhandlung. Die Anwesenheit der Prozessbeteiligten war (§§ 224, 225 StPO) nicht vorgeschrieben. Den Vertretern der Verteidigung und den auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten wurde anheimgestellt, an der kommissarischen Augenscheinseinnahme teilzunehmen. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1964[220] an den polnischen Justizminister ersuchte das Gericht, dem beauftragten Richter eine Vornahme der Augenscheinseinnahme zu genehmigen. Auf einer Besprechung in Frankfurt am Main, die am 2. Dezember 1964 stattfand und an der von Seiten der Regierung Polens die Beauftragten Jan Sehn und Eugeniusz (Dawid) Szmulewski, von Seiten des Gerichts Vorsitzender Richter Hofmeyer sowie je ein Mitarbeiter des Bundesjustiz- und Außenministeriums teilnahmen, erklärten die Vertreter der polnischen Regierung[221] das Einverständnis des polnischen Ministers der Justiz mit den im Schreiben vom 27. Oktober 1964 vorgebrachten Wünschen des Gerichts. Mit Schreiben vom 2. Dezember 1964[222] gab der Justizminister Polens seine Einwilligung zur Vornahme der Ortsbesichtigung, somit zur Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit auf polnischem Boden.
Die Teilnehmer[223] am Lokaltermin flogen am 12./13. Dezember 1964 von Stuttgart über Wien nach Warschau und setzten die Reise per Bus nach Krakau fort. Am Morgen des 14. Dezember 1964 fuhren die Prozessbeteiligten nach Oświęcim und wurden von Sehn, Szmulewski und Kazimierz Smoleń, dem Direktor des Auschwitz-Museums, willkommen geheißen. Sehn hielt eine Ansprache und endete mit den Worten: »Und nun, Herr Amtsgerichsrat Hotz, bitte, walten Sie Ihres Amtes.«[224] Hotz hatte einen Aufgabenkatalog mit rund 40 Fragen ausgearbeitet, in dem er neben den Zeugen, auf die die zu prüfenden Beweistatsachen zurückgingen, auch die entsprechenden Angeklagten aufgeführt hatte.
Der Fragenkatalog und das am 7. Januar 1965 verlesene dreiundzwanzigseitige richterliche Protokoll[225] der Augenscheinseinnahme, dem in der Anlage 37 Fotos beigefügt sind, gibt Aufschluss über das Bemühen des beauftragten Richters[226], die durch die Aussagen der Zeugen aufgekommenen Fragen und Zweifel anhand einer genauen Besichtigung des Tatorts zu klären. Sichtverhältnisse wurden überprüft, Sichtmöglichkeiten durch das Abmessen der Örtlichkeiten genauestens getestet, die Erkennbarkeit von Personen durch Sehproben verifiziert, die Hörbarkeit von Stimmen in den Zellen von Block 11 experimentell festgestellt. Die beim Ortstermin gewonnenen Erkenntnisse[227]bestätigten im Großen und Ganzen die Aussagen der Zeugen.
6.5. Die kommissarischen Vernehmungen in Polen
Mit Schreiben vom 8. Februar 1965[228] an die Anklagevertretung teilte die Hauptkommission zur Untersuchung der Nazi-Verbrechen in Polen mit, eine Reihe von polnischen Belastungs- und Entlastungszeugen, von Staatsanwaltschaft und Verteidigung benannt, könnten nicht zur Hauptverhandlung nach Frankfurt am Main kommen. Sowohl die Strafverfolgungsbehörde als auch die Verteidigung stellten Antrag auf kommissarische Vernehmung der Zeugen durch einen ersuchten polnischen Richter. Das Gericht wandte sich daraufhin an das Bundesjustizministerium mit dem Ersuchen, die Vernehmung der Zeugen durch polnische Richter zu genehmigen. Bonn ermächtigte das Schwurgericht, das polnische Justiz-ministerium um Rechtshilfe zu bitten und die erforderlichen Vereinbarungen eigenständig zu schließen. Mit Schreiben vom 29. März 1965[229] an die zuständigen Bezirksgerichte der Volksrepublik Polen benannte das Gericht insgesamt 25 Zeugen. Sehn und Szmulewski, die Bevollmächtigten des polnischen Justizministers, vereinbarten mit dem Schwurgericht am 31. März 1965[230] die Vernehmung der aufgeführten Zeugen im Beisein von Vertretern der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und der Nebenklage. In der Sitzung vom 5. April 1965 (148. Verhandlungstag) beschloss das Gericht[231] sodann die kommissarische Vernehmung der Zeugen. In Anwesenheit der Staatsanwälte Vogel und Wiese, des Nebenklägervertreters Kaul sowie der Verteidiger Gerhard Göllner und Eugen Gerhardt wurden in der Zeit vom 21. bis zum 28. April 1965 in Breslau, Lodz, Kattowitz, Krakau und Warschau 20 Zeugen[232] vernommen und die Vernehmungsniederschriften[233] an zwei Verhandlungstagen (30. April und 3. Mai 1965) verlesen.
6.6. Die Schließung der Beweisaufnahme
Bis zur Schließung der Beweisaufnahme am 6. Mai 1965 hatte das Schwurgericht an 134 Verhandlungstagen 360 Zeugen[234] und 9 Sachverständige gehört. Von den 360 Zeugen[235] waren 221 Überlebende von Auschwitz (und anderen Lagern: Ravensbrück, Mauthausen, Sachsenhausen)[236], 85 Zeugen waren Angehörige der SS, 54 Zeugen waren sonstige Aussagepersonen (Angestellte der I.G. Farbenindustrie AG, Siemens-Angestellte, Angehörige der Angeklagten (Günther Stark, Erna und Rolf Mulka, Ruth Dylewski, Alfred und Werner Schlage, Frieda Klehr), sachverständige Zeugen wie Danuta Czech (Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau), Kurt Hinrichsen (Zentrale Stelle), Nikolaj Alexejew (Universität Leningrad), Michael Musmanno (Nürnberger Nachfolge-Prozesse)). 56 Protokolle und andere Schriftstücke, davon 39 Vernehmungsniederschriften von Überlebenden, wurden in der Hauptverhandlung verlesen. Neben den in der Anklageschrift als Beweismittel aufgeführten und in der Hauptverhandlung auf Antrag der Staatsanwaltschaft gehörten Zeugen[237] (173 wurden geladen, davon 153 gehört, von 20 genannten Zeugen wurden Protokolle verlesen) beantragte die Anklagevertretung die Ladung von weiteren 64 Zeugen, von denen 54 gehört wurden. Die Vertreter der Nebenkläger stellten Antrag auf Anhörung von 43 Zeugen (Rechtsanwälte Ormond/Raabe; geladen 39 Zeugen) bzw. von 24 Zeugen (Rechtsanwalt Kaul; davon 22 geladen). Seitens der Verteidigung wurden 163 Zeugen benannt, von denen 91 vom Gericht vernommen worden sind.[238]
6.7. Die Plädoyers der Staatsanwaltschaft
Mit dem 155. Verhandlungstag begannen die Schlussvorträge. Vom 7.5.–20.5.1965 (sechs Verhandlungstage) plädierten die Ankläger, vom 20.5.–24.5.1965 (drei Verhandlungstage) die Vertreter der Nebenkläger, vom 31.5.–29.6.1965 (17 Verhandlungstage lang) trugen 18 Verteidiger ihre Plädoyers vor. Am 179. und 180. Verhandlungstag (29.7. und 6.8.1965) replizierten Großmann für die Staatsanwaltschaft, Kaul und Ormond für die Nebenkläger, Aschenauer, Göllner und Laternser für die Verteidiger auf die Schlussvorträge.
Die Einzelheiten der Beweiswürdigung durch Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung lassen sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht darlegen. Nur durch eine minutiöse Rekonstruktion der Bekundungen der Zeugen im Vorverfahren und in der Hauptverhandlung ließe sich die überaus unterschiedliche Bewertung der Zeugenaussagen durch die Verfahrensbeteiligten nachzeichnen. Oberstaatsanwalt Großmann erörterte zunächst in seinem Einführungsplädoyer von der Tatseite her Ursache, Ausmaß und Zeitpunkt der den Angeklagten zur Last gelegten Straftaten sowie von der Täterseite her Fragen des Persönlichkeitsbildes der Angeklagten. Hinsichtlich der Ursache der Taten wies Großmann Deutungen und Erklärungen zurück, die nur als Exkulpationsversuche zu werten waren. Die zur Aburteilung stehenden Taten der Angeklagten seien keinesfalls Kriegshandlungen gewesen, die gängige »Kriegsthese« sei grundfalsch. Die antijüdische Politik des NS-Regimes, die Großmann unter Bezugnahme auf die durch die Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführten »zeitgeschichtlichen Erkenntnisse« skizzierte, stellte nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die »Verwirklichung einer programmatischen Zielsetzung des Nationalsozialismus«[239] dar. Die Mitwirkung der Angeklagten an einem Verbrechen, dessen Ausmaß sowohl im ganzen als auch in der Feststellung der individuellen Tatbeiträge niemals erfassbar sei, müsse trotz aller prozessualer Schwierigkeiten, auch wider die allerorten vernehmbaren Einwände und Bedenken, geahndet werden. Den strafrechtlichen Primat des Verfahrens hervorhebend, führte Großmann gleichwohl aus, der Prozess diene auch der Bildung eines durch die Nazizeit und die »innere Verstrickung« der Tätergeneration beschädigten Rechtsbewusstseins. Die Bindung der vor Gericht stehenden Auschwitz-Täter (ausgenommen Bednarek) zum Nationalsozialismus und zur SS war nach Ansicht der Anklagebehörde zweifelsfrei festzustellen. Im Durchschnitt waren »die Angeklagten jeweils mehr als 2 Jahre in Auschwitz gewesen«, beteiligten sich auf Befehl und in beflissenem Gehorsam an den Massenverbrechen. Bei keinem, entgegen der im Verlauf des Verfahrens von Rechtsanwälten eingeschlagenen Verteidigungsstrategie, war ein überzeugender Nachweis zu erbringen, dass er sich der Befolgung der verbrecherischen Befehle zu entziehen versuchte. Die »Flucht in die Problematik der Befehlsverweigerung, in den vermeintlichen Befehls- oder Putativnotstand«[240], die die Angeklagten auf Anraten ihrer Verteidiger antraten, konnte sie vor der bestrittenen Mitverantwortung nicht retten. Befehlsbefolgung war keineswegs die den Angeklagten einzig verbliebene Möglichkeit in Auschwitz. Bei Nichtausführung der Mordbefehle drohte ihnen keine Gefahr für Leib oder Leben. Unter Darlegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Frage des Befehlsnotstandes, der von dem Sachverständigen Buchheim und dem sachverständigen Zeugen Hinrichsen[241] (Zentrale Stelle) vorgetragenen Erkenntnisse sowie der von der Verteidigung (z.B. Werner Best, Bruno Streckenbach) und der Anklagebehörde (u.a. Michael Musmanno) benannten Zeugen und ihren Bekundungen konstatierte Großmann, keiner der Angeklagten könne sich auf Befehlsnotstand oder auch nur Putativnotstand berufen. Die Rechtswohltat des entschuldigenden Notstandes konnte den Angeklagten nicht zuteilwerden.
Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hatten die meisten Angeklagten ein Interesse am Taterfolg. Ihr Beitritt zur SS, ihr Werdegang in der Organisation und ihr Verbleiben in dem Todeslager waren als sichere Beweisanzeichen dafür zu werten, dass die Angeklagten konform mit der Staatsführung gingen.
Staatsanwalt Vogel stellte im allgemeinen Teil seines Plädoyers Überlegungen zum Beweiswert der Zeugenaussagen und zum Problem der Glaubwürdigkeit der Zeugen an. Mit Entschiedenheit wies er Behauptungen mancher Angeklagter und Verteidiger zurück, die Belastungszeugen seien »von interessierten Verbänden oder Behörden« beeinflusst worden, hätten »bestellte« Aussagen, »planmäßige falsche Angaben« gemacht. Weiterhin betonte Vogel, in dem Verfahren solle nicht »die deutsche Vergangenheit auf Kosten weniger Angeklagter bewältigt werden«, vielmehr seien die Angeklagten »nach Maßgabe ihrer persönlichen Schuld für die erwiesenermaßen während der Anwesenheit in Auschwitz begangenen Verbrechen des Mordes – oder der Beihilfe dazu – […]«[242] abzuurteilen. Vogel plädierte sodann zu den Angehörigen der Politischen Abteilung (Abt. II) Stark, Dylewski, Broad und Schoberth, Staatsanwalt Wiese zu Boger, sodann Vogel[243] zu den Mitgliedern der Schutzhaftlagerführung (Abt. III) Hofmann, Baretzki und Schlage, Wiese[244] zu Kaduk. Weiterhin plädierte Vogel noch zu einem Angehörigen der Lagerverwaltung (Abt. IV), zu Breitwieser. Staatsanwalt Kügler[245] hielt seinen Schlussvortrag zu den Angehörigen der Abt. V, Standortarzt, Lucas, Frank, Schatz und Capesius, zu den beiden Adjutanten (Kommandantur, Abt. I) Mulka und Höcker, zu dem Funktionshäftling Bednarek sowie zu den Sanitätsdienstgraden Klehr, Scherpe und Hantl.
Zu Schatz (Dienstzeit in Auschwitz: Januar 1944 – Herbst 1944), Frank (Dienstzeit in Auschwitz: März 1943 – August 1944), Lucas (Dienstzeit in Auschwitz: Dezember 1943 – Sommer 1944) und Capesius (Dienstzeit in Auschwitz: Dezember 1943 – Januar 1945) führte Staatsanwalt Kügler aus, die Einlassungen der Angeklagten zur Sache genügten bereits für ihre Verurteilung. Die Angeklagten bestritten nicht, auf der Rampe gewesen zu sein, Rampendienst geleistet zu haben. Sie leugneten aber jegliche Mitwirkung bei den Selektionen und beteuerten, nur herumgestanden zu haben, vollkommen untätig geblieben zu sein. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hatten die zum Rampendienst eingeteilten Ärzte, Zahnärzte und Apotheker ein sicheres Wissen um Sinn und Zweck der Selektionen. Als SS-Führer auf der Rampe anwesend, dabei für die bei der »Abwicklung« der Transporte tätigen SS-Unterführer Orientierung und Rückhalt, Autorität und Vorbild, »repräsentierten« sie den Willen, dem die Untergebenen folgten. Die Angeklagten wussten Kügler zufolge um die durch ihre bloße Präsenz ausgeübte Wirkung auf die einfachen Befehlsempfänger, die von Kügler »Doctores« genannten vier Angeklagten waren somit »für die kleinen Henker der personifizierte Befehl Hitlers«.[246]
Die Anwesenheit auf der Rampe, das von den Angeklagten eingeräumte »Herumstehen«, hatte darüber hinaus eine für das reibungslose Funktionieren der Mordaktion wichtige, nämlich die Opfer beruhigende, sie irreleitende und täuschende Wirkung. Als »Glied« in der »Maschinerie«, als »Rad […] an entscheidender Stelle«[247], waren die Angeklagten mitverantwortlich, mithin als Mittäter zu qualifizieren. Ihren Dienst haben die Angeklagten im Einverständnis mit den gegebenen Befehlen versehen. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft war es ein sicheres Ergebnis der Beweisaufnahme, dass Lucas, Frank, Schatz und Capesius sich aktiv am Selektionsvorgang beteiligten, über Leben und Tod entschieden, wobei die Aussortierung von Arbeitsfähigen, entgegen der Argumentation der Verteidigung, mitnichten als Lebensrettung zu werten war. Die Einweisung ins Lager war nur ein verlängerter Tod. Zudem selektierten die Angeklagten nicht nur, sie fuhren auch zu den Gaskammern, überwachten das Einwerfen des Gases und stellten den Tod der Opfer fest.
Zu den Angeklagten Mulka (Dienstzeit in Auschwitz: Januar 1942 – März 1943) und Höcker (Dienstzeit in Auschwitz: Mai 1944 – Januar 1945) stellte Kügler anhand des Beweismaterials den Aufgabenbereich, die Funktion der Adjutanten dar, wies anhand der Urkunden nach, dass die Adjutanten »umfassend auf den reibungslosen Ablauf der Ermordung von Menschen hinzuwirken«[248] hatten und führte hinsichtlich der subjektiven Tatseite aus, dass sich Mulka und Höcker mit dem Geschehen in Auschwitz identifiziert, sich den Massenmord zur eigenen Sache gemacht hätten. Unzweifelhaft erschien der Staatsanwaltschaft, dass die herausragende Stellung eines Adjutanten des Kommandanten, der nachweislich von der Kommandantur aus die »Abwicklung« der RSHA-Transporte durch die verschiedenen Abteilungen und Stellen zu befehlen und zu organisieren hatte, nur von SS-Führern eingenommen worden sein konnte, die mit den Morden einverstanden waren.
Bis auf vier Angeklagte (Scherpe und Hantl wegen Beihilfe zum Mord 12 Jahre Zuchthaus, Breitwieser Freispruch mangels Beweises[249], Schoberth Straffreiheit gemäß § 47 MStGB) beantragte die Staatsanwaltschaft, die Angeklagten wegen Mordes gemäß § 211 StGB zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen. Bezüglich der Teilnahmeform an den Massenvernichtungen war die Staatsanwaltschaft der Auffassung, dass die Angeklagten allesamt als Mittäter gehandelt hätten. Mit Blick auf den Angeklagten Dylewski führte Staatsanwalt Vogel aus, man könne »einfach nicht jahrelang immer wieder Menschen erschießen, und sich bei jedem Schuss, der abgegeben wird, jeweils einzureden versuchen, eigentlich wolle man diese Erschießungen gar nicht als eigene Tat durchführen, sondern nur die Tat eines andern fördern«.[250] Der Staatsanwaltschaft zufolge war es ein eindeutiges Ergebnis der Beweisaufnahme, dass die Angeklagten mit Täterwillen ihre Tatbeiträge geleistet hatten. Für viele sei Auschwitz »die große Stunde des kleinen Mannes in Uniform«[251] gewesen.
6.8. Die Plädoyers der Nebenklagevertreter
Als erster Nebenklagevertreter hielt Rechtsanwalt Kaul am 20. Mai 1965 seinen Schlussvortrag. Hinsichtlich des Problems der Subsumtion der Taten der Angeklagten und der juristischen Qualifikation der in Auschwitz begangenen Verbrechen vertrat Kaul[252] die Auffassung, die Verbrechen seien Objekt des Völkerstrafrechts. Da die völkerrechtlichen Prinzipien auch in der Zeit des Nationalsozialismus verbindlich gewesen seien, liege keine Verletzung des Rückwirkungsverbots vor. Kaul zufolge sei die Schuld der Angeklagten, die sich »bei Begehung ihrer Untaten in voller Übereinstimmung mit der zur Tatzeit bestehenden Staatsordnung«[253] fühlten, festzustellen gewesen allein durch die umfassende und gründliche Aufklärung der sozioökonomischen und politischen Tatumstände. An der Prozessführung Kritik übend, die auf die vom Gesetz vorgeschriebene Begrenzung des Verfahrens auf die strafrechtliche Schuld der Angeklagten strikt achtete, bemängelte Kaul die Einschränkung des Fragerechts im Falle derjenigen Zeugen, die seiner Auffassung nach als Haupttäter und Hintermänner für die Verbrechen in Auschwitz zu gelten hatten. Die Angeklagten Mulka, Höcker und Klehr, von den von Kaul vertretenen Nebenklagen erfasst, hatten gemäß Kaul die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht als Einzeltäter begangen. Alle zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Handlungen der Angeklagten waren aus der Sicht des Nebenklagevertreters als strafrechtliche Einheit zu betrachten, da die in einer strafrechtlich bedeutsamen Beziehung zueinander stehenden Handlungen einen, wie laut Kaul die Beweisaufnahme ergeben habe, gemeinsamen Ursprung, Hintergrund und Zusammenhang[254] aufwiesen. Die Angeklagten gehörten einer »Gemeinschaft von Mittätern«[255] an und handelten Kaul zufolge auf Befehl und auf Anweisung der SS, der Ministerialbürokratie, der Wehrmachtsführung und der »Konzernindustrie«.[256] Ihre Mitwirkung am Fließband des Todes sei mithin ein »notwendiger und wesentlicher Bestandteil eines einheitlichen, auf die systematische Massenvernichtung von Menschen gerichteten Tatvorganges«.[257] Die Angeklagten, so Kaul, hätten sich »gegen die Menschheitsordnung vergangen, die sich ihren Schutz in den auch zur Tatzeit in Kraft gewesenen völkerrechtlichen Verboten geschaffen«[258] habe. Kaul, betont gesamtdeutsch argumentierend, nannte den Auschwitz-Prozess, der der »echten Bewältigung der Vergangenheit und damit der Sicherung der Zukunft unserer Nation«[259] diene, eine »sittliche Notwendigkeit […] für die Nation überhaupt«.[260]
Rechtsanwalt Raabe setzte sich in seinem Schlussvortrag ausführlich mit dem Angeklagten Lucas auseinander. Lucas’ anfängliches Leugnen, sein Teilgeständnis, seine Berufung auf eine angebliche Notstandslage, insgesamt seine in der Hauptverhandlung praktizierte Verteidigungsstrategie unterzog Raabe einer scharfen Kritik. Den Gipfel der von dem Nebenklagevertreter dem Angeklagten vorgeworfenen Unwahrhaftigkeit sah Raabe in Lucas’ Teilnahme an der Ortsbesichtigung in Auschwitz. Mit der Reise an den Ort der Verbrechen habe Lucas »vor aller Welt seine Unschuld demonstrieren«[261] wollen. Raabe beantragte für Lucas wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 30.000 Fällen zwölf Jahre Zuchthaus, für die Zahnärzte Frank und Schatz jeweils wegen Mordes in 30.000 Fällen dreißigtausendmal lebenslanges Zuchthaus. Für die Angeklagten Mulka, Höcker, Boger, Stark, Dylewski, Hofmann, Kaduk, Baretzki und Klehr stellte Raabe Strafantrag auf lebenslanges Zuchthaus, für Scherpe beantragte er zwölf und für Hantl zehn Jahre Zuchthaus, bezüglich Breitwieser plädierte er ebenso wie die Staatsanwaltschaft für Freispruch.
Die Einlassungen der Angeklagten und ihre Haltung gegenüber den vorgebrachten Tatvorwürfen machte Rechtsanwalt Ormond zum Gegenstand seines Plädoyers. Indem er ihre Schutzbehauptungen, die zum Zwecke der Schuldabweisung vorgetragenen Legenden, Mythen, Märchen und Ausreden, einer scharfen Analyse unterzog, zeichnete Ormond nicht nur ein treffendes Bild der Persönlichkeit der Angeklagten, er hielt auch einer ihre politische Haftung leugnenden deutschen Gesellschaft den Spiegel vor. Ormond zufolge bildeten die Auschwitz-Täter eine »verschwiegene und verlogene Gemeinschaft«[262] und kennten weder Reue noch Skrupel. Ihr schlechtes Gewissen, ihr Bewusstsein der Rechtswidrigkeit zur Tatzeit sei einer selbstgerechten Gewissenlosigkeit gewichen. Mit Blick auf die Bedeutung und die Wirkung des Prozesses, der »einmal in die Geschichte als der größte deutsche Strafprozess eingehen« werde, hob Ormond hervor, ohne das Verfahren, das »der Mitwelt« die Möglichkeit gegeben habe, »die Wahrheit über Auschwitz aus dem Munde der Überlebenden zu hören, hätten die Unbelehrbaren ihre Bagatellisierungs- und Anzweiflungsversuche fortgesetzt«.[263] Neben der »Abstrafung der Schuldigen« sei es »das große, das bleibende Verdienst dieses mustergültig, überlegen und souverän geführten Prozesses«[264], die Massenvernichtung in Auschwitz als unzweifelhafte, bewiesene historische Tatsache zum Bewusstsein gebracht zu haben. Bezüglich Capesius, »den diabolischsten« und Broad, den »zwielichtigsten und intellektuellsten […] von allen Angeklagten«[265], beantragte Ormond, Capesius wegen Mordes in mindestens 30.000 Fällen zu lebenslangem Zuchthaus in ebenso vielen Fällen zu verurteilen, Broad zu lebenslangem Zuchthaus.
6.9. Die Plädoyers der Verteidigung
Siebzehn Verhandlungstage lang plädierten die achtzehn noch im Verfahren verbliebenen Verteidiger. Die Rechtsanwälte Laternser (für Schatz, Frank und Capesius)[266] und Stolting II (für Mulka, Höcker und Bednarek)[267] haben ihre Plädoyers publiziert, Rechtsanwalt Gerhardt hat als einziger seinen Schlussvortrag (für Baretzki) zu den Akten gegeben. Der Tonbandmitschnitt enthält die Schlussvorträge von zehn Verteidigern. Aus privaten Beständen[268] liegen die Plädoyers der Rechtsanwälte Erhard (für Stark), Bürger (für Schlage), Steinacker (für Dylewski, Broad und Capesius), Knögel (für Scherpe) und Fertig (für Schlage und Klehr) vor.
Durchweg legte die Verteidigung in ihren Schlussvorträgen größtes Gewicht auf die Problematik des Beweiswertes der Zeugenaussagen. Die Beweislage war nach Ansicht der Verteidigung denkbar schlecht, die Beweisnot groß. Gute, einwandfreie Beweise konnte es der Verteidigung zufolge angesichts des Zeitablaufs nicht mehr geben, Tatsachenfeststellungen ließen sich nicht mehr treffen. Die Möglichkeit von Erinnerungsfehlern und Namen- und Personenverwechslungen, die Vermengung von tatsächlich Gesehenem und später Gehörtem wurde hervorgehoben. Nahezu alles, was die Zeugen bekundet hätten, sei überdies Hörensagen. Bei nicht wenigen Zeugen gelangten die Rechtsbeistände zu der Erkenntnis, sie hätten bewusst die Unwahrheit gesagt und Meineide[269] geschworen, seien vorvernommen worden und hätten bestellte Aussagen gemacht. Gar eine »Aussage im Komplott«[270] sei gemacht worden. Die Verwertbarkeit der Aussagen jüdischer Zeugen sah Rechtsanwalt Laternser per se in Frage gestellt, weil jüdische Zeugen eingedenk des erlittenen Schicksals des jüdischen Volkes hassende Zeugen seien. Ihr laut Laternser allzu verständlicher Hass gegen alle am Völkermord Beteiligten mache ihre Bekundungen unbrauchbar. Weiter führten Verteidiger aus, die aus dem Ausland vor dem Schwurgericht erschienenen Zeugen[271] hätten in dem Bewusstsein unwahre Aussagen gemacht, von einem deutschen Gericht wegen vorsätzlicher Falschaussage kaum belangt werden zu können. Die Tatsache, dass sich die ausländischen Zeugen schwerlich zu verantworten hätten, für ihre Aussagen nicht einstehen müssten, minderte nach Auffassung nicht weniger Verteidiger[272] den Beweiswert ihrer Aussagen erheblich. Einige Verteidiger erhoben den Vorwurf, in Frankfurt am Main sei ein »Schauprozess«[273], ein »politischer Prozess«[274], ein »Monsterprozess«[275] bzw. ein »Monstreprozess«[276] geführt worden. Gegenüber der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage wurde verschiedentlich vorgebracht, keine kritische Würdigung des Zeugenbeweises vorgenommen, die Zeugenaussagen nicht sorgfältig und gründlich genug geprüft zu haben. Insbesondere die Aussagen der ausländischen Zeugen hätten die Ankläger und Nebenklagevertreter gutgläubig für bare Münze genommen. Rechtsanwalt Laternser[277] hielt der Staatsanwaltschaft vor, die Beweiswürdigung nach der Faustregel durchgeführt zu haben, Belastungszeugen seien glaubwürdige Zeugen. Großes Gewicht legten Rechtsbeistände auf den Umstand, dass die lange Dauer des Prozesses und der Umfang des Prozessstoffes notwendig zur Folge habe, dass insbesondere die sechs Laienrichter keine sichere Erinnerungen mehr an die Aussagen der Zeugen hätten, mithin aus dem »Inbegriff der Verhandlung« (§ 261 StPO) keine sichere Überzeugungen schöpfen könnten. Laternser, der es zutiefst bedauerte, dass die Verteidigung keine gemeinsame Linie finden konnte, führte in seinem allgemeinen Plädoyer vom 10. Juni 1965[278] aus, die in Auschwitz mit RSHA-Transporten angekommenen Juden seien durch den Befehl Hitlers zur »Endlösung der Judenfrage« zur vollständigen Vernichtung bestimmt gewesen. Selektionen auf der Rampe, nach Laternser ausschließlich als Auswahl von Arbeitsfähigen unter den zum Tode verurteilten Deportierten zu verstehen, seien keine Tatbeiträge zum Mord gewesen. Die Auswahl von arbeitsfähigen Juden sei vielmehr als ein Beitrag zur Nichtausführung, zur Verweigerung von Hitlers Befehl zu bewerten, da durch die Selektion von Personen, durch die die Einweisung ins Lager erfolgte, die Zahl der in die Gaskammern verbrachten Opfer vermindert worden sei. Der »Selekteur«[279] habe nicht über Leben und Tod entschieden, sondern Leben gerettet, bedeutete doch der »Befehl, an der Rampe in Birkenau zu selektieren«[280], Menschen für die Arbeit, mithin für das Leben auszuwählen, sie also vor dem Tod in den Gaskammern zu bewahren. Eine Erklärung dafür, dass untergeordnete Stellen (zum Beispiel das Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt) angeblich Hitlers Befehl missachteten und die Auswahl von Arbeitsfähigen befahlen, obgleich ihr sofortiger Tod von Hitler entschieden worden war, gab Laternser nicht. Die Angeklagten, auch die von Laternser vertretenen, schlossen sich seiner Auffassung nicht an. Sie leugneten, wie bereits bei ihrer Vernehmung zur Sache, jegliche Beteiligung an Selektionen. Auf das schwache Argument Laternsers, durch die Mitwirkung an Selektionen Leben gerettet zu haben, wollten sie ihre Verteidigungsstrategie nicht stützen.
Die Frage nach Sinn und Zweck von NS-Prozessen stellte Rechtsanwalt Steinacker in seinem Schlussvortrag und führte aus, die von ihm vertretenen Angeklagten seien »›Regimetäter‹«[281], die staatliche Befehle im Bewusstsein der Straflosigkeit befolgt hätten. Nicht Einzelpersonen, vorgeblich die Mordgehilfen, von denen man sich im Nachhinein pharisäerhaft abwende, hätten die Verbrechen begangen. Der Staat, die Bürokratie, der »Verbrechensapparat«, habe vielmehr die Morde verübt. Das »ganze Volk« trage die geschichtliche Verantwortung, sei an den Verbrechen »beteiligt« gewesen. Die Angeklagten Dylewski und Broad, für die Steinacker zunächst plädierte, seien kleine Untergebene gewesen, die ohne jegliches Unrechtsbewusstsein gehandelt hätten. Da überdies der Beweis des Nichtvorhandenseins eines Befehls- bzw. eines Putativnotstandes nicht zu erbringen sei, müsse zugunsten der Angeklagten angenommen werden, sie hätten sich in einem sie entschuldigenden Notstand befunden.
Rechtsanwalt Erhard zufolge waren »Regierungsbefehle« keine Befehle in Dienstsachen. Die Angeklagten, die Befehle der Staatsführung befolgt hätten, seien bloße Vollstrecker gewesen, vergleichbar dem Scharfrichter, der ein von einem Gericht gefälltes Urteil vollziehe. In seinem Plädoyer für Stark, fraglos ein beeindruckendes Beispiel für die pflichtgemäße Anstrengung eines Verteidigers, Recht und Gerechtigkeit für seinen Mandanten zu erlangen, führte Erhard aus, sichere Feststellungen hinsichtlich des Vorhandenseins eines Unrechtsbewusstseins seien im Falle Stark nicht zu treffen. Stark, bereits als Jugendlicher totaler Indoktrination ausgesetzt, in einer Zeit »grenzenloser Verwirrung der Geister und Gewissen«[282] aufgewachsen, habe kein Unrechtsbewusstsein haben können. Dass er das Unrecht nicht erkannte, könne ihm nicht angelastet werden. Von der Notwendigkeit und Richtigkeit der staatlichen Maßnahmen überzeugt, handelte er im Glauben, sein Tun sei rechtens. Mit verblendetem Gewissen, bar gesunden Rechtsempfindens, habe Stark den vom BGH stipulierten »Kernbereich des Rechts« nicht kennen, wissen können. Normen, Werte außerhalb der von der Obrigkeit verordneten, durch Schulung und Belehrung eingeimpften Vorstellungswelt habe es für zur Hörigkeit erzogene Menschen wie Stark nicht gegeben.
Rechtsanwalt Fertig vertrat die Auffassung, zur Tatzeit seien die strafrechtlichen Schutzvorschriften für das Menschenleben[283] teilweise beseitigt bzw. faktisch außer Kraft gesetzt, mithin die §§ 211 u. 212 StGB[284] obsolet gewesen. Die den von ihm vertretenen Angeklagten (Klehr und Schlage) vorgeworfenen Handlungen müssten straflos bleiben, da die Strafandrohung der §§ 211 u. 212 StGB durch den als Gesetz geltenden »Führerwillen« suspendiert gewesen sei. Auch erklärte Fertig das Gericht für unzuständig. Da Staatsgewalt und Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik Deutschland mit der des NS-Staates identisch seien, könne dieselbe Staatsgewalt über Menschen nicht zu Gericht sitzen, deren Handlungen sie einst befohlen habe. In Übereinstimmung mit Laternser hob Fertig weiterhin hervor, die Klehr zur Last gelegten Selektionen[285] seien für den Tod der Lagerinsassen nicht kausal gewesen. Über die Vernichtung der Menschen sei vor allen Selektionen, mag es sich um Selektionen auf der Rampe, Lagerselektionen oder Selektionen im Häftlingskrankenbau gehandelt haben, bereits entschieden gewesen. Die auf Befehl getroffene Auswahl der Arbeitsfähigen für das Lager bzw. der Kranken zum Verbleib im HKB und der Genesenen zur Entlassung ins Lager sei nicht ursächlich für den Tod der übrigen gewesen, die im Rahmen des Vernichtungsprogramms ihren letzten Weg in die Gaskammer gehen mussten.
Die Befehle der Vorgesetzten, nach Auffassung der meisten Verteidiger fraglos Befehle in Dienstsachen, hätten die Angeklagten ihrer Gehorsamspflicht gemäß befolgen müssen. Um den verbrecherischen Charakter der Befehle hätten sie nicht gewusst, positive Unrechtskenntnis nicht gehabt. Die Angeklagten seien somit als ausführende, gehorchende Untergebene schuldlos im Sinne des § 47 MStGB.
Bis auf wenige Ausnahmen beantragten die Verteidiger für ihre Mandanten Freispruch mangels Beweises. Die Zweifel an den Aussagen der Belastungszeugen seien derart schwerwiegend, dass das Gericht zugunsten der Angeklagten sein Urteil fällen, sie mithin freisprechen müsse.
6.10. Das Letzte Wort der Angeklagten
Die Angeklagten haben in ihren Schlussworten[286], mit Ausnahme von Stark, weder Reue noch Bedauern zu erkennen gegeben, sie sahen sich frei von Schuld und stellten jede Tatbeteiligung in Abrede. Kein Wort des Gedenkens an die Opfer fiel im Gerichtssaal. Die wenigsten hielten ihr Tun für strafwürdig, keinen plagte ein schlechtes Gewissen.
Mulka legte sein »weiteres Schicksal« und das seiner »unglücklichen Familie vertrauensvoll in die Hände des hohen Gerichtes«, sprach die Erwartung und die Bitte »auf und um eine gerechte Entscheidung« aus und brachte seine »tiefe Überzeugung« zum Ausdruck, dass das Gericht »sämtliche so wahrhaft schicksalshaften Umstände, die mich damals in meine unglückselige Konfliktlage geführt haben, bis ins einzelne erwägt und berücksichtigt«. Höcker unterstrich, in Auschwitz »keinem Menschen etwas zu leide getan« zu haben und beteuerte, durch ihn sei niemand in Auschwitz umgekommen. Für Boger gab es während der »nationalsozialistischen Herrschaft« nur den »Gesichtspunkt, die gegebenen Befehle des Vorgesetzten ohne Einschränkung auszuführen«. Nicht das »Auschwitz als grausame Vernichtungsstätte des europäischen Judentums« habe »im Mittelpunkt« seiner »Betrachtungen« gestanden, »sondern allein die Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung und des Bolschewismus«. Boger brachte seine Einsicht zum Ausdruck, dass die »Idee«, der er anhing, Verderben gebracht habe und falsch gewesen sei. Stark bekannte, wie bereits in seiner ersten Vernehmung im Jahre 1959[287], seine Mitwirkung an den Tötungen in Auschwitz, verwies auf seinen unbedingten Führerglauben und auf das Fehlen jeglichen Unrechtsbewusstseins und äußerte sein Bedauern über seinen damaligen »Irrweg«. Dylewski verwahrte sich »mit allem Nachdruck« gegen die ihm zur Last gelegten Taten. Broad bestritt jedwede unmittelbare Beteiligung an der Tötung von Menschen und betonte die Unrichtigkeit der von den Zeugen vorgebrachten Belastungen. Voller Selbstmitleid sprach der Angeklagte Schoberth von seinem Schicksal als Soldat und gab dem Gericht zu bedenken, ob er und andere »nicht auch Opfer des Nationalsozialismus« seien. Eines der längsten Schlussworte trug der Angeklagte Schlage vor, ließ sich über die an seiner Familie begangenen Verbrechen »bei der Besetzung unseres Vaterlandes« aus, hielt Belastungszeugen vor, »aus Hass und Rache« falsche Beschuldigungen erhoben zu haben und schilderte beredt das Schicksal »deutscher Menschen« in einem Arbeitslager. Hofmann fand gar keine Worte. Kaduk[288] verwies auf seine Verurteilung durch ein sowjetisches Militärgericht. Für Baretzki war jeder Befehl seiner Vorgesetzten »heilig« gewesen. Nachdrücklich beteuerte er, dass niemand durch seine Hand in Auschwitz zu Tode gekommen sei. Breitwieser setzte sich ausführlich mit den gegen ihn vorgebrachten Tatvorwürfen auseinander und bekundete seine Unschuld. Lucas hob hervor, in seiner »ausweglosen Situation« auf der Rampe versucht zu haben, »möglichst viele jüdische Häftlinge dem Leben zu erhalten«, und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, das Urteil des Gerichts helfe mit, seine »Verstrickung« zu lösen und ihm einen neuen »Lebensweg« zu eröffnen. Frank bekannte, auf der Rampe gewesen zu sein, bestritt aber entschieden selektiert zu haben. Seine Aufgabe sei lediglich gewesen, »zahnärztliches Personal und […] Material« festzustellen. Schatz versicherte, niemals auf der Rampe selektiert und sich jeder Tätigkeit enthalten zu haben. Capesius erklärte, in Auschwitz »zu allen höflich, freundlich und hilfsbereit« gewesen zu sein, keinem »Menschen etwas zu leide getan«, niemals auf der Rampe selektiert und am »Häftlingsgut« sich nicht bereichert zu haben, und bat um Freispruch. Klehr reklamierte für sich, die Wahrheit gesagt und nur die Befehle der SS-Ärzte widerstrebend befolgt zu haben. Scherpe wollte keinem Menschen »ein Leid zugefügt« haben und war sich keiner »persönlichen Schuld« bewusst. Hantl ließ sich dahingehend ein, vom »ideologischen Standpunkt der reinen Vernunft […] ohne jede Rassenvorurteile, noch Standesunterschiede, noch Nationalität« gehandelt zu haben. Bednarek fühlte sich »vor Gott und den Menschen nicht schuldig«.
6.11. Das Urteil
Die Feststellung der individuellen Tatbeiträge der Angeklagten, der persönlichen Schuld des einzelnen, war Aufgabe des Schwurgerichts.[289] Aufzuklären waren Verbrechen, die vor rund zwei Jahrzehnten begangen worden waren. Als Beweismittel standen dem Gericht bei der Urteilsfindung neben den Einlassungen der Angeklagten Urkunden und Zeugen zur Verfügung.
Urkunden waren zum Nachweis der individuellen Schuld der Angeklagten kaum verwertbar.[290] Auch wenn im Verlauf der Beweisaufnahme Urkunden wie das Bunkerbuch[291], Sterbebücher[292], Fahrbefehle, Kraftfahrzeuganforderungen, Funksprüche, Fernschreiben, Medikamentenanforderungen, Überstellungslisten, Standort- und Kommandanturbefehle, der Broad-Bericht[293], das Kremer-Tagebuch[294], die Aufzeichnungen von Rudolf Höß[295] u.a. durch Verlesung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden, um z.B. die Richtigkeit von Aussagen[296] zu überprüfen, Zuständigkeiten, Dienststellungen, Unterstellungsverhältnisse und Anwesenheiten aufzuklären, so gaben die Urkunden doch keinen Aufschluss über die Beteiligung von einzelnen an bestimmten, im Eröffnungsbeschluss aufgeführten Tatvorwürfen. Gleichwohl waren die als Beweismittel von der Staatsanwaltschaft und den Vertretern der Nebenkläger zur Verfügung gestellten Urkunden wichtig. Aus diesen Beweismitteln ließen sich Erkenntnisse gewinnen, die für das zur Schuldfeststellung unerlässliche Gesamtbild grundlegend waren.
Das erkennende Gericht musste sich bei der Urteilsfindung auf den Zeugenbeweis stützen. Im Strafprozess gelten Zeugen[297] gemeinhin als das schlechteste Beweismittel. Die Zeugen hatten über Tatsachen auszusagen, die vor rund 20 Jahren Gegenstand ihrer sinnlichen Wahrnehmung gewesen waren. Der Zeitabstand zur Tat war ungewöhnlich groß, die Beweisvergänglichkeit mithin strengstens zu berücksichtigen. Die überwiegende Zahl der Zeugen war zudem unmittelbar am Geschehen beteiligt, einerseits als Mitwirkende am Tatgeschehen (SS-Zeugen), andererseits als das Geschehen Erleidende (Opferzeugen). Keiner der zum jeweiligen Beweisthema aussagenden Zeugen war neutraler, objektiver und unbeteiligter Beobachter. Die Erforschung der Wahrheit wurde dem Gericht auch dadurch erschwert, dass ehemalige Mitglieder der SS-Besatzung von Auschwitz ihrer Zeugenpflicht in geringem Maße nachkamen, ihre Pflicht zur Wahrheit wohlweislich und geflissentlich missachteten. Obschon keiner der SS-Zeugen[298] die Vorgänge leugnete, behaupteten sie durchweg Erinnerungslücken, beteuerten Nichtwissen und Unkenntnis, wenn es darum ging, die Mitwirkung eines Angeklagten an bestimmten Straftaten zu bezeichnen, die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten personenbezogen genau zu benennen. Die Überlebenden, die vernommen wurden, waren allesamt Menschen, die in der Zeit ihrer Lagerhaft Schlimmstes gesehen, beobachtet und oftmals am eigenen Leibe erlitten hatten. Versehrte, beschädigte Menschen, die größtenteils im Leben nach dem Überleben Auschwitz zu vergessen und zu verdrängen suchten, waren vor einem deutschen Strafgericht gehalten, ihr Gedächtnis bis ins Kleinste zu erforschen, um Selbsterlebtes und Gesehenes von Gehörtem und später Erfahrenem zu unterscheiden. Doch viele der schrecklichen, grauenhaften Ereignisse hatten sich unvergesslich, unvergänglich in das Gedächtnis der Überlebenden eingebrannt. Unauslöschlich eingegraben hatten sich bestimmte Taten und Täter. Dem Gericht[299] oblag es, die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Zeugen genauestens zu prüfen. Durch intensive Befragung der Zeugen versuchte das Schwurgericht, die Schuld der Angeklagten festzustellen. Geringste Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Zeugen, die größtenteils in gutem Glauben aussagten, veranlassten die Richter, eine Aussage nicht zu verwerten und zugunsten eines Angeklagten zu entscheiden. Widersprüche zwischen den in Vernehmungen im Vorverfahren gemachten Einlassungen und den vor Gericht gemachten Bekundungen versuchte das Strafgericht sorgfältigst aufzuklären. Sachlich und leidenschaftslos, klar und widerspruchsfrei, ruhig und überlegt, frei von Rache- und Hassgefühlen sollten Überlebende, die in nicht wenigen Fällen auf der Rampe Frau, Mann und Kind, Mutter und Vater, Schwester und Bruder zum letzten Male gesehen hatten, aussagen. Nicht alle der nach Frankfurt am Main gekommenen Opfer deutscher Vernichtungspolitik erfüllten die Anforderungen, die an einen als glaubwürdig und zuverlässig zu wertenden Zeugen zu stellen waren. Meist guten Glaubens, doch auch wider besseres Wissen wurden Falschaussagen gemacht. Gelegentlich gelangte das Gericht zu der Erkenntnis, dass Belastungszeugen vorsätzlich falsch aussagten. Nicht selten fabulierten Zeugen und rechneten Taten bestimmten Angeklagten zu, ohne jedoch insoweit glaubhafte Angaben machen zu können. Das Gedächtnis trog verschiedentlich, die scheinbar klare Erinnerung erwies sich bei näherer Prüfung, bei Vorhalten als unsicher und unbestimmt. Blieb ein Schuldvorwurf zweifelhaft, ließ sich mit letzter Gewissheit eine sichere Schuldfeststellung nicht treffen, sahen die Richter von einer Aussageverwertung ab. Alles, was zugunsten von Angeklagten sprach, fand die gebotene, vom Gesetz vorgeschriebene Berücksichtigung.
6.11.1. Täter, Mittäter, Gehilfe
Die Frage der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme bereitete dem erkennenden Gericht nicht geringe Mühen. Die Strafrichter erkannten, wenn befehlslos, eigenmächtig, mit einverständlichem Eifer, aus eigenem Interesse oder aus unnatürlicher Freude getötet wurde, wenn der Tatantrieb von dem Angeklagten ausging, das Verhältnis zur Tat erkennbar eng und das Interesse am Taterfolg nachweislich groß war, auf Täterschaft. Auch wer aus eigenem Ermessen über gegebene Befehle hinaus Straftaten beging, aus innerster Überzeugung die befohlenen Massentötungen bejahte, sich mit den Zielen der NS-Machthaber identifizierte, deren Ziele sich zum eigenen Anliegen machte, war dem erkennenden Gericht zufolge Täter.[300]
Bei jedem der Angeklagten war für die ihm zur Last gelegten Handlungen seine Willensrichtung[301] festzustellen. Das Gericht glaubte bei den meisten der auf Befehl handelnden Angeklagten, keinen Täterwillen erkennen zu können. Bei Angeklagten, die keine Eigeninitiative, keinen Eifer gezeigt hatten, die auf Befehl und oftmals widerstrebend, ohne die Taten innerlich zu bejahen, ohne sie sich zu eigen zu machen, an Vernichtungsaktionen mitwirkten, erkannte das Gericht auf Gehilfenschaft. Als Gehilfen hatten sie nach Auffassung des Gerichts bewusst und gewollt die Taten anderer gefördert und unterstützt.
Die Feststellung der inneren Einstellung der Angeklagten zu den Taten (innere Tatseite) auf der Grundlage der in der ständigen Rechtsprechung geltenden subjektiven Teilnahmelehre[302] erwies sich angesichts des Zeitablaufs, der Art der Verbrechen und des Tätertyps als überaus schwierig.[303] Bezüglich der Angeklagten, die auf Befehl sich an der »Massentötung jüdischer Menschen« beteiligt hatten (außer Scherpe, Hantl, Schlage und Bednarek alle verurteilten 17 Angeklagten), erkannte das Gericht nur bei den Angeklagten Stark, Kaduk und Hofmann auf Mittäterschaft. Einzig bei diesen glaubten die Frankfurter Richter unter Ausschluss jeden Zweifels auf der Grundlage des Gesamtverhaltens der drei Angeklagten festgestellt zu haben, dass sie als überzeugte Nationalsozialisten die von der Staatsführung befohlene Vernichtungspolitik innerlich bejaht hatten.[304]
Stark wurde wegen der Mitwirkung bei Vergasungen in Krematorium I (Stammlager) und in Birkenau (Bunker 1 oder Bunker 2) sowie wegen Erschießungen des gemeinschaftlichen Mordes an 342 Menschen für schuldig befunden, Kaduk wegen seiner Beteiligung an einer Lagerselektion im Stammlager des gemeinschaftlichen Mordes an 1000 Menschen und Hofmann wegen seiner Teilnahme an Selektionen auf der Rampe des gemeinschaftlichen Mordes an 2250 Menschen.
Hinsichtlich der an den befohlenen Massenverbrechen beteiligten Angeklagten Mulka und Höcker (in ihrer Funktion als Adjutanten der Kommandanten Höß bzw. Baer an maßgeblicher Stelle der Befehlskette tätig und an Selektionen auf der Rampe beteiligt), Lucas, Frank, Capesius (Rampen- und teilweise auch Gaskammerdienst) sowie Dylewski und Broad (Rampendienst) will das Gericht dagegen mit jeden Zweifel ausschließender Sicherheit keinen Täterwillen festgestellt haben. Dem Gericht zufolge hatten diese Angeklagten die ihnen nachgewiesenen, im Rahmen der »Endlösung« begangenen Taten nicht als eigene, sondern nur als fremde gewollt. Einzig Gehilfen-, keinen Täterwillen sah das Gericht für zweifelsfrei gegeben an. Das Schwurgericht verurteilte demnach als Beihelfer: Mulka und Höcker jeweils wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 3000 Menschen, Lucas, Frank und Capesius wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 4000 Menschen (im Falle Lucas), an 6000 Menschen (im Falle Frank) und an 8000 Menschen (im Falle Capesius). Dylewski und Broad hatten nach Erkenntnis des Gerichts gemeinschaftliche Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 1530 Menschen (im Falle Dylewski) bzw. 2020 Menschen (im Falle Broad) geleistet. Selbst bei den Angeklagten Boger, Klehr und Baretzki, die in einer Vielzahl von Fällen (Erschießungen nach »Bunkerentleerungen«, Tötungen bei »verschärften Vernehmungen«, »Abspritzungen«, HKB-Selektionen usw.) eigenmächtig, befehlslos und mit Eifer getötet hatten und die das Gericht deshalb wegen Täterschaft verurteilte (Boger wegen Mordes an fünf Menschen und des gemeinschaftlichen Mordes an 109 Menschen[305], Klehr wegen Mordes an 475 Menschen, Baretzki wegen Mordes an fünf Menschen), selbst bei diesen exzessiven Tätern war nach Auffassung des Gerichts bezüglich ihres befohlenen Rampendienstes und der Beteiligung an Lagerselektionen nicht mit letzter Sicherheit festzustellen gewesen, dass sie mit Täterwillen gehandelt, die Massenvernichtung als eigene Tat gewollt hatten. Nicht festzustellen sei gewesen, dass Boger, Klehr und Baretzki die befohlenen Verbrechen in Übereinstimmung mit der Staatsführung, im ideologischen Konsens mit dem Regime begangen hätten. Ihren Eifer, ihre Beflissenheit in der Befolgung der Befehle werteten die Frankfurter Richter nicht als sicheres Beweisanzeichen dafür, dass sie die Taten mit Interesse ausgeführt hatten. Ermessensspielraum, Entscheidungsgewalt und Tatherrschaft veranschlagte das Gericht bei diesen Angeklagten als gering. Boger wurde deshalb wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 1010 Menschen, Klehr wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 2730 Menschen und Baretzki wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 8250 Menschen verurteilt. Auch bei den Adjutanten Mulka und Höcker gelangten die Richter zu der Bewertung, der Ermessensspielraum sei klein gewesen. Allein dem Kommandanten sprach es eine gewisse Herrschaft über das Tatgeschehen zu.
Die in der ständigen Rechtsprechung seit den 1960er Jahren[306] vorherrschende subjektive Teilnahmetheorie führte auch im Auschwitz-Urteil zu dem Ergebnis, dass ranghohe Angeklagte in herausragenden Dienststellungen wegen Gehilfenschaft verurteilt wurden. Wer befehlsgemäß handelte, im Vernichtungsapparat reibungslos und ohne Eifer funktionierte, seinen Morddienst verrichtete, ohne sich hervorzutun, war nahezu immer bloßer Gehilfe. Da durchweg strafmildernde Gründe geltend gemacht wurden, kamen die Gehilfen mit niedrigen Freiheitsstrafen davon.
6.11.2. Unrechtsbewusstsein
Die Angeklagten handelten nach Auffassung des Gerichts im Bewusstsein des Unrechts. In positiver Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Befehle und der Tötungen hätten sie ihre Tatbeiträge geleistet. §§ 211 und 212 StGB galten dem Gericht zufolge auch im Lager Auschwitz. Eine partielle Aufhebung des Mordverbots für bestimmte Menschengruppen (Juden, Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge) habe es im NS-Regime nicht gegeben. Der »Führerbefehl«, den die Angeklagten glaubten gehorsam ausführen zu müssen, habe – so die herrschende Meinung und mithin auch das Urteil – kein Recht gesetzt, keinen Gesetzesrang gehabt, er habe die Täter nicht von geltendem Recht entbunden. Die Strafvorschriften §§ 211 und 212 StGB seien durch die von der Staatsführung gegebenen Tötungsbefehle nicht außer Kraft gesetzt worden. Mord sei strafbar geblieben, obschon er unter dem nationalsozialistischen Regime nicht verfolgbar gewesen sei. Die Angeklagten waren nach Erkenntnis des Gerichts nicht tätig im Glauben, die Befehle, die sie befolgten, seien rechtmäßig. Gerade die Art und Weise, wie die Massenvernichtung organisiert und ausgeführt (Geheimhaltung, Tarnsprache, Schweigeverpflichtung etc.) wurde, habe den Beteiligten unzweifelhaft vor Augen führen müssen, dass von Rechtmäßigkeit keine Rede sein könne, dass also die Befehle geltendes positives Recht verletzten. Die Rechtslage sei folglich für jeden eindeutig erkennbar gewesen. Die Bekundung mancher Angeklagten, kein Unrechtsbewusstsein[307] gehabt zu haben, im Bewusstsein der Rechtmäßigkeit der von der Staatsführung gegebenen und in Auschwitz von befehlsergebenen SS-Führern an sie als untergeordnete Befehlsempfänger weitergeleiteten Vernichtungsbefehle gehandelt zu haben, betrachtete das Gericht durchweg als Schutzbehauptung. Gerade die angesichts der Schuldvorwürfe verfolgte Strategie, ihre Nichtbeteiligung zu beteuern bzw. ausschließlich widerstrebend oder unter Zwang gehandelt zu haben bzw. nur dabei gestanden zu haben und gänzlich inaktiv gewesen zu sein, wertete das Gericht als sicheres Beweisanzeichen dafür, dass keiner der Angeklagten im irrigen Glauben an die Rechtmäßigkeit der praktizierten Massenvernichtung[308] gehandelt hatte. Auch habe keiner in der irrtümlichen Annahme am Tatgeschehen mitgewirkt, der Tötungsbefehl sei trotz seines erkannten verbrecherischen Zwecks verbindlich. Die Angeklagten befanden sich nach Erkenntnis des Gerichts demnach nicht in einem Verbotsirrtum, der sie entschuldigt hätte.
6.11.3. Mitverantwortung bei der Befolgung von als verbrecherisch erkannten Befehlen (§ 47 Militärstrafgesetzbuch)
Die Angeklagten gehörten (ausgenommen der Angeklagte Bednarek) der Waffen-SS an und hatten die überwiegende Zahl der ihnen zur Last gelegten Taten auf Befehl von Vorgesetzten begangen. Gemäß der »Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz« vom 17. Oktober 1939 (RGBl., Teil I, Nr. 214 (1939), S. 2107–2108) unterstanden die Angeklagten dem Militärstrafrecht. Ihre strafrechtliche Verantwortung war demnach nach § 47 MStGB[309] zu beurteilen. Laut § 47 MStGB ist für einen Befehl in Dienstsachen, durch dessen Ausführung ein Strafgesetz verletzt wird, allein der den Befehl erteilende Vorgesetzte verantwortlich. Den gehorchenden Untergebenen, den Befehlsausführenden, trifft die Strafe des Teilnehmers dann und nur dann, wenn er den verbrecherischen Charakter des Befehls erkannte, sicher darum wusste, dass der Befehl ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte, dass die Ausführung des Befehls ein allgemeines Verbrechen war. Nach Auffassung des Gerichts hatten die Angeklagten durchweg ein sicheres Wissen[310] um den verbrecherischen Charakter der Vernichtungsbefehle, waren mithin auch als befehlstreue, willfährige Untergebene für die Ausführung der verbrecherischen Befehle individuell verantwortlich. Ihre wohlfeile Berufung auf blinden Gehorsam[311], auf ihre unbedingte, strengstens geforderte Gehorsamspflicht, konnte sie nicht entschuldigen.
6.11.4. Nötigungsstand, allgemeiner Notstand (§§ 52, 54 Strafgesetzbuch)
Andere Entschuldigungsgründe waren bei der Urteilsfindung nicht zu veranschlagen. Bei keinem der Angeklagten erkannte das Gericht auf das Vorhandensein eines Notstandes. Keiner habe die Straftaten im Notstand vollzogen, der ihn nach §§ 52, 54 StGB entschuldigt hätte. Die an Selektionen von deportierten Juden beteiligten Angeklagten seien zum Rampendienst, in Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Befehle, nicht durch unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben gezwungen worden. Keinem sei durch unwiderstehliche Gewalt oder durch Drohung mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise als durch befehlsergebenes Handeln nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben wider seinen Willen das Selektieren auf der Rampe abgenötigt worden. Mithin sei der Wille der Angeklagten durch Drohung nicht gebeugt worden (Nötigungs- bzw. Befehlsnotstand, § 52 aF StGB, neu § 34 StGB).
Den Dienst auf der Rampe und bei den Gaskammern verrichteten Angeklagte nach Feststellung des Schwurgerichts auch nicht in einem unverschuldeten, auf andere Weise als durch Befehlsausführung nicht zu beseitigenden Notstand zur Rettung ihrer selbst aus einer gegenwärtigen Leibes- oder Lebensgefahr (Allgemeiner Notstand, § 54 aF StGB, neu § 34 StGB). Ebenso hätten die Angeklagten subjektiv nicht angenommen, ihnen drohe eine objektiv nicht vorliegende, also vermeintliche Gefahr für Leib oder Leben, wenn sie ihre befohlene Mitwirkung an den Vernichtungsaktionen verweigerten. Mithin seien ihre Straftaten nicht in der irrigen Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen einer Notstandslage im Sinne der §§ 52 aF und 54 aF StGB verübt worden. Die Angeklagten hätten sich also nicht in einem sie entschuldigenden Putativnotstand befunden.[312] Die Beweisaufnahme hatte ergeben, dass die Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls[313] auch in Auschwitz möglich war. Glaubwürdige, zuverlässige Zeugen bekundeten Fälle von Befehlsverweigerung, die für die Befehlsempfänger durchweg folgenlos geblieben waren. In Auschwitz wurde also keiner genötigt mitzumachen, der unbedingt und mit Entschiedenheit nicht wollte. Nachweislich gab es Versetzungen von Auschwitz, sofern die Gesuche mit dem nötigen Nachdruck betrieben wurden. Wer nicht morden, wer weg wollte, konnte dies erreichen. Schädigung an Leib oder Leben hatte er nicht zu befürchten.
Die meisten Angeklagten hatten aber gar nicht den Versuch ernsthaft unternommen, sich von Auschwitz versetzen zu lassen. Die allgemeine Rede, man müsse bleiben und dienen gerade da, wo der »Führer« einen »im Krieg« »hingestellt« habe, war nicht wenigen Angeklagten ausreichende Begründung. Da der Dienst in Auschwitz als »Frontdienst« verstanden wurde, dem man sich als »Soldat« und »Volksgenosse« nicht entziehen durfte, gaben anfangs durchaus unwillige, widerstrebende Täter alsbald alle zaghaften Anstrengungen auf, von Auschwitz wegzukommen. Überdies betrachtete die SS den »schweren« Dienst im Rahmen der von Hitler befohlenen »Endlösung« als besonders verantwortungsvollen und ehrenhaften Einsatz. Fähig zu der nach Auffassung überzeugter Nationalsozialisten geschichtsnotwendigen Tat waren nur auserlesene, zuverlässige SS-Angehörige. Zu dieser »Elite« des »Führers« zu gehören, erachteten viele als Auszeichnung. Wer sich der einmaligen geschichtlichen Aufgabe »charakterlich« nicht gewachsen sah, wer also die Ausführung der Mordbefehle verweigerte, wurde einzig als »Schwächling« qualifiziert und möglicherweise innerhalb des Lagers versetzt oder zur »kämpfenden Truppe« abkommandiert. Freilich war dort der Dienst tatsächlich nicht ohne Risiko.
6.11.5. Das Strafmaß
Die gerechte Tatschuldbewertung, die Findung einer richtigen Strafe[314], die Abwägung aller in Betracht kommenden Strafzumessungsgründe waren bei den Angeklagten, die ausschließlich auf Befehl gehandelt hatten, nicht einfach. Das Gericht verurteilte diejenigen Angeklagten, denen Täterschaft nachgewiesen werden konnte, zu lebenslangem Zuchthaus. Hofmann, Boger, Kaduk, Klehr, Baretzki und Bednarek wurden wegen Mordes, Hofmann, Boger und Kaduk auch wegen gemeinschaftlichen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Stark ausschließlich wegen gemeinschaftlichen Mordes (§ 211 StGB) in Anwendung von § 105 JGG zu zehn Jahren Jugendstrafe.
Die Morde hatten die Angeklagten (Hofmann, Boger, Kaduk, Klehr, Baretzki und Bednarek) nach Erkenntnis des Gerichts befehlslos, also eigenmächtig begangen. Die Beteiligung von Kaduk, Stark und Hofmann bei befohlenen Massenvernichtungen im Rahmen der »Endlösung« wertete das Gericht wie erwähnt als Mittäterschaft. Die Angeklagten hatten nach Erkenntnis des Gerichts die Taten als eigene gewollt. Die Teilnahme von Klehr, Boger und Baretzki an Vernichtungsaktionen bewertete das Gericht hingegen als Beihilfehandlungen.
Die übrigen Angeklagten Mulka, Höcker, Capesius, Frank, Lucas, Dylewski, Broad, Schlage, Scherpe und Hantl wurden wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu zeitigen Zuchthausstrafen verurteilt. Die Freisprüche für Schoberth, Breitwieser und Schatz, gegen die weiterhin begründeter Tatverdacht[315] bestand, erfolgten mangels Beweisen.
Für Beihilfehandlungen gilt ein Strafrahmen von drei Jahren bis zu lebenslangem Zuchthaus. Hinsichtlich des Strafmaßes hob das Gericht hervor, jedem Angeklagten einzig die »nach dem Umfang seines persönlich geleisteten, nachgewiesenen Tatbeitrages und seiner persönlich nachgewiesenen strafrechtlich wertbaren Schuld gerecht erscheinende Strafe«[316] zumessen zu können. Das Gericht machte Schuldmilderungsgründe[317] bei den als Mordgehilfen abgeurteilten Angeklagten geltend. Da die Tatantriebe zu den in Auschwitz verübten Verbrechen von der höchsten Staatsführung ausgegangen und die Angeklagten allesamt in einer Zeit »beispiellose[r] geistige[r] Verwirrung« und ideologischer Verstrickung von dem NS-Regime zu verbrecherischen Zwecken »missbraucht«[318] worden seien, sahen die Tatrichter von der Verhängung der Höchststrafe ab. Eine zeitige Zuchthausstrafe erschien dem Gericht durchweg ausreichend. War die Dienststellung niedrig wie in den Fällen Broad und Dylewski blieb das Gericht im unteren Strafrahmen (vier bzw. fünf Jahre Zuchthaus für gemeinschaftliche Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an 2020 bzw. 1530 Menschen). Agierte ein Angeklagter, obgleich in einer wichtigen Funktion, in einem bereits eingespielten Apparat, war er nach Erkenntnis des Gerichts nur ein Rad in der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz, fiel die Strafe vergleichsweise niedrig aus, auch wenn der Tatbeitrag gemessen an den Mindestopferzahlen nicht unbedeutend war. So wurde der ehemalige Adjutant Höcker, obschon der gleichen Tat wie Mulka überführt (gemeinschaftliche Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord an jeweils 3000 Menschen), nur zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Mulka, zu einer Zeit (Anfang 1942 bis März 1943) in Auschwitz tätig, als der Vernichtungsapparat erst aufgebaut wurde, hingegen zu einer doppelt so hohen Strafe (14 Jahren). Höcker, seit 1940 im KZ-Dienst tätig, ein beflissener Vollstrecker der Mordbefehle in Konzentrations- und Vernichtungslagern (u.a. Neuengamme und Majdanek), im Mai 1944, zu Beginn der Vernichtung der ungarischen Juden, nach Auschwitz versetzt, war dem Gericht zufolge in die bereits reibungslos funktionierende Todesfabrik kommandiert worden. Seinen Ermessensspielraum, seine Tatherrschaft erachtete das Gericht trotz seiner herausragenden Dienststellung deshalb als gering.
Dem Unrechtsgehalt der im Urteil festgestellten Taten der Angeklagten werden einige der verhängten Strafen schwerlich gerecht. Milde, unangebrachte Milde ist festzustellen. Sichtlich war das Gericht darum bemüht, bei Angeklagten, bei denen ausschließlich »Handeln auf Befehl« vorlag, Strafmilderungsgründe zu veranschlagen. Da die vom Gericht als Gehilfen qualifizierten Angeklagten mit dem Staat, dem treu und willig zu dienen sie als oberste Pflicht erachteten, konform gehandelt hatten, da die besonderen Umstände von Tat und Tätern zu berücksichtigen waren, die Hauptverantwortung des Verbrecherstaats, der gesamtgesellschaftliche Schuldzusammenhang in Rechnung zu stellen waren, erkannte das Gericht auf mindere Schuld der Gehilfen.
Einen gerechten Schuldausgleich stellen die milden Kriminalstrafen nicht dar. Das Rechtsempfinden der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und ihrer Angehörigen ist durch das geringe Strafmaß fraglos verletzt worden. Das erkennende Gericht hob Sühne als Strafzweck hervor. Die milden Strafen freilich, die gegen die Mordgehilfen ausgesprochen wurden, dürften für die Angeklagten kein Anlass gewesen sein, Sühnebereitschaft zu zeigen. Einen Anstoß zu Schuldeingeständnis und Schuldverarbeitung gaben sie nicht.
Die den Angeklagten im Auschwitz-Prozess nachgewiesene individuelle Schuld nimmt in Anbetracht des Gesamtgeschehens in Auschwitz eine Dimension an, die ungemessen erscheinen muss. Den ehemaligen Adjutanten Mulka und Höcker wurden vier respektive drei Fälle von Tatbeteiligung nachgewiesen, Lucas und Capesius vier, Frank sechs Fälle von Beihilfe. Addiert man die vom Gericht angeführten Mindestzahlen an Opfern, so haben 13 Angeklagte an der Tötung von 40.900 Menschen mitgewirkt. Sechs Angeklagte wurden des Mordes an 619 Menschen überführt, drei Angeklagte des gemeinschaftlichen Mordes an 3624 Menschen. Stellt man in Rechnung, dass die Dienstzeit der meisten Angeklagten weit über ein Jahr betrug, so wird deutlich, dass die den Angeklagten nachgewiesenen Tatbeiträge nur einen kleinen Teil ihrer Gesamttätigkeit in Auschwitz darstellt.
7. Das Revisionsverfahren und die Neuverhandlung gegen Lucas
Die schriftliche Urteilsbegründung war im April 1966[319] abgesetzt und lag im Oktober des Jahres den Prozessbeteiligten vor. Fünfzehn[320] der siebzehn verurteilten Angeklagten[321], die Vertreter der Nebenkläger[322] sowie die Staatsanwaltschaft[323] legten gegen das ergangene Urteil Revision ein. Mit Entscheidung vom 20. Februar 1969 (2 StR 280/67)[324] hob der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs[325] das Urteil gegen Lucas auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Frankfurter Landgericht zurück. Hinsichtlich der übrigen eingelegten Revisionen hatte das Urteil jedoch Bestand.
Die von dem Beschwerdeführer Lucas erhobene Rüge[326] der »Nicht-Anwendung der Bestimmung des Putativnotstandes« hatte nach Ansicht des Revisionsgerichts Erfolg, weil das Schwurgericht Lucas’ Einlassung, unter Zwang und Drohungen auf der Rampe selektiert zu haben, nicht lückenlos widerlegt habe. Die Tatrichter hatten dem Bundesgerichtshof zufolge unter Zugrundelegung der Feststellungen über die innere Einstellung von Lucas und bei Ausschließung des vom Angeklagten behaupteten Notstands nicht einleuchtend und schlüssig begründet, warum der Angeklagte, was er am Ende der Beweisaufnahme[327] – nach langem Leugnen jeglicher Mitwirkung – selbst zur Überraschung seiner Verteidiger eingestanden hatte, sich an Selektionen beteiligt habe. Die Bekundung des Revidenten, im Putativnotstand gehandelt zu haben, kontte folglich zugunsten des Angeklagten Lucas nicht ausgeschlossen werden.
Fünf Jahre nach der Urteilsverkündung in der Strafsache gegen Mulka u.a., am 20. August 1970, begann beim LG Frankfurt am Main das Verfahren gegen Lucas (Az.: 4 Ks 2/63). Mit Urteil vom 8. Oktober 1970[328] sprach das Schwurgericht unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Werner Baumann Lucas frei.[329] In strafrechtlicher Hinsicht war Lucas aus seinem Verhalten auf der Rampe in Birkenau, das objektiv mehrfach den Tatbestand der Beihilfe zum Mord, begangen an einer unbestimmten Vielzahl von Menschen, erfüllte, kein Schuldvorwurf zu machen. Zum einen ließ sich nach Auffassung des Gerichts nicht ausschließen, dass Lucas im Putativnotstand gehandelt habe, zum anderen sprach »eine Reihe von Umständen« dafür, »dass der Angeklagte tatsächlich im Putativnotstand gehandelt haben kann, also unter dem Eindruck einer objektiv nicht bestehenden, subjektiv aber – schuldlos – als gegeben empfundenen Zwangslage im Sinne des § 52 StGB gehandelt haben kann und somit gemäß § 52 StGB ›eine strafbare Handlung nicht vorhanden‹ ist«.[330] Lucas’ Einlassung, vom SS-Standortarzt, SS-Sturmbannführer Eduard Wirths, zum Rampendienst befohlen und von dem auf der Rampe anwesenden Kommandanten von Birkenau, SS-Hauptsturmführer Josef Kramer, zum Selektieren gezwungen worden zu sein, war »zwar nicht nachweisbar, konnte aber andererseits dem Angeklagten nicht nur nicht widerlegt werden, sondern hatte einen starken Grad von Wahrscheinlichkeit für sich«.[331] Lucas, der in der Zeit vom 24. März 1965 bis zum 26. März 1968 in Untersuchungshaft gesessen hatte, hatte keinen Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft, denn bei »aller strafrechtlich schuldlosen Verstrickung des Angeklagten«, so heißt es im Beschluss des Schwurgerichts vom 8. Oktober 1970[332], sei »sein Verhalten vom allgemeinen sittlichen Standpunkt aus doch verurteilenswert«, und es bleibe »nach den festgestellten Umständen […] eine grobe Unsittlichkeit der zur Untersuchung gezogenen Tat des Angeklagten bestehen«.
8. Zur Frage der strafrechtlichen Beurteilung der Verbrechen: Die Subsumtion von Auschwitz unter § 211 StGB
In Auschwitz wurde eigenmächtig und befehlslos gemordet. Diese Taten, begangen von tatnahen Tätern, meist unteren Chargen, lassen sich unter § 211 Strafgesetzbuch (StGB) subsumieren.[333] Die Morde fanden im Lager oder auf den Kommandos statt. Eine Vielzahl von Augenzeugen war zugegen. Die Tötungen, allesamt selbstständige, an einzelnen Opfern begangene Handlungen einzelner Täter, waren unschwer individuell zurechenbar. Die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale des § 211 StGB war in diesen Fällen sicher nachzuweisen.
In Auschwitz wurden aber auch (seit Frühjahr/Sommer 1942) auf höheren Befehl, im Rahmen eines staatlich organisierten Vernichtungsprogramms, eines von der Staatsführung initiierten und von Staatsorganen ausgearbeiteten und realisierten Gesamtplans, Massenverbrechen verübt.[334] Die in Auschwitz von SS und beauftragten Firmen erbaute Tötungsmaschinerie arbeitete effektiv durch das reibungslose, störungsfreie Funktionieren des Vernichtungsapparates, den Hunderte, Tausende SS-Männer und -Frauen gemäß ihrer Aufgabenstellung und Dienstpflichten bedienten und am Laufen hielten. Tatnah und tatfern waren die befehlsergebenen, den »Führerwillen« exekutierenden Täter, die den Tatzeugen zumeist unbekannt blieben.
Seit Anfang 1942 rollten Todeszüge nach Auschwitz. Das Judenreferat IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ordnete die Transporte an. In Zusammenarbeit mit der Reichsbahn organisierte der Leiter des Referats, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, die Sonderzüge mit den zu »evakuierenden« Juden »nach dem Osten«. In Auschwitz, das ab Anfang 1942 zu einem Tötungszentrum, zu einer Todesfabrik ausgebaut wurde, kamen 1942 nachweislich 166 RSHA-Transporte mit circa 180.000 deportierten Juden an, 1943 waren es 174 Todeszüge mit ungefähr 220.000 Juden, im Jahr 1944 beförderte die Reichsbahn mit etwa 300 Zügen rund 650.000 Opfer der »Endlösung« nach Auschwitz.[335]
Ein eingespielter Vernichtungsapparat führte die »Abwicklung« der Transporte durch. Fernschreiben und Funksprüche des RSHA kündigten der Kommandantur des Lagers die Ankunft eines Transportes an. Durch die Kommandantur erfolgten Anweisungen an die Schutzhaftlagerführung, die Politische Abteilung (Aufnahme), die Dienststelle Standortarzt, die Fahrbereitschaft, den Wachsturmbann und den Arbeitseinsatz. In jeder mit der »Abwicklung« eines Transports befassten Abteilung gab es einen Dienstplan für den »Einsatz« bei »Sonderaktionen« auf der Rampe.
Die zum Rampendienst eingeteilten Führer, Unterführer und SS-Männer hatten festgelegte Aufgaben: Sie beaufsichtigten das Gesamtgeschehen, öffneten die Türen der Waggons, forderten die eingepferchten Menschen zum Aussteigen auf, nahmen von Transportführern die Transportpapiere entgegen, teilten die Ankömmlinge in Männer, Frauen und »Arbeitsunfähige« (Alte, Kranke, Kinder) ein, formierten die Deportierten in Fünferreihen und selektierten sie, zählten sie ab, bestätigten dem Transportführer die Übernahme des Todeszuges unter Angabe der »Transportstärke«, befehligten das Aufräumungskommando auf die Rampe (die sogenannte »Alte Rampe« oder »Judenrampe«, seit Mai 1944 die »Neue Rampe« zwischen den Lagerteilen BI und BII in Birkenau) zur Übernahme der Habseligkeiten der angekommenen Juden, sperrten die Rampe ab und standen Posten, transportierten die zum Tode Verurteilten mit Lastwagen zu den Gaskammern oder führten die Opfer in Kolonnen dorthin, gaben Anweisungen, sich zum »Duschen« zu entkleiden, täuschten die Opfer mit lügnerischen Reden, schoben die Nackten in die Vergasungsräume, verriegelten die Türen, brachten mit einem Sanitätsdienstwagen (»Sanka«) Zyklon B zu den Todesfabriken, warfen das Gas ein, beobachteten den Vergasungsvorgang und den Todeskampf der Opfer durch ein Guckloch, befahlen das Öffnen der Gaskammern, stellten den Tod der Menschen fest, ordneten die Verbrennung der Leichen in den Krematorien an, kontrollierten das Ausreißen von Goldzähnen, das Abscheren von Frauenhaar, überwachten den Raub von Wertgegenständen, vermeldeten per Fernschreiben an die im RSHA sitzenden Buchhalter des Massenmordes die Gesamtzahl der Deportierten, aufgeteilt nach Männern und Frauen, führten die Anzahl der ins Lager eingewiesenen Häftlinge an sowie die Zahl der mit Gas Ermordeten, wiesen die »arbeitsfähigen« Männer und Frauen ins Lager ein, befahlen ihnen, sich zu duschen, ließen sie scheren und einkleiden, karteimäßig erfassen und tätowieren, verbrachten sie in Blocks, teilten sie Arbeitskommandos zu. In etwa 30 Monaten bzw. 900 Tagen kamen über 600 RSHA-Transporte mit etwa einer Million Juden in Auschwitz an. Tag für Tag, Tag und Nacht, rund um die Uhr, waren die zum »Rampendienst« eingeteilten SS-Leute an den Massenvernichtungen beteiligt.
Die Frage der strafrechtlichen Beurteilung der in Auschwitz begangenen Verbrechen hat Rechtsprechung und Rechtslehre beschäftigt. In einem Strafprozess hat das Gericht Tatsachen festzustellen, um gemäß des Umfangs der Tat und der Schwere der Schuld des einzelnen Angeklagten eine gerechte Strafe zuzumessen.
Die Durchführung der Massentötungen in Auschwitz, der Verwaltungsmassenmord lässt sich nicht in Einzelhandlungen jeweiliger Tatbeteiligter, in Einzeltätern individuell zurechenbare Taten, die als selbstständige Handlungen in Tatmehrheit zueinanderstehen, zerlegen.
Die deutsche Strafjustiz musste aber, da das zum Zeitpunkt der Tat geltende Strafrecht[336] den Tatbestand des Völkermords[337] nicht kannte, die unter totalitärer Herrschaft[338] begangene Kollektivkriminalität, die ›nationalsozialistischen Gewaltverbrechen‹, unter die Bestimmungen des Tatzeitgesetzes einordnen, die beispielsweise auch für den Mord an einem Kassenboten gelten.
Die in den NSG-Verfahren zum Ausdruck gekommene, auch heute noch herrschende Rechtsauffassung hat Fritz Bauer scharf kritisiert. Bauer zufolge machten die Gerichte »den Versuch, das totale Geschehen, z.B. den Massenmord an Millionen in den Vernichtungslagern, in Episoden aufzulösen, etwa in die Ermordung von A durch X, von B durch Y oder von C durch Z. Dem einzelnen Angeklagten wünschte man sein individuelles Tun im Detail nachzuweisen. Dergleichen vergewaltigt aber das Geschehen, das nicht eine Summe von Einzelereignissen war. Diese juristische Behandlung wich auch völlig von dem ab, was sonst in unseren Strafprozessen üblich, ja selbstverständlich ist. Der Auschwitzprozess war gewiss der bisher längste aller deutschen Schwurgerichtsprozesse, in Wirklichkeit hätte er einer der kürzesten sein können, womit freilich nicht gesagt sein soll, dass dies aus sozialpädagogischen Gründen auch wünschenswert gewesen wäre.«[339] Und Bauer in seiner Kritik an der herrschenden Justizpraxis weiter: »Eine Aufteilung z.B. der ›Endlösung der Judenfrage‹ oder eine Aufteilung der Beiträge der ganz überwiegenden Mehrzahl der Beteiligten – seien es Mittäter oder Gehilfen – in Episoden, die Auflösung des Geschehens und der Tätigkeit der Mitwirkenden in – im Zeitlupenstil aufzuklärende – Details ist ein historisch und rechtlich untauglicher Versuch, ja ein unmögliches Unterfangen.«[340] Die Prüfung des Einzelfalls, die Feststellung des unterschiedlichen Tatbeitrags des einzelnen Angeklagten, nach dem Gesetz erforderlich und geboten, sollte nach Bauer nicht zu einer »punktuellen Aufklärung«, einer »Atomisierung des Gesamtgeschehens«[341] führen. Das »kollektive Geschehen« dürfe nicht »durch Atomisierung und Parzellierung der furchtbaren Dinge sozusagen […] privatisier[t] und damit entschärf[t]« werden.[342]
Angesichts der Art der Verbrechen und der Besonderheit von Tat und Schuld der Beteiligten unternahm es Bauer, die Notwendigkeit einer Rechtsanschauung darzulegen, die den – im Rahmen eines staatlich organisierten, arbeitsteilig durchgeführten einheitlichen Vernichtungsprogramms – exekutierten Massenmord in seiner Totalität und Dimension angemessen zu erfassen vermag. Nach Auffassung Bauers stellte »die Tätigkeit eines jeden Mitglieds eines Vernichtungslagers […] vom Eintritt in das Lager, womit in der Regel sofort die Kenntnis von dessen Aufgabe, Tötungsmaschinerie zu sein, verbunden war, bis zu seinem Ausscheiden eine natürliche Handlung dar, was immer er physisch zur Verwaltung des Lagers und damit zur ›Endlösung‹ beigetragen hat. Er hat fortlaufend, ununterbrochen mitgewirkt. Die gesamte Tätigkeit stellt bei einer natürlichen Betrachtungsweise ein einheitliches, von Stunde zu Stunde verbundenes Tun dar. Alle Willensäußerungen sind unselbstständige Elemente einer Gesamtaktion; schon die Anwesenheit ist psychische Beihilfe, die […] gerade bei Massenphänomenen nicht vernachlässigt werden darf. Die Opfer während seines Lageraufenthalts sind ihm zuzurechnen.«[343] Ebenso: »Es gab einen Befehl zur Liquidierung der Juden in dem von den Nazis beherrschten Europa; Mordwerkzeug waren Auschwitz, Treblinka usw. Wer an dieser Mordmaschine hantierte, wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat, selbstverständlich vorausgesetzt, dass er das Ziel der Maschinerie kannte, was freilich für die, die in den Vernichtungslagern waren oder um sie wussten, von der Wachmannschaft angefangen bis zur Spitze, außer jedem Zweifel steht.«[344] Und weiter: »Zur Diskussion steht das ungeheure Verbrechen der ›Endlösung der Judenfrage‹, um den größten Komplex zu nennen. […] Entscheidend ist, dass Hitler und seine Mannen einen verbrecherischen Befehl gegeben haben und dass an der Durchführung dieses Befehls einige Leute beteiligt waren. […] Sie waren dabei und waren daran interessiert und haben mitgewirkt, diese Befehle, z.B. den Befehl zur ›Endlösung der Judenfrage‹, also zur Liquidierung aller Juden, durchzuführen.«[345]
In der Strafsache gegen Mulka u.a. machte die Staatsanwaltschaft den Versuch, die von Bauer vertretene Rechtsauffassung[346] zum Tragen zu bringen. Am 6. Mai 1965, dem Tag der Schließung der Beweisaufnahme (154. Verhandlungstag), beantragte die Strafverfolgungsbehörde gemäß § 265 Strafprozessordnung, das Schwurgericht möge »die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB (Idealkonkurrenz; W.R.) gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall, als psychische Beihilfe oder Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziert«.[347]
Im Antrag der Staatsanwaltschaft auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung vom 12. Juli 1961[348] wurden Baer u.a. unter Anführung der Strafvorschriften § 211 aF und nF, §§ 43 aF (Versuch), 47 aF (Mittäterschaft), 49 aF (Beihilfe), 74 aF (Realkonkurrenz) StGB sowie (betrifft nur den Mitbeschuldigten Stark) §§ 105 ff. Jugendgerichtsgesetz (JGG) angeschuldigt, »in Auschwitz und Umgebung […] durch mehrere selbständige Handlungen, teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen […] Menschen getötet zu haben oder dies versucht zu haben oder hierzu durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben«[349] In den Verbindungs- und Ausdehnungsanträgen vom 23. Januar 1962 für Lucas und Höcker[350], vom 14. Februar 1962 für Schlage[351] und vom 9. April 1962 für Neubert[352] führt die Staatsanwaltschaft die Strafbestimmungen §§ 211 aF u. nF, 47 aF und 74 aF StGB an. Hingegen gibt im Verbindungs- und Ausdehnungsantrag vom 28. August 1961 gegen Scherpe[353] die Strafverfolgungsbehörde neben den Strafvorschriften §§ 211 aF und nF, 47 aF und 74 aF StGB auch § 73 aF StGB an. Der Untersuchungsrichter hat in den Eröffnungsverfügungen vom 9. August 1961[354] ff. die von der Staatsanwaltschaft angegebenen Strafvorschriften aufgeführt. In der Schwurgerichtsanklage vom 16. April 1963 wurden Baer u.a. unter Anführung der Strafbestimmungen § 211 aF und nF, §§ 43 aF, 47 aF, 74 aF StGB sowie (betrifft den Mitbeschuldigten Stark) §§ 105 ff. JGG[355] beschuldigt, »in den Jahren 1940 bis 1945 im Bereich des Konzentrationslagers Auschwitz/Polen […] durch mehrere selbständige Handlungen, teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen […] Menschen getötet zu haben«.[356] Das LG Frankfurt am Main – 3. Strafkammer – hat das Verfahren am 7. Oktober 1963 nach Maßgabe der Anklageschrift eröffnet[357] und die Anklage zur Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht zugelassen.
Einen Tag nach dem Antrag vom 6. Mai 1965 begann die Anklagevertretung mit den Schlussvorträgen und legte hinsichtlich der Frage der strafrechtlichen Subsumtion ihre Rechtsansicht dar. Oberstaatsanwalt Großmann hob in seinem Einführungsplädoyer bei der Erörterung des Persönlichkeitsbildes der Angeklagten deren gewollte und bewusste Bindung an den Nationalsozialismus und die SS hervor und führte aus: »Die Angeklagten arbeiteten auf der Grundlage ihrer Anwesenheit in Auschwitz und ihrer erkannten und ernstlich unwidersprochen gebliebenen Einschaltung in das dortige Geschehen, wenn auch bei unterschiedlicher Bedeutung und Intensität ihres Einsatzes, sämtlich am Fließband der Todesmaschinerie Auschwitz. Das durch die Dauer der Anwesenheit umgrenzte Gesamtverhalten der Angeklagten in Auschwitz ist bereits insoweit als psychische Mittäterschaft bzw. Beihilfe zum Mord zu werten; es bildet eine natürliche Handlungseinheit (§ 73 StGB).«[358] Auch Staatsanwalt Vogel unterstrich in seinen Ausführungen zum Angeklagten Stark, »bei der strafrechtlichen Subsumtion« seien Starks Teilnahme an Selektionen und Vergasungen »wie überhaupt alle Tötungs- und Vernichtungsaktionen in Auschwitz als ein einheitlicher Tatvorgang im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit zu bewerten, nämlich als die schubweise Verwirklichung eines einheitlichen Vernichtungsprogramms«.[359] Ebenso führte Vogel hinsichtlich des Angeklagten Hofmann aus: »Bei der rechtlichen Subsumtion ist die Beteiligung des Angeklagten an den Vernichtungsaktionen in Auschwitz-Birkenau als eine natürliche Handlungseinheit bei der Durchführung eines einheitlichen Vernichtungsprogramms zu bewerten.«[360]
Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung bestimmte sich der Umfang der Tat des einzelnen Angeklagten nicht allein nach den auf der Basis von glaubhaften, beweiskräftigen Zeugenaussagen getroffenen tatsächlichen Feststellungen über die konkrete, nachgewiesene Mitwirkung bei der Ermordung der Opfer der einzelnen Transporte. Gaben die in der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse des Gesamtgeschehens und das auf unzweifelhaften Feststellungen sich gründende Wissen um die Funktion eines Angeklagten in der Todesfabrik klaren, jeden Zweifel ausschließenden Aufschluss über die Art und Weise seiner Mitwirkung, die Häufigkeit seiner Beteiligung[361] und die Zentralität seines Tatbeitrags, dann war ein Angeklagter nach Maßgabe dieser ihm nachgewiesenen Taten zu verurteilen. Der dem schieren Zufall geschuldete Umstand, dass es überlebende Opfer gab, davongekommene Tatzeugen des Massenmordes, war angesichts der klar feststellbaren Tatbeiträge des einzelnen Angeklagten nicht der alleinige Beweis für die Schuldfeststellung.
Die Vertreter der Nebenkläger waren unterschiedlicher Auffassung. Ormond und Raabe sprachen sich entschieden gegen die von der Staatsanwaltschaft vertretene »Theorie der sogenannten natürlichen Handlungseinheit«[362] aus. Obschon Raabe konzedierte, die »Rechtsansicht, die Anwesenheit und Tätigkeit der Angeklagten in Auschwitz als natürliche Handlungseinheit zu betrachten«, entspreche »dem berechtigten Wunsch, das Massenverbrechen und damit das Phänomen der Todesfabrik Auschwitz in einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Weise rechtlich zu erfassen«, machte er sowohl prozessuale als auch materielle Bedenken geltend. Raabe zufolge hätte die von der Staatsanwaltschaft vertretene Rechtsauffassung »auch in Anklage und im Eröffnungsbeschluss ihren Niederschlag […] finden müssen«.[363] Der am 3. und 6. Mai 1965 gemäß § 265 StPO erfolgte Hinweis seitens der Ankläger auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts habe nicht ausgereicht, den Schuldvorwurf (Anwesenheit und Funktion im Vernichtungslager) »rechtlich zulässig […] in das Verfahren […] einzuführen«.[364] Mit Bezug auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes[365], ein »allgemeiner Begriff des Massenverbrechens als einer rechtlichen Handlungseinheit« sei »für das deutsche Strafrecht nicht anzuerkennen«, machte Raabe auch materielle Bedenken geltend. Darüber hinaus hob er hervor, dass eine »gerechte Abgrenzung der Schuld des einzelnen Angeklagten lediglich aufgrund seiner Funktion im Lager praktisch nicht möglich«[366] sei.
Auch Ormond führte in seinem Schlussvortrag vom 24. Mai 1965 aus, »schon aus tatsächlichen Gründen« könne »bei dem vielfältigen Geschehen in Auschwitz, den Tötungsarten und den näheren Umständen der einzelnen Fälle von einer natürlichen Handlungseinheit nicht die Rede sein«.[367] Ebenso wie Raabe lehnte er mit Verweis auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs[368] einen allgemeinen Begriff des Massenverbrechens als rechtlicher Handlungseinheit ab und beharrte darauf, dass die Taten der Angeklagten als selbstständige, auf einzelnen Willensbetätigungen beruhende Handlungen rechtlich zu werten waren.
Nebenklagevertreter Kaul hingegen sprach sich vehement für die von der Staatsanwaltschaft vertretene Rechtsauffassung aus. In Übereinstimmung mit der Strafverfolgungsbehörde vertrat er die Auffassung, dass die Handlungen der Angeklagten, da die gleichförmigen Taten untereinander in sachlicher Beziehung stehen, als eine strafrechtliche Einheit zu bewerten seien.[369] In seiner Erwiderung vom 29. Juli 1965 auf die Schlussvorträge der Verteidigung ging er ausführlich auf die Frage der Subsumtion der zur Verurteilung anstehenden Taten der Angeklagten ein. Kaul zufolge lag angesichts der im Rahmen eines einheitlichen Vernichtungsprogramms geleisteten Tatbeiträge der Angeklagten eine einmalige Tatbestandserfüllung vor. Da die Angeklagten »in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang, nämlich während ihrer Zugehörigkeit zum Befehlsbereich des SS-Standortes Auschwitz, mit einem und demselben, gleichbleibenden Betätigungswillen handelten, nämlich mit dem Willen zur Mitwirkung an der Verwirklichung des einheitlichen nazistischen Massenvernichtungsprogramms«, seien die in der Beweisaufnahme »festgestellten, strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen der Angeklagten rechtlich jeweils als eine natürliche Handlungseinheit anzusehen«[370] Die Annahme vieler einzelner, von Tatbeteiligung zu Tatbeteiligung sich neu äußernden Willensbetätigungen war Kaul zufolge verfehlt. Unter Bezugnahme auf die von Raabe/Ormond gegen die Auffassung der Staatsanwaltschaft angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der Richter dürfe bei der rechtlichen Würdigung der Taten sich nicht »von einer in ihren Grenzen unklaren Gesamtvorstellung beeinflussen«[371] lassen, hob Kaul hervor, es gehe »nicht darum, die konkrete Tatsachenfeststellung durch die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit zu ersetzen«, vielmehr handele es sich darum, »die in Umfang und Ausmaß in der Beweisaufnahme exakt festgestellten einzelnen, strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen juristisch richtig als eine natürliche Handlungseinheit zu qualifizieren«. Nur dadurch könne auch »der Umfang der Schuld und die Schwere der Tat der einzelnen Angeklagten richtig gewürdigt werden«.[372] Die richtige juristische Qualifizierung der Verbrechen hielt Kaul auch im Hinblick auf Sinn und Zweck des Auschwitz-Prozesses für grundlegend.
Die Verteidigung verwarf naheliegenderweise die Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft. Rechtsanwalt Steinacker hob hervor, die »Theorie der natürlichen Handlungseinheit« führe »zu einer uferlosen Ausweitung des Verfahrens«, zu einer »völligen Verwässerung und Aushöhlung des Sinnes und Zwecks der Vorschrift des § 207 StPO«.[373] Laternser erblickte einen Widerspruch in den Ausführungen der Staatsanwaltschaft. Hätten bisher die Ankläger den Schuldvorwurf erhoben, Rampendienst sei Mitwirkung an Selektionen gewesen, betrachteten sie nunmehr das »bloße Dortsein auf der Rampe«, das »bloße Herumstehen an der Rampe« als »Beteiligung in Form der Mittäterschaft«.[374] »Das bloße Dortsein – ohne irgendeine Tätigkeit – kann«, so legte Laternser dar, »rein begrifflich keine Teilnahme an einer strafbaren Handlung darstellen. Strafbar ist immer nur eine vorwerfbare Handlung des Täters, die als historischer Vorgang und als Geschehen in einem Tun oder Unterlassen bestehen kann.«[375] Rechtsanwalt Erhard hielt der Staatsanwaltschaft »allgemeine Verurteilungen« und »allgemeine Beurteilungen« vor und betonte, die »bloße Anwesenheit auf der Rampe«[376] könne Mittäterschaft nicht begründen.
Das Schwurgericht betrachtete gemäß der höchstrichterlichen Judikatur Hitler, Himmler, Göring, Heydrich u.a. als Haupttäter, die die »Tötungen der jüdischen Menschen im Rahmen der sog. ›Endlösung der Judenfrage‹ geplant, die organisatorischen Voraussetzungen hierfür geschaffen und ihre Durchführung angeordnet«[377] hätten. Obgleich die in Ausführung des vom Gericht angenommenen Geheimbefehls Hitlers[378] durchgeführten »massenweisen Tötungen der jüdischen Menschen während eines Zeitraumes von mehreren Jahren auf einem Willensentschluss und einer Willensäußerung Hitlers«[379] beruht hätten, könnten »die gesamten Vernichtungsaktionen nicht als eine einzige Handlung angesehen werden«, da das deutsche Strafrecht den Begriff des Massenmords nicht kenne. Das Schwurgericht hielt die von der Staatsanwaltschaft mit Antrag vom 6. Mai 1965 vorgetragene Auffassung, »die Massentötungen jüdischer Menschen im Rahmen der sog. ›Endlösung der Judenfrage‹ rechtlich als eine einzige Handlung im Sinne einer gleichartigen Idealkonkurrenz (§ 73 StGB) anzusehen«[380] für »grundsätzlich möglich«, sie erschien ihm aber »aus tatsächlichen Gründen« unzutreffend.
Der Vernichtungsprozess stellte sich den Tatrichtern wie folgt dar: »Die Auslösung der einzelnen Aktionen in den verschiedenen Ländern Europas bedurfte einer Vielzahl von Willensentschlüssen der verschiedensten Personen in den oberen, mittleren und unteren zuständigen Dienststellen und jeweils eines besonderen Einsatzbefehles. Mit der Durchführung der Aktionen war eine Vielzahl von Personen befasst, die sich ebenfalls jeweils auf Grund besonderer Willensentschlüsse zur Mitwirkung bereitfanden. Die Tötungsaktionen selbst erfolgten nicht einheitlich und erforderten unzählige Willensbetätigungen einer großen Anzahl von Personen.«[381] Hinsichtlich der Tötungszentren und der Tätigkeit des SS-Personals gelangte das Gericht zu der Feststellung: »In den verschiedenen Vernichtungslagern wurden die Juden auf verschiedene Weise umgebracht, teils durch Erschießen, teils in Gaswagen, teils in festen Gaskammern wie im Konzentrationslager Auschwitz. Das Einwerfen des Zyklon B erforderte jeweils einen besonderen Entschluss und besondere Willensbetätigungen der damit beauftragten Personen. Die Orte der Vernichtung lagen weit auseinander. Die Aktionen selbst erstreckten sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang fehlt daher. Auch kann nicht von einem Ineinandergreifen der verschiedenen einzelnen Aktionen gesprochen werden.«[382]
Das Schwurgericht hat die Shoah nicht als Ganzes, auch den in Auschwitz durchgeführten Massenmord nicht als eine im Rechtssinne einzige Handlung betrachtet, das Gericht sah vielmehr in der Vernichtung eines RSHA-Transportes im Sinne des § 73 aF StGB eine gleichartige Tateinheit, insofern eine jede einzelne »Abwicklung« eines Transportes als eine einheitliche Handlung anzusehen sei, durch die § 211 StGB (i.S. der Idealkonkurrenz) mehrfach verletzt[383] sei. Die Vernichtung der mit einem Todeszug nach Auschwitz verbrachten Juden war nach Auffassung des Gerichts bei natürlicher Betrachtungsweise gegenüber allen vorausgegangenen und allen späteren Transporten als selbstständige Handlung anzusehen, weil die einzelnen Vernichtungsaktionen »jeweils durch besondere Willensbetätigungen der zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen und insbesondere der mit dem Einwerfen des Zyklon B beauftragten SS-Männer«[384] erfolgt seien. Die Beteiligung an der einen Transport umfassenden Vernichtungsaktion sei mithin als besondere Willensbetätigung des einzelnen SS-Mannes, zu der er sich von Dienst zu Dienst jeweils neu habe entschließen müssen, zu betrachten. Die einzelne Mitwirkung an der Vernichtung von Juden eines RSHA-Transports stelle eine im Sinne des § 74 aF StGB selbstständige Handlung, einen Mord dar, begangen in gleichartiger Tateinheit an einer vom Gericht angenommenen Mindestzahl von Menschen, die aus dem Transport direkt in die Gaskammer verbracht worden waren.
Die Staatsanwaltschaft machte in ihrer Revisionsbegründung den abermaligen Versuch, ihrer Rechtsanschauung Geltung zu verschaffen. In der mit der Revision vom 25. August 1965[385] erhobenen Rüge der Verletzung materiellen Rechts bezog sich die Anklagevertretung auf den Antrag vom 6. Mai 1965 und führte in ihrem Schriftsatz vom 9. Mai 1967[386] aus, dass der »Wertung des Schwurgerichts, die von den Angeklagten begangenen strafbaren Handlungen seien als Einzelhandlungen im Sinne des § 74 StGB anzusehen, […] rechtliche Bedenken«[387] entgegenstünden. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft war das historische Ereignis Auschwitz »nur bei Zugrundelegung einer natürlichen Handlungseinheit […] zutreffend zu subsumieren«. Da das »besondere Geschehen in Auschwitz […] ein in sich geschlossener Teil« des nationalsozialistischen »Vernichtungsprogramms« gewesen sei, müssten »die gesamten strafbaren Handlungen jeweils für den einzelnen Angeklagten als in natürlicher Handlungseinheit begangen angesehen werden«. Wer bei Vernichtungsaktionen zugegen gewesen sei, wie der vom Schwurgericht freigesprochene 2. Lagerzahnarzt Schatz, von Februar 1944 bis Januar 1945, d.h. in der Zeit der »Ungarn-Aktion«, in Auschwitz tätig, könne unter Geltendmachung dieser Rechtsanschauung nicht straffrei bleiben. Mit ihrer mit den Anträgen vom 3. und 6. Mai 1965 und mit dem Schriftsatz vom 9. Mai 1967 vertretenen Rechtsauffassung stand die Frankfurter Staatsanwaltschaft, das Lager Auschwitz betreffend, gegen die herrschende Meinung.[388]
In einem auf der Sonderveranstaltung des 46. Deutschen Juristentages in Essen 1966 gehaltenen Vortrag über »Prozessrechtliche Probleme und praktische Schwierigkeiten bei der Durchführung der Prozesse« führte Hans Hofmeyer aus, die von der Strafverfolgungsbehörde vertretene Auffassung »würde den rechtsstaatlichen Grundsätzen und Erfordernissen unserer Strafprozessordnung gewiss nicht gerecht«.[389] Bauers Ausführungen (ohne Namensnennung und Quellenangabe) zitierend, wonach der Mitwirkung am Mord schuldig sei, wer an der Mordmaschinerie[390] hantiert habe, spricht Hofmeyer von einem »summarische[n] Verfahren« und führt aus: »Jeder Angeklagte hat nicht nur das Recht, vom Gericht gehört zu werden, wenn er behauptet und dartun will, er sei nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl Regierender tätig geworden, er habe ihre Ziele nicht rechtzeitig durchschaut, sie sich nicht zu eigen gemacht, oder er sei einem Zwang im allgemeinen oder im besonderen erlegen; es muss darüber hinaus auch geprüft werden, inwieweit das Tätigwerden des Einzelnen überhaupt kausal für den Enderfolg des Todes der Opfer gewesen ist. Gerade mit Rücksicht auf die Feststellung der Mitverantwortung von Staat und Gesellschaft […] muss unter allen Umständen das rechtsstaatlich geordnete Verfahren eingehalten werden, um in größtmöglichem Umfange allen Umständen von Tat und Tätern Rechnung zu tragen.«[391]
Der Bundesgerichtshof hat die in der Revisionsrüge vom 9. Mai 1967 gemachten Ausführungen der Staatsanwaltschaft zu Recht mit Bauers Aufsatz über Ideal- und Realkonkurrenz bei NS-Verbrechen in Zusammenhang gebracht, wenn er im Revisionsurteil vom 20. Februar 1969 (Az.: 2 StR 280/67) darlegt: »[…] in Übereinstimmung mit Bauer« meint die Revision der Staatsanwaltschaft, »dass jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert war und dort irgendwie anlässlich dieses Programms tätig wurde, sich objektiv an den Morden beteiligt hat und für alles Geschehene verantwortlich ist«. Dem Bundesgerichtshof zufolge ist »diese Ansicht […] nicht richtig. Sie würde bedeuten, dass auch ein Handeln, das die Haupttat in keiner Weise konkret fördert, bestraft werden müsste. Folgerichtig wäre auch der Arzt, der zur Betreuung der Wachmannschaft bestellt war und sich streng auf diese Aufgabe beschränkt hat, der Beihilfe zum Mord schuldig. Dasselbe gälte sogar für den Arzt, der im Lager Häftlingskranke behandelt und sie gerettet hat. Nicht einmal wer an seiner Stelle dem Mordprogramm kleine Hindernisse, wenn auch in untergeordneter Weise und ohne Erfolg, bereitet hätte, wäre straffrei. Das ist nicht angängig. Die Revision kommt auf dem Umweg über den Begriff der natürlichen Handlungseinheit zu der Annahme eines Massenverbrechens, die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs immer abgelehnt worden ist […]«.[392] Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs über die in Auschwitz verübten Massenverbrechen verdeutlichen, dass die auf der Grundlage der herrschenden Judikatur vorgetragene Interpretation von Auschwitz gerade die von Bauer kritisierte »Atomisierung« des Gesamtgeschehens vornimmt. »In Auschwitz handelte es sich, was die Angeklagten betrifft, nicht um einen fest umgrenzten, abgeschlossenen Tatkomplex eines einzigen bestimmten Täters, sondern um Tötungen aus den verschiedensten Beweggründen, zum Teil auf Befehl, zum Teil durch eigenmächtiges Handeln, zum Teil als Täter, zum Teil als Gehilfe, wobei zwischen den Tatkomplexen oft große Zeiträume liegen und die Tatkomplexe sich wesentlich voneinander unterscheiden.«[393]
Die vom Bundesgerichtshof vorgebrachten Bedenken resultieren teilweise aus einer die Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft stark vereinfachenden Interpretation. In seinem Plädoyer zum Angeklagten Stark führte Staatsanwalt Vogel im Zusammenhang mit der rechtlichen Würdigung von Starks Beteiligung an Selektionen und Vergasungen aus, dass die genaue Feststellung des Umfangs der Tat geboten sei. Vogel, wie auch Kaul, zieht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs heran, der Richter dürfe bei der Würdigung des Umfangs der Schuld oder der Schwere der Tat eines Angeklagten sich nicht von einer »unklaren Gesamtvorstellung«[394] beeinflussen lassen. In strikter Ablehnung eines zu weit gefassten Begriffs der natürlichen Handlungseinheit legte der Bundesgerichtshof – wie bereits ausgeführt – fest, Schuldspruch und Strafe dürften sich nur auf bestimmte Tatsachen stützen, »von deren wirklichem Geschehen« der Tatrichter »eine an die volle Gewissheit grenzende eigene Überzeugung gewonnen haben«[395] müsse. Eben dies betonte Vogel explizit, indem er ausführte, der Angeklagte Stark solle und dürfe »nicht nach gefühlsmäßigen Erwägungen bestraft werden«, Grundlage einer Verurteilung könne »nur die sichere Überzeugung von dem Umfang der Verbrechen sein«[396], weshalb bei der Urteilsfindung »die Mindestzahl der Opfer zugrunde gelegt werden« müsse, »wie sie sich für den Angeklagten aus den zu seiner Tätigkeit in Auschwitz getroffenen Feststellungen in Verbindung mit den allgemeinen Angaben über die Anzahl der in dieser Zeit getöteten Menschen«[397] ergebe. Von einer unzulässigen Ausweitung des Begriffs der natürlichen Handlungseinheit in der von der Strafverfolgungsbehörde vorgetragenen Rechtsauffassung kann somit keine Rede sein.
Nicht wer »irgendwie« in Auschwitz tätig bzw. bloß anwesend war, sollte seiner gerechten Strafe im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens zugeführt werden. In allen im Auschwitz-Prozess zur Aburteilung anstehenden Fällen war die Staatsanwaltschaft in der gebotenen Sorgfalt darum bemüht, tatsächliche Feststellungen zu treffen und die Tatbeiträge der einzelnen Angeklagten im Rahmen des Gesamtgeschehens in Auschwitz und des Gesamtverhaltens der Angeklagten zu bewerten. Folgerichtig beantragte die Strafverfolgungsbehörde im Falle des in der Politischen Abteilung (Standesamt) tätigen Angeklagten Schoberth gemäß § 47 Abs. 2 MStGB von einer Strafe abzusehen und den Haftbefehl aufzuheben, weil der Angeklagte, obgleich in seiner »Anwesenheit« in Auschwitz »eine psychische Beihilfe zu den während dieser Zeit als Teil des allgemeinen Vernichtungsprogramms begangenen Tötungshandlungen«[398] liege, eine »völlig untergeordnete Stellung ohne eigene Machtbefugnisse« gehabt und »niemals eigene Initiative entwickelt und sich nicht aktiv an den Vernichtungsaktionen beteiligt«[399] habe. Eine Förderung der Taten durch konkrete, festgestellte Handlungen war Schoberth nicht nachzuweisen.
Ganz anders bewertete die Staatsanwaltschaft das Maß der Schuld des Angeklagten Stark. Als Leiter des Aufnahmereferats an zentraler Stelle im Vernichtungsapparat tätig, war Stark in die Tötungsaktionen maßgeblich eingebunden, leistete nachweislich konkrete Tatbeiträge. Die in der Zeit seiner Anwesenheit in Auschwitz getöteten Opfer waren ihm deshalb nach Auffassung der Staatsanwaltschaft unter der Zugrundelegung einer absoluten Mindestzahl individuell zuzurechnen.
Eine und dieselbe Handlung kann mehrere verschiedene Strafgesetze (ungleichartige Tateinheit) oder dasselbe Strafgesetz mehrfach (gleichartige Tateinheit) verletzen. Den Begriff der natürlichen Handlungseinheit hat die Rechtsprechung »allmählich in sachgerechter erweiternder Auslegung des Begriffs ›ein und dieselbe Handlung‹ im Sinne des § 73 StGB entwickelt«[400], den dem »deutschen Strafrecht seit jeher geläufigen Begriff der natürlichen Handlungseinheit«[401] aber eng ausgelegt und sich gegen jede Erweiterung des Begriffs[402] ausgesprochen. Ob im Rechtssinne eine oder mehrere Handlungen vorliegen, hängt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs davon ab, »ob im natürlichen Sinne eine Handlung, nämlich eine Willensbetätigung, vorliegt oder ob mehrere Willensbetätigungen gegeben und rechtlich zu beurteilen«[403] sind. Die Fälle, in denen eine Mehrheit von Willensbetätigungen eine natürliche Handlungseinheit bilden und sich rechtlich zu einer einheitlichen Handlung, zu einer Handlung zusammenfassen lassen, hat der Bundesgerichtshof klar begrenzt. Das Reichsgericht führte aus, dass der »Wille, durch eine Mehrheit von Willensbetätigungen eine bestimmte als Erfolg des Handelns ins Auge gefasste Einwirkung auf die Außenwelt zu erzielen, […] die Handlungseinheit«[404] ergebe und legte fest, dass eine »natürliche Handlungseinheit […] einen […] unmittelbaren Zusammenhang« erfordere, dass sich »das gesamte Tätigwerden an sich (objektiv) auch für einen Dritten als ein einheitliches zusammengehöriges Tun bei natürlicher Betrachtungsweise erkennbar«[405] mache. Das Vorhandensein eines unmittelbaren, engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs der Handlungen[406], die Einheitlichkeit und Einmaligkeit des Willens[407], die Gleichartigkeit der Betätigungen[408] und die Einheitlichkeit des Ziels qualifizieren eine Mehrheit von Handlungen als Handlungseinheit.[409]
Bei Zugrundelegung einer Rechtsauffassung, die im und durch das Recht auch Gerechtigkeit herzustellen versucht, bleibt festzuhalten: Wer an zentraler Stelle im Vernichtungsapparat fungiert und bewusst und gewollt einen kausalen Tatbeitrag geleistet hat, ist schuldig. Wer in Auschwitz Dienst tat, funktionaler Teil des Vernichtungsapparats war, hat in der Zeit seiner Anwesenheit fortwährend Beiträge zu einer Tat geleistet. Im Rechtssinn ist der in Auschwitz begangene Massenmord eine Tat. Jede Teilnahme an den Tag für Tag durchgeführten Mordaktionen ist als in natürlicher Handlungseinheit geleisteter Tatbeitrag zu betrachten. Die Tatbeiträge des einzelnen in der Todesfabrik tätigen SS-Angehörigen waren innerlich und äußerlich gleichartige, routiniert und eingespielt ablaufende Betätigungen, die auf einer gemeinsamen, einheitlichen inneren Einstellung, einem einheitlichen Täterwillen beruhten.
Zweck und Ziel aller Einzelakte, aller Mitwirkung an den Massenverbrechen war der Tod der Menschen. Die Besonderheit der Tatbeteiligung im funktionierenden, von gehorsamen Befehlsempfängern bedienten Tötungsapparat liegt gerade darin, dass den Opfern und Tatzeugen zumeist anonym bleibende Täter geschäftsmäßig, nach Dienstplan, ihr Vernichtungswerk verrichteten. Sie handelten in Befolgung eines Befehls in organisierter, geplanter Art und Weise zur Erreichung eines bestimmten, auch von ihnen gewollten Ziels. Das einheitliche Vernichtungsprogramm qualifiziert die Einzelhandlungen als kausale Tatbeiträge zu einem Massenverbrechen.
Stand: September 2013
- Siehe hierzu grundlegend Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München: Oldenbourg Verlag, 2012.
- Siehe hierzu Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Karlsruhe: C. F. Müller Juristischer Verlag, 1979, S. 47.
- Siehe grundlegend Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: Verlag C. H. Beck, 1996 und Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg u.a.: Rasch und Röhring Verlag, 1987.
- Robert M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, in Zusammenarbeit mit Jörg Friedrich, Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein Verlag, 1983, S. 386–399.
- Siehe Anklageschrift und Urteil in: H. G. van Dam, Ralph Giordano (Hrsg.), KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten, Bd. 1, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1962, S. 9–149.
- Siehe das Urteil in: H. G. van Dam, Ralph Giordano (Hrsg.), KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten, Bd. 2, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1966 und in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungs-verbrechen 1945–1966, hrsg. von C. F. Rüter u.a., Amsterdam: University Press Amsterdam, 1976, Bd. XV, Lfd. Nr. 465, S. 1–265; BGH-Urteil vom 23.2.1960, ebd., S. 266–274.
- Siehe hierzu Adalbert Rückerl, »NS-Prozesse: Warum erst heute? – Warum noch heute? – Wie lange noch?«, in: ders. (Hrsg.), NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglichkeiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe: Verlag C. F. Müller Verlag, 1971, S. 20 f.
- Siehe Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland seit 1945. Unter Mitwirkung der Landesjustizverwaltungen und der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg zusammengestellt im Bundesjustizministerium, Bonn 1964, S. 47–52 sowie Albrecht Götz, Bilanz der Verfolgung von NS-Straftaten, Köln: Bundesanzeiger, 1986, S. 33–88.
- Siehe die fundierte Darstellung bei Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen: Wallstein Verlag, 2004, S. 143 ff.
- Zur Geschichte der Zentralen Stelle siehe Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008.
- Erwin Schüle, »Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg«, in: Juristenzeitung, Jg. 17 (1962), Nr. 8, S. 242. – Zur Geschichte der Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen siehe vor allem die beiden Dokumentationen von Adalbert Rückerl, Strafverfolgung und ders., NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Karlsruhe: C. F. Müller Juristischer Verlag, 1982 sowie aus der Sicht des überlebenden Opfers und kritischen Beobachters Hermann Langbein, Im Namen des deutschen Volkes. Zwischenbilanz der Prozesse wegen nationalsozialistischer Verbrechen, Wien: Europa Verlag, 1963.
- Siehe hierzu z.B. Anton Hoch, »Die Zusammenarbeit des Institut für Zeitgeschichte in München mit den Gerichten und Staatsanwaltschaften in Verfahren wegen NS-Verbrechen«, in: Niederschrift über die fünfte Arbeitstagung der in der Bundesrepublik Deutschland mit der Strafverfolgung von NS-Verbrechen befassten Staatsanwälte in Mannheim vom 21. bis 24. April 1970, Ludwigsburg: Zentrale Stelle, o. J., S. 186–209 und den »Vermerk über eine Besprechung der altpolitischen Dezernenten der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht und der Staatsanwaltschaften Frankfurt (M.) und Wiesbaden vom 7. November 1962 bei Herrn Generalstaatsanwalt Dr. Bauer« (Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden, Abt. 631a, Nr. 1800, Bd. 84, Bl. 85–92). An der Besprechung nahmen seitens des Instituts für Zeitgeschichte Helmut Krausnick, Martin Broszat, Hans Buchheim und Helmut Heiber teil. Siehe Norbert Frei, »Der Frankfurter Auschwitz-Prozess und die deutsche Zeitgeschichtsforschung«, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung, Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1996, S. 123–138. Zur Tätigkeit des Gutachters Wolfgang Scheffler siehe Helge Grabitz u.a. (Hrsg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin: Edition Hentrich, 1994 und Helge Grabitz, Justizbehörde Hamburg (Hrsg.), Täter und Gehilfen des Endlösungswahns. Hamburger Verfahren wegen NS-Gewaltverbrechen 1946–1996, Hamburg: Ergebnisse Verlag, 1999.
- Aleksander Lasik, »Die Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung der Mitglieder der SS-Truppe des KL Auschwitz. Verfahren. Fragen zu Schuld und Verantwortung«, in: Hefte von Auschwitz, H. 21, 2000, S. 227. Siehe zum Personal von Auschwitz umfassend: Ernst Klee, Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2013.
- Ebd.
- Ebd., S. 238. Das Urteil in Prozess gegen Liebehenschel u.a. findet sich in deutscher Übersetzung in den Akten 4 Ks 2/63, Bd. 47, Bl. 8291–8513 d. A.
- Siehe hierzu die Studie von John Cramer, Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen, Göttingen: Wallstein Verlag, 2011.
- Siehe »The Belsen Trial«, in: Law Reports of Trials of War Criminals. Selected and prepared by the United Nations War Crimes Commission, London 1947, Vol. XII, S. 1–156. Die Todesurteile wurden am 13.12.1945 in Hameln vollstreckt.
- Siehe Holger Lessing, Der erste Dachauer Prozess (1945/46), Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1993.
- Urteil, in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966. Hrsg. von C. F. Rüter u.a., Amsterdam: University Press Amsterdam, 1968 ff., Bd. X, Lfd. Nr. 340, S. 347–391, Bd. XIV, Lfd. Nr. 462/1, S. 733–738, Bd. XVI, Lfd. Nr. 483, S. 61–76. Siehe hierzu Werner Renz, »Selektive Sühne. Anmerkungen zum ersten westdeutschen Prozess gegen einen Auschwitz-Täter«, in: Newsletter. Informationen des Fritz Bauer Instituts, Nr. 32, Frühjahr 2008, S. 10–14.
- Urteil, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XI, Lfd. Nr. 379, S. 497–658.
- Urteil, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. X, Lfd. Nr. 346, S. 513-524.
- Urteil, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XV, Lfd. Nr. 468, S. 319-330.
- Urteil, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XVII, Lfd. Nr. 500, S. 1-50.
- Siehe sein Tagebuch in: KL Auschwitz in den Augen der SS. Höss-Broad-Kremer, Oświęcim: Verlag Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1973, S. 201-286.
- Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 1–2R (fortan werden die Akten der Frankfurter Verfahren nur mit der Angabe des Aktenzeichens zitiert. Beziehen sich die Quellennachweise nicht auf die Hauptakten, wird die Quellensorte (z.B. Handakten) ausdrücklich gekennzeichnet).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 48R.
- Siehe die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft (= StA) Stuttgart vom 6.11.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 244–246). Am 15.7.1958, das Ermittlungsverfahren gegen Boger war kaum eingeleitet, wurde Rögner vom LG München I »wegen fortgesetzter falscher Anschuldigung und Meineids« (ebd., Bd. 2, Bl. 244) zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der StA Stuttgart zufolge ergibt sich aus dem Urteil, »dass Rögner als Belastungszeuge in Verfahren gegen KZ-Personal offensichtliche Lügen aus Hass und Rachsucht vorgetragen hat« (ebd., Bd. 1, Bl. 39).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 3.
- Ebd.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 4.
- Boger war, wie Hermann Langbein durch eine Anfrage beim Bürgermeisteramt Hemmingen in Erfahrung brachte, seit Mitte 1951 eben dort polizeilich gemeldet (Schreiben Bürgermeisteramt Hemmingen vom 22.11.1958 an Langbein (Österreichisches Staatsarchiv (= ÖStA), E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 27). Zuvor lebte Boger in der Nähe von Crailsheim und von Wetzlar.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 44. Mit Schreiben vom 25.8.1958 bat der Zentralrat um nähere Auskünfte über Boger, um eventuell ein »Rundschreiben« an die Landesverbände und jüdischen Gemeinden richten zu können (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 46). Mit Schreiben vom 29.8.1958 kam Staatsanwalt (= StA) Weber der Bitte nach. Webers Anfangssatz (»Nach der Anzeige eines allerdings äußerst unzuverlässigen Zeugen, der wegen Falschaussagen in ähnlichem Zusammenhang gerichtlich mit Zuchthausstrafe bestraft wurde […]« (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 58)) verdeutlicht die Schwierigkeit, die die Staatsanwälte mit Rögners Anzeige hatten. Siehe auch Schreiben des Zentralrats vom 8.10.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 145).
- Bereits Mitte 1960 wurde Langbein, der sich vom Kommunismus abgewandt hatte und 1958 aus der Kommunistischen Partei Österreichs ausgeschlossen worden war, auf der Generalversammlung des IAK (25.–27. Juni 1960) »in einer Kampfabstimmung« (Brief Langbeins vom 7.7.1960 an Raja Kagan, ÖStA, E/1797; Nachlass Langbein, Ordner 52) aus politischen Gründen als Generalsekretär abgewählt, das »Generalsekretariat« wurde von Wien nach Warschau verlegt. Langbein blieb noch ein Jahr Leitungsmitglied des IAK. Im Juli 1961 legte er alle Funktionen im IAK nieder.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 53-56R.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 7. Die Vernehmung Rögners blieb die einzige, die die StA Stuttgart bis zur Inhaftnahme Bogers selbst vorgenommen hat. Alle anderen von der StA bis zur Verhaftung Bogers in Auftrag gegebenen Vernehmungen waren polizeiliche.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 8-21.
- Siehe Rögners Schreiben an Langbein vom 17.4.1958 (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein,Ordner 28).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 22a.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 27.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 31.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 32. In seiner Aussage bezeugte Langbein, Boger habe einen polnischen Häftling in den Stehbunker (von Block 11, Stammlager) eingewiesen, der später an der Schwarzen Wand liquidiert worden sei. Weiter habe er während seiner Haft im Bunker 11 (Ende August 1943 bis Anfang November 1943) sechs Selektionen, sogenannte Bunkerentleerungen, erlebt, bei denen der Beschuldigte Boger zugegen gewesen sei. Die von einer Kommission ausgewählten Insassen des Bunkers seien großenteils an der Schwarzen Wand erschossen worden.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 34. Siehe auch sein Schreiben vom 9.7.1958 an das baden-württembergische Justizministerium (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 97).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 35.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 36-37.
- Siehe hierzu von Miquel, Ahnden oder amnestieren? S. 147 ff.
- Schreiben vom 27.7.1958 an das baden-württembergische Justizministerium (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 97).
- Ebd.
- In seiner Darstellung der Vorgeschichte des Prozesses erwähnt Langbein diesen Punkt nicht. Siehe Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation, Wien: Europa Verlag, 1965, S. 21–34.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 37b-37bR.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 48-51R.
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 11.9.1958 an Kriminalpolizei Karlsruhe, Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 78–78R, 117–117R); Vernehmung am 22.9.1958 in Karlsruhe (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 119).
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 11.9.1958 an Kriminalpolizei Frankfurt am Main, Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 80–80R, 151–151R); Vernehmung am 19.9.1958 in Frankfurt am Main (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 152).
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 11.9.1958 an Kriminalpolizei Esslingen, Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 79); Vernehmung am 27.10.1958 in Stuttgart (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 214–221).
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 11.9.1958 an Kriminalpolizei München, Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 82–82R, 109–109R); Erklärung vom 22.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 110). Distel nannte als weiteren Zeugen den ehemaligen Auschwitz-Häftling Otto Küsel (siehe Auftrag für polizeiliche Vernehmung Küsels vom 3.11.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 201)); Vermerk, Kriminalpolizei München vom 24.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 116).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 59-60.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 63-65.
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 5.9.1958 an Kriminalpolizei Kiel, Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 131-131R); Vernehmung vom 29.9.1958 in Kiel (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 132-133).
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 5.9.1958 an Kriminalpolizei München (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 73, 83); Vermerk d. Kriminalpolizei München vom 19.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 84); Schreiben StA Stuttgart an AG München vom 3.11.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 291–291R); richterliche Vernehmung vom 25.11.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 316–318R).
- Aussage Bartoszewicz vom 15.9.1958, an das IAK gesandt (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 223–225), am 4.11.1958 von Langbein der Ermittlungsbehörde überreicht.
- Schreiben von Pawliczek an IAK vom 22.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 236-239).
- Langbeins Sendung wurde vom Hauptzollamt Stuttgart dem politischen Referenten bei der StA Stuttgart zur Prüfung vorgelegt, um feststellen zu lassen, ob es sich um eine staatsgefährdende Druckschrift handelt (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 71).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 62.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 70.
- Siehe Schreiben der StA Stuttgart vom 11.9.1958 an Kriminalpolizei Hannover; Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 81); Vernehmung in Hannover am 6.10.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 188–190).
- Siehe Schreiben StA Stuttgart vom 11.9.1958 an Kriminalpolizei München, Auftrag für polizeiliche Vernehmung (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 82–82R, 109–109R); Vernehmung vom 24.9.1958 in München (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 111–115R).
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 76.
- Ebd. Mit Schreiben vom 30.8.1958 hatte Langbein beim Justizministerium seine Vorsprache angekündigt (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 97).
- Vermerk vom 12.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 85-85R).
- Polizeiliche Vernehmung von Artur Balke vom 19.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 152).
- Polizeiliche Vernehmung von Hermann Distel vom 22.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 110).
- Polizeiliche Vernehmung von Emil Behr vom 22.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 119).
- Polizeiliche Vernehmung von Paul Leo Scheidel vom 24.9.1958 (4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 111-116).
- Staatsarchiv Ludwigsburg, Handakten zu der Anzeigensache gegen Boger, EL 317III, Bü. 1.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 128-129.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 130.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1, Bl. 148-148R.
- 4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 194.
- Ebd., Bl. 242-243.
- Ebd.
- Ebd.
- Siehe den Bericht »Befremden über die Stuttgarter Staatsanwaltschaft« in der Stuttgarter Zeitung vom 6.11.1958, Nr. 256, den Artikel »Warum wurde Boger so spät verhaftet?« in den Stuttgarter Nachrichten vom 6.11.1958, Nr. 256 und den Bericht »Der Haftbefehl war sechs Tage alt« in der Südwestdeutschen Rundschau vom 6.11.1958, Nr. 256.
- 4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 244–246. Siehe auch die beiden Berichte »Erklärung der Staatsanwaltschaft zum Fall Boger« und »Die Verhaftung von Boger wurde nicht verzögert« in der Stuttgarter Zeitung vom 7.11.1958, Nr. 257 und in den Stuttgarter Nachrichten vom 7.11.1958, Nr. 257.
- 4 Ks 2/63, Bd. 2, Bl. 163-169.
- Die Beschuldigten waren: Hans Schurz, Johann Taute, Gerhard Lachmann, Georg Wosnitza, Hans Draser, Heinrich Brocks, Karl Broch, Hans Kamphuis, Otto Schmidt, Josef Wieczorek, Hans Pichler, Anton Brose, Josef Hofer, Wilhelm Hoyer und Hellmut Lange.
- 4 Ks 2/63, Anlageband 1a, Bl. 72. – Siehe die Darstellung von Gnielka, »Die Henker von Auschwitz. Ein Prozess und seine Vorgeschichte«, in: Metall, Nr. 16 (1961), S. 6 und die zwei unterschiedlichen Darstellungen von Fritz Bauer in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1998, S. 81 und S. 104 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 5). Siehe auch Bauer, »Auf der Flucht erschossen ..«, in: Streit-Zeit-Schrift, Jg. 6 (September 1968), H. 2, S. 93 sowie die Darstellung von Heinz Haueisen, »Auschwitz – eine Herausforderung an die Frankfurter Justizbehörden«, in: Horst Henrichs, Karl Stephan (Hrsg.), Ein Jahrhundert Frankfurter Justiz. Gerichtsgebäude A: 1889–1989, Frankfurt am Main: Kramer Verlag, 1989, S. 185–200. Haueisen (LOStA a.D.) verfasste seinen Aufsatz auf der Grundlage von Unterlagen, die ihm einer der Staatsanwälte des Verfahrens, StA Vogel, zur Verfügung gestellt hatte.
- Zu Bauer siehe den Aufsatz von Matthias Meusch, »Ein Zeuge für ein ›besseres Deutschland‹ – Der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) zwischen Diktatur und Demokratie«, in: Gießener Universitätsblätter, Jg. 31 (Dezember 1998), S. 59–75, seine Studie Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden: Historische Kommission für Nassau, 2001 sowie die Biografie von Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München: C. H. Beck Verlag, 2009.
- Siehe die Vernehmung Wulkans vom 21.4.1959 durch die Sonderkommission der Zentralen Stelle (4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 24-25).
- 4 Ks 2/63, Anlageband 1a, Bl. 73-80.
- 4 Ks 2/63, Anlageband 1a, Bl. 71 sowie 4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 7.
- 4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 1b–1g. Das Verzeichnis ist mit Schreiben vom 29.1.1959 von dem ehemaligen Auschwitz-Häftling Franz Unikower an Bauer gesandt worden (4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 5). Einem von Hermann Langbein verfassten Informationsblatt des IAK vom 4.9.1958 ist zu entnehmen, dass das Verzeichnis »auf Anregung der bayerischen Auschwitz-Gruppe« (Ludwig Wörl u.a.) vom IAK angelegt worden ist (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 102).
- Siehe Bauers Schreiben vom 15.2.1959 an Zentrale Stelle, 4 Ks 2/63, Anlageband 1a, Bl. 70 sowie seine Verfügung vom 15.2.1959 (4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 10–11), in der er ein entsprechendes Schreiben an den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof anweist.
- Schreiben Bauers an Langbein vom 27.8.1959 (ÖStA, Nachlass Langbein E/1797: Ordner 96)
- Siehe 4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 15-19.
- SS-Schütze Johann Beyer steht zu Beginn der Auflistung der SS-Angehörigen im Schreiben der Kommandantur vom 23.6.1942 (4 Ks 2/63, Anlageband 1a, Bl. 77).
- »SS-Schütze August Brucker« wird in der Aufstellung der Beschuldigten im BGH-Beschluss zweimal genannt. Von den 94 Beschuldigten waren nach heutigen Kenntnissen zur Zeit des BGH-Beschlusses 21 SS-Angehörige bereits nicht mehr am Leben.
- Wolf, Verteidiger im Nürnberger Nachfolgeprozess gegen Alfried Krupp (Fall 10) und Mitglied des Limburger CDU-Kreisvorstands, war seit Oktober 1957 Behördenleiter in Frankfurt am Main.
- 4 Ks 2/63, Bd. 9, Bl. 1380-1382.
- 4 Ks 2/63, Bd. 10, Bl. 1454–1456. Siehe auch Schreiben der Zentralen Stelle vom 19.6.1959 an die StA b. LG Frankfurt am Main (4 Ks 2/63, Bd. 1a, Bl. 32).
- Interview mit Joachim Kügler (StA b. LG Frankfurt am Main), 5.5.1998 (Fritz Bauer Institut (= FBI), Sammlung Auschwitz-Prozesse (= SAP), FAP-1/I-5).
- Laut Kügler hatte StA Vogel durch Zufall Einblick in die Generalakten erhalten. Warum die Behördenleitung eine ausreichende personelle Ausstattung nicht gewährleistete, lässt sich nur vermuten.
- Interview mit Joachim Kügler (StA b. LG Frankfurt am Main), 5.5.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-5). Siehe hierzu auch Fritz Bauer nach Angaben von Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten in beide deutsche Staaten, München: Kindler Verlag, 1966, S. 377.
- Datum der Verhaftung fortan in Klammern nach den Namen der Beschuldigten.
- Uhlenbroock (29.11.1960), Mulka (6.3.1961), Breitwieser (22.6.1961) und Fries (16.7.1961) erhielten Haftverschonung.
- 4 Ks 2/63, Bd. 23, Bl. 3741-3810 (Beschuldigtenliste vom 18.1.1960) und Bd. 30, Bl. 5097-5152. Die zweite Liste führt 282 Beschuldigte auf.
- 4 Ks 2/63, Bd. 26, Bl. 4360-4363; Bd. 30, Bl. 5153-5169.
- Am Ende seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung (6.3.1964) erklärte Langbein: »Ich habe das Bedürfnis, bevor ich hier den Sessel verlasse, etwas zu sagen auch zu meiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Prozesses. Ich habe mehrere Dokumente und Aussagen und Zeugenadressen geliefert dem Gericht, um den Prozessverlauf zu erleichtern. Ich möchte hier folgendes sagen: Ich tat das deswegen, weil ich die Verpflichtung als Überlebender von Auschwitz, der gesund geblieben ist, geistig und körperlich, fühle, alles, was in meiner Kraft steht, zu tun, damit sich ein Auschwitz unter keinem Vorzeichen und in keinem Land wiederholt, und ein Teil davon ist meiner Überzeugung nach auch diese Tätigkeit.« (Tonbandmitschnitt, 6.3.1964, 24. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. DVD-ROM. Hrsg. vom Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Berlin: Directmedia Publishing GmbH, 2004 (Digitale Bibliothek, Bd. 101); 2., durchges. und verb. Aufl., Berlin 2005; 3. Aufl., Berlin 2007, S. 5544 f. (fortan = DVD-ROM)
- Ormond bemühte sich seit 1961 darum, Personen zu finden, die als Nebenkläger in dem Verfahren fungieren konnten. Wer nahe Angehörige in Auschwitz verloren hatte und nachweislich den Tod eines Angehörigen in einen ursächlichen Zusammenhang mit einem der Angeklagten bringen konnte, war auf Antrag als Nebenkläger zuzulassen. Ormond unternahm mit Hilfe von Hermann Langbein, dem World Jewish Congress und der Claims Conference große Anstrengungen, aus jedem Land, aus dem Juden nach Auschwitz deportiert worden sind, einen Nebenkläger zu finden.
- 4 Ks 2/63, Bd. 22, Bl. 3600-3600R.
- Bereits im August 1959 hatten die beiden Sachbearbeiter bei der Militärmission der Volksrepublik Polen (Berlin, Lassenstraße) einen Visumsantrag eingereicht (StA F, 4 Ks 2/63, Handakten, Bd. 1, Bl. 55–56). Ursprünglich wollten sie mit GStA Fritz Bauer zusammen nach Polen reisen. Die Staatsanwälte beabsichtigten, anlässlich einer Tagung des IAK (7.9.1959) in Oświęcim mit Auschwitz-Überlebenden zusammenzutreffen. Siehe die Gesprächsnotiz von Hermann Langbein (undatiert) nach einem Telefonat mit Henry Ormond vom 4.8.1959, der Langbein über die Reisepläne der Frankfurter Ermittler informierte und um Unterstützung bat (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 106). Die Reise wurde, wie einem Schreiben Ormonds an Langbein vom 8.9.1959 zu entnehmen ist, von Wiesbaden nicht genehmigt.
- Siehe Sehns auf den Ergebnissen des Höß-Prozesses (11.3.–29.3.1947) in Warschau und des Krakauer Verfahrens gegen 40 SS-Männer und Frauen (24.11.–16.12.1947) basierende kurze Darstellung der Geschichte von Auschwitz-Birkenau. Jan Sehn, Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Warszawa 1957. Zu Sehns Bedeutung für die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsarbeit siehe den Bericht der StA b. LG Frankfurt am Main an Bauer vom 20.12.1962 (4 Js 1031/61, Berichtsheft, Bd. I, Bl. 73–75).
- 4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9379-9547.
- Das Literaturverzeichnis führt u.a. an: Gerald Reitlinger, Die Endlösung, Berlin: Colloquium Verlag, 1956; Eugen Kogon, Der SS-Staat, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1946; Jan Sehn, Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Warszawa: Wydawnictwo Prawnicze, 1957; Rudolf Höss, Kommandant in Auschwitz, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1958; die 42bändige Ausgabe des IMT zum Nürnberger Prozess; die Dokumentensammlung Dokumenty i Materiały, Łódź 1946; die Hefte von Auschwitz, H. 1–3 (dt. Ausg. 1959–1960). – Das Werk von Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago: Quadrangle Books, 1961, hat Kügler nach eigenen Angaben erst später vorgelegen. Siehe Interview mit Joachim Kügler (StA b. LG Frankfurt am Main), 5.5.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-5).
- 4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9441.
- 4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9456.
- § 211 alte Fassung StGB (bis zum 4.9.1941 geltend) lautet: »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.« § 211 neue Fassung (gemäß Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4.9.1941) lautet: »1. […] 2. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. 3. […]«.
- 4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9461.
- Rakers war bereits vom LG Osnabrück 1953 zu lebenslangem Zuchthaus und einer Gesamtstrafe von 15 Jahren Zuchthaus wegen seiner in Auschwitz und Sachsenhausen begangenen Straftaten verurteilt worden. Siehe Urteil in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. X, Lfd. Nr. 340, S. 347–391 sowie Bd. XIV, Lfd. Nr. 462/1, S. 735–738 und Bd. XVI, Lfd. Nr. 483, S. 61–76.
- Die im Schriftsatz der StA (4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9537) und ebenso in der Anklageschrift (4 Ks 2/63, Bd. 80, Bl. 15.199) angeführte Datierung (9./10.10.1941) stützt sich auf den Bericht des Zeugen Petzold (4 Ks 2/63, Bd. 31, Bl. 5309–5314) sowie auf seine Vernehmung vom 3.2.1960 (4 Ks 2/63, Bd. 25, Bl. 4189–4190). Ohne die Aussagen von Augenzeugen der ersten Vergasung zu berücksichtigen, datieren gelegentlich Autoren (siehe z.B. Jean-Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München, Zürich: Piper Verlag, 1994, S. 41 f. und Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München, Zürich: Piper Verlag, 1998, S. 444 f. und 457) unrichtigerweise die sogenannte Probevergasung auf Dezember 1941.
- Interview mit Gerhard Wiese (StA b. LG Frankfurt am Main), 30.3.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-3).
- Ebd.
- Aktenvermerk Ormonds vom 1.3.1962 (FBI, SAP, FAP-1/NK-4).
- 4 Ks 2/63, Bd. 53, Bl. 9628-9671.
- 4 Ks 2/63, Bd. 74, Bl. 13.799-13.809.
- Das Verfahren gegen Lustig war mit dessen Tod (9.1.1962) erledigt. Siehe Beschluss der 3. Strafkammer des LG Frankfurt am Main vom 5.7.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 84, Bl. 16.104).
- 4 Ks 2/63, Antrag vom 28.8.1961, Bd. 54, Bl. 9890–9893; Beschluss vom 2.9.1961, Bd. 54, Bl. 9894–9895.
- 4 Ks 2/63, Antrag vom 23.1.1962, Bd. 61, Bl. 11.329–11.335; Beschluss vom 29.1.1962, Bd. 61, Bl. 11.337–11.338.
- Ebd.
- 4 Ks 2/63, Antrag von 14.2.1962, Bd. 65, Bl. 11.470a–11.470c; Beschluss vom 5.3.1962, Bd. 65, Bl. 11.470d–11.470e.
- 4 Ks 2/63, Antrag vom 9.4.1962, Bd. 65, Bl. 12.175–12.178; Beschluss vom 24.4.1962, Bd. 65, Bl. 12.191–12.192.
- Siehe den Text von Düx, »In memoriam Hermann Langbein«, in: Hermann Langbein, Das 51. Jahr… Mit Beiträgen von Heinz Düx, Ursula Wirth, Werner Renz. Frankfurt am Main: Fritz Bauer Institut, 1996, S. 11–16 (Materialien Nr. 15). Langbein legte Mitte 1961 seine Funktionen im IAK nieder, unterstützte aber weiterhin intensiv das Verfahren.
- Interview mit Heinz Düx (LG Frankfurt am Main), 10.12.1997 (FBI, SAP, FAP-1/I-1). Siehe auch Heinz Düx, »Singuläre Erscheinung von historischem Rang: Fritz Bauer«, in: Ulrich Schneider (Hrsg.), Auschwitz – ein Prozess. Geschichte, Fragen, Wirkungen, Köln: PapyRossa Verlag, 1994, S. 74–81.
- Interview mit Heinz Düx, ebd.
- Ebd. – Düx’ Erinnerung wird gestützt durch seine nur für ihn selbst bestimmte Aufzeichnung vom 17.8.1961, wenige Tage nach der Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung (Geheimvermerk Nr. 1, FBI, SAP, FAP-1/BA-5). Siehe auch Heinz Düx, Die Beschützer der willigen Vollstrecker. Persönliche Innenansichten der bundesdeutschen Justiz, hrsg. von Friedrich-Martin Balzer, Köln: Pahl-Rugenstein, 2004, S. 31 ff.
- 4 Ks 2/63, Bd. 78-80, Bl. 14.605-15.304.
- 4 Ks 2/63, Bd. 77, Bl. 14.570–14.604, Antrag vom 16.4.1963. 1. Fries war nicht nachzuweisen, dass er sich mit Entscheidungsbefugnis an Selektionen auf der Rampe beteiligt hatte. Seine Einlassung, auf der Rampe nur Handwerker für Arbeitskommandos ausgesucht zu haben, war dem Beschuldigten nicht zu widerlegen. Die StA wertete Fries’ Tätigkeit auf der Rampe als Beihilfe. Da Fries bereits von einem Nürnberger Schwurgericht zu 13 Zuchthaus verurteilt worden war, eine mögliche erneute Bestrafung im Frankfurter Verfahren mithin »nicht ins Gewicht« fiel, erschien der StA die »vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 154 StPO geboten«. 2. Im Falle Rakers, der vom LG Osnabrück wegen seiner in Sachsenhausen und in Auschwitz verübten Verbrechen lebenslanges Zuchthaus erhalten hatte, war die Strafklage verbraucht. 3. Uhlenbroock, nahezu drei Wochen Standortarzt in Auschwitz (August/September 1942), war nach den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörde »nicht hinreichend verdächtig, […] an der […] massenweisen Tötung von Menschen beteiligt gewesen zu sein«, da keine Zeugen zu ermitteln waren, die seine Beteiligung hätten bekunden können. 4. Dem Funktionshäftling Staller, der eine Vielzahl von Häftlingen misshandelt hatte, war nicht nachzuweisen, dass einer der von ihm geschlagenen Lagerinsassen den Tod durch seine Hand gefunden hatte.
- 4 Ks 2/63, Bd. 84, Bl. 16.136–16.138, Beschluss vom 24.6.1963. Die Einstellung der Verfahren wurde von Hermann Langbein kritisiert. Siehe sein Schreiben an Ormond vom 6.8.1963 (NL Langbein, E/1797, Ordner 106).
- 4 Ks 2/63, Bd. 78, Bl. 14.618.
- 4 Ks 2/63, Bd. 78, Bl. 14.664; beim Beschuldigten Stark auch §§ 105 ff. Jugendgerichtsgesetz. Zu bemerken ist, dass die StA nunmehr ausschließlich auf Mittäterschaft (§ 47 aF StGB) und nicht auf Beihilfe (§ 49 aF StGB) erkannte.
- In der Anklageschrift geht die Nummerierung der Zeugen bis zu der Ziffer 254. Unter Nr. 69 (4 Ks 2/63, Bd. 78, Bl. 14.677) finden sich keine Angaben, unter Nr. 156 (Bd. 78, Bl. 14.692) ist irrtümlich der Angeklagte Neubert als Zeuge aufgeführt. Siehe die Korrektur seitens der StA (4 Ks 2/63, Bd. 86, Bl. 16.489). Von den 252 in der Schwurgerichtsanklage als Beweismittel aufgeführten Zeugen wurden 153 in der Hauptverhandlung gehört. Von weiteren 20 in der Anklageschrift als Beweismittel genannten Zeugen wurden in der Hauptverhandlung Vernehmungsprotokolle verlesen.
- Nach Angaben der StAe Vogel und Kügler lagen ihnen zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Anklageschrift die in der Hauptverhandlung vorgetragenen Gutachten der Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte (München) nicht vor (Gespräch mit Vogel, 9.3.2000; Interview mit Kügler, 5.5.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-5)).
- Lauritz Lauritzen, »Gerechtigkeit braucht ihre Zeit«, in: Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten in der Bundesrepublik. Hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, o.O., o.J. [1963], S. 23
- Hauptakten des 2. Frankfurter Auschwitz-Prozesses, 4 Ks 3/63, Bd. 84, Bl. 15.983-15.986.
- 4 Ks 3/63, Bd. 84, Bl. 15.987-16.033.
- 4 Ks 3/63, Bd. 84, Bl. 15.983–15.986. – Siehe hierzu kritisch Langbein, Auschwitz-Prozess, Bd. 1, S. 11 und 33. Burger und Erber standen im 2. Auschwitz-Prozess (1965–1966) vor Gericht.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.069-17.103.
- 4 Ks 2/63, Bd. 84, Bl. 16.096.
- Interview mit Gerhard Wiese (StA b. LG Frankfurt am Main), 30.3.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-3).
- 4 Ks 2/63, Bd. 89, Bl. 17.596.
- 4 Ks 2/63, Bd. 126, Bl. 20.409-20.410.
- 4 Ks 2/63, Bd. 91, Bl. 17.823.
- 4 Ks 2/63, Bd. 91, Bl. 17.824. – Der Angeklagte Stark, durch einen Zeitungsartikel über Foresters Bestellung informiert, schrieb an seinen Anwalt: »Dazu darf ich sagen, dass ich beim Lesen dieses Namens zum 1. Male in diesen 4 ½ Jahren Angst, und zwar hundsgemeine Angst, wie man sie nur beim Herannahen eines ganz schweren Unheils bekommen kann, verspüre. Senatspräsident Forester ist Jude und war während der NS-Zeit nach England emigriert und nach dem Kriege nach hier remigriert.« (Brief Starks an Rechtsanwalt (= RA) Erhard vom 17.10.1963, FBI, SAP, FAP-1/V-16) Erhard unterrichtete umgehend Verteidigerkollegen und meldete Bedenken gegen Forester an, da es »bei Anerkennung aller menschlichen und fachlichen Qualitäten schwer vorstellbar« sei, »dass ein rassisch Verfolgter […] frei von Vorurteilen und einseitigen Gefühlen sein könnte« (FBI, SAP, FAP-1/V-16).
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.309.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.310.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.063.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.064.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.066.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.067. – Im Falle Forester bedauerte Stolting II die Selbstablehnung des Richters. Nach seiner »festen Überzeugung« würde Forester im Prozess »absolut objektiv und frei von allen politischen und sonstigen Erwägungen entschieden haben« (Brief von RA Stolting II an RA Erhard vom 24.10.1963, FBI, SAP, FAP-1/V-16).
- Die Besetzung des Schwurgerichts wurde von der Verteidigung als nicht ordnungsgemäß gerügt. Siehe den Schriftsatz der Rechtsanwälte (= RAe) Laternser und Steinacker vom 19.12.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 95, Anlage 12 und 19 zum Protokoll vom 20.12.1963); die Revisionsbegründung der RAe Stolting II und Eggert vom 1.11.1966 (4 Ks 2/63, Bd. 124, Bl. 19.838–19.889) sowie RA Erhard vom 18.11.1966 (4 Ks 2/63, Bd. 124, Bl. 19.908–19.929).
- Erst Anfang November 1963 gelang es Hofmeyer nach »Einschaltung« des hessischen Ministerpräsidenten Zinn, den Römer als Sitzungssaal zu erhalten. Siehe Aktenvermerk Ormonds vom 7.11.1963 (FBI, SAP, FAP-1/NK-4). Das Gericht tagte bis einschließlich 26.3.1964 (31. Verhandlungstag) im Frankfurter Rathaus. Danach zog es in das Bürgerhaus Gallus um, in dem am 3.4.1964 die Verhandlung fortgesetzt wurde.
- Boger, Kaduk, Baretzki, Capesius, Klehr, Scherpe, Hantl und Bednarek befanden sich in Untersuchungs-, Hofmann in Strafhaft (Hofmann war durch Urteil des Schwurgerichts München II vom 19.12.1961 (2 Ks 8/61) wegen im KZ Dachau begangenen Mordes in zwei Fällen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden). Dreizehn Angeklagte waren auf freiem Fuß. Mit Schriftsatz vom 17.9.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 87, Bl. 16.963) beantragte die StA, gegen die Angeschuldigten Höcker, Schlage, Lucas, Frank, Schatz und Neubert Haftbefehl zu erlassen; weiter wurde beantragt, den Haftbefehl gegen Mulka wieder in Vollzug zu setzen. Die 3. Strafkammer b. LG Frankfurt am Main lehnte mit Beschluss vom 7.10.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.104) den Antrag der StA ab, ebenso mit Beschluss vom 7.10.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.105) wurde der seit 23.4.1959 in Untersuchungshaft sitzende Angeschuldigte Hans Stark mit dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont und am 23.10.1963 aus der U-Haft entlassen. Schlage (13.4.1964), Stark (15.5.1964), Frank (5.10.1964), Dylewski (5.10.1964), Broad (6.11.1964), Mulka (3.12.1964), Lucas (24.3.1965) und Höcker (25.3.1965) wurden im Verlauf der Hauptverhandlung in Untersuchungshaft genommen. Als am 19. und 20. August 1965 das Urteil gesprochen wurde, waren außer den Angeklagten Schoberth, Breitwieser und Schatz, die freigesprochen wurden, alle übrigen 17 Angeklagten in Untersuchungs- (bzw. Hofmann in Straf-)haft.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.382.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.379.
- Nierzwicki verstarb am 15.5.1967, 4 Ks 2/63, Bd. 127, Bl. 20.721 (Sterbeurkunde). Am ersten und zweiten Verhandlungstag fehlte der Angeklagte Lucas aus Krankheitsgründen. Mit Schreiben vom 11.12.1963 teilte die Behörde des Inneren der Freien und Hansestadt Hamburg dem LG Frankfurt am Main mit, der Angeklagte Mulka habe einen Herzinfarkt erlitten und befinde sich im Krankenhaus. Ihrem Schreiben (4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.375) fügte die Behörde ein ärztliches Attest des Mulka behandelnden Arztes (ebd., Bl. 17.376) an, bei dem es sich um Dr. Kurt Uhlenbroock, einst Standortarzt in Auschwitz und Beschuldigter in der Ermittlungssache 4 Js 444/59, handelte. Nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt des Krankenhauses und nach Einsichtnahme der Krankenblätter teilte die Gesundheitsbehörde der Stadt Hamburg mit Schreiben vom 19.12.1963 mit, dass »keine Anhaltspunkte für eine Reise- und Verhandlungsunfähigkeit« Mulkas vorlägen (4 Ks 2/63, Bd. 89, Bl. 17.508).
- Zu den Nebenklägern führte Ormond in seinem Schlussvortrag vom 24.5.1965 aus, sie seien »von einer großen, weltumspannenden Verfolgten-Organisation«, gemeint ist der World Jewish Congress, »so ausgewählt worden, dass jeder von ihnen bei Beginn der Verfolgung in einem europäischen Land gelebt hat oder auch heute noch lebt und gewissermaßen für die aus diesem Lande stammenden Opfer stellvertretend auftritt« (Henry Ormond, Plädoyer im Auschwitz-Prozess, in: aus gestern und heute, Sonderreihe Nr. 7 (1967), S. 2 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.986). Ormond hatte bereits seit 1961, insbesondere auch mit Hilfe von Hermann Langbein, nach Nebenklägern gesucht.
- Die Nebenkläger Krumme, Kieta, Buki, Bacon, Ehrenfeld, Bejlin und Schlinger waren auch Zeugen in der Hauptverhandlung.
- Mit Schreiben vom 5.12.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 89, Bl. 17.463) stellte Kaul Antrag auf Zulassung als Nebenklagevertreter und übersandte dem Schwurgericht die Vollmachten von neun Nebenklägern, die allesamt in der DDR wohnhaft waren. Auf der Sitzung vom 6.1.1964 wurden durch Gerichtsbeschluss zunächst die Nebenkläger Dombrowsky und Jaffe, am 31.1.1964 weitere vier Nebenkläger zugelassen (4 Ks 2/63, Bd. 95, Bl. 40 und 113). RA Kaul wurde gelegentlich in Untervollmacht von den RAe Joachim Noack, Günther Adalbert Stolting (Bruder von Hermann Stolting II) und Bernhard Strodt vertreten. Nebenklagevertreter Ormond, der Vorsitzende Richter und die Staatsanwaltschaft waren über das Auftreten von Kaul »wenig erfreut«, da zu befürchten sei, »dass der Prozess als Hintergrund für propagandistische Angriffe« dienen solle, und »dass die Sache und die Wahrheitsfindung darunter« leide (Aktenvermerk Ormonds vom 9.12.1963, FBI, SAP, FAP-1/NK-4).
- Am 23.7.1964 (68. Verhandlungstag) erschien Neubert wegen Krankheit nicht. Das Verfahren gegen ihn wurde auf Antrag der StA abgetrennt (4 Ks 2/63, Bd. 100, Bl. 522).
- Zur Sitzung am 13.3.1964 war der Angeklagte Bischoff wegen Krankheit nicht erschienen. Auf Antrag der StA wurde das Verfahren gegen ihn abgetrennt (4 Ks 2/63, Bd. 96, Bl. 203 ff.). Bischoff verstarb am 26.10.1964 (Sterbeurkunde, 4 Ks 2/63, Bd. 104, Anlage 2 zum Protokoll vom 19.11.1964).
- Das Schwurgericht hatte für jeden Angeklagten einen Zweitverteidiger bestellt, um auch bei Verhinderungen eines Rechtsanwalts weiter verhandeln zu können.
- Nachlass Ormond (FBI, SAP, FAP-1/NK-4). In seinem auf dem 46. Deutschen Juristentag 1966 gehaltenen Vortrag sprach sich Hofmeyer gleichfalls für eine Aufteilung der Verfahren aus (Hans Hofmeyer, »Prozessrechtliche Probleme und praktische Schwierigkeiten bei der Durchführung der Prozesse«, in: Verhandlungen des sechsundvierzigsten Deutschen Juristentages. Essen 1966. Hrsg. von der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages. Bd. II (Sitzungsberichte), Teil C, München, Berlin: Verlag C. H. Beck, 1967, S. C38–C44).
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.069–17.104. Die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses wurde vom Hessischen Rundfunk in voller Länge übertragen. Siehe Tondokument, Eröffnungsbeschluss, 6.1.1964, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), Link auf S. 4762.
- 4 Ks 2/63, Bd. 95, Anlage 1 zum Protokoll vom 30.1.1964. In dem Schriftsatz werden Buchheim, Krausnick, Broszat und Uhlig (allesamt Institut für Zeitgeschichte, München) aufgeführt. Die Gutachten sind abgedruckt in: Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates. 2 Bde. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter Verlag, 1965. OStA Großmann stellte rückblickend fest: Die »Sachverständigen haben wir später präsentiert, um das Gericht vor die unumgängliche Notwendigkeit zu stellen, sie anzuhören, und um gleichzeitig zu vermeiden, dass über das Einführen dieser Gutachten in den Prozess zeitraubende und im Ausgang nicht vorhersehbare Diskussionen vor Gericht erfolgen. Wir haben damit nicht allenthalben das Wohlwollen des Schwurgerichts gefunden, der Erfolg hat für uns gesprochen, denn die Gutachter haben eine ausgezeichnete Arbeit geleistet.« Hanns Großmann, »Die forensische Behandlung des sogenannten Befehlsnotstandes«, in: Niederschrift über die Dritte Arbeitstagung der in der Bundesrepublik mit der Strafverfolgung von NS-Gewaltverbrechen befassten Staatsanwälte in Konstanz vom 27. bis zum 30. September 1966. Ludwigsburg: Zentrale Stelle, o. J., S. 176.
- Zur Entstehungsgeschichte der Gutachten siehe Norbert Frei, »Der Frankfurter Auschwitz-Prozess und die deutsche Zeitgeschichtsforschung«, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung. Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1996, S. 123–138.
- Siehe den »Vermerk über eine Besprechung der altpolitischen Dezernenten der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht und der Staatsanwaltschaften Frankfurt (M.) und Wiesbaden vom 7. November 1962 bei Herrn Generalstaatsanwalt Dr. Bauer« (Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden, Abt. 631a, Nr. 1800, Bd. 84, Bl. 85–92). Die Gutachten sollten vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ), München, erstellt werden und folgende Themen zum Gegenstand haben: Judenpolitik, Polenpolitik, Aufbau der SS pp., Konzentrationslager, Befehlsnotstand. An der Besprechung nahmen seitens des IfZ Krausnick, Broszat, Buchheim und Heiber teil. – Bauer wollte aus dem Strafprozess eine dem breiten Publikum verständliche Geschichtsstunde machen. Die Gutachten sollten »verständlich« sein, »ein akademischer Vortrag« war zu vermeiden, Urkunden und Bilder sollten zur Veranschaulichung und zum allgemeinen Verständnis »an die Wand projiziert« (ebd.) werden. Laut Protokoll der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen« (Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden, Abt. 503, Nr. 1161), die wenige Wochen vor Prozessbeginn (9. und 10.10.1963) stattfand, führte Bauer gar aus: »Selbst auf die Gefahr hin, daß der Staatsanwaltschaft die Veranstaltung eines Schauprozesses vorgeworfen werden könnte, soll die Verhandlung ein großes Bild des Gesamtrahmens der angewandten Politik geben. Dazu würden die vorkommenden Dokumente im Gerichtssaal nicht nur vorgelesen, sondern auf eine riesige Leinwand projiziert, so dass sie von allen Anwesenden betrachtet werden könnten.« (ebd. S. 21) Weiter führte Bauer aus, im Auschwitz-Verfahren gehe es der StA »um eine Dokumentation in historischer, politischer und moralischer Hinsicht«, »eigentlicher Verhandlungsgrund« sei das »Schicksal von 2 000 000 Juden« (ebd., S. 21). »Sinn und Zweck der Gutachten« (ebd., S. 21) sah Bauer darin, »die wahren Absichten des NS-Regimes in Form von wissenschaftlichen Vorträgen dem Gericht und der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.« (ebd., S. 22)
- OStA Großmann, Plädoyer, 7.5.1965, S. 12 f. (FBI, SAP, FAP-1/StA-1) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.831 ff.
- Großmann, »Behandlung«, S. 176.
- Buchheim hob in der Diskussion im Anschluss an das Referat Großmanns hervor, insonderheit die Laienrichter hätten einen »›Einführungskursus‹« gebraucht (Niederschrift über die Dritte Arbeitstagung, S. 187 und 190).
- Im Anhang zur Buchausgabe der Gutachten merkt Buchheim an, er habe »im Dezember 1963 […] dem Schwurgericht« (Buchheim u.a., Anatomie, Bd. I, S. 383) sein Gutachten über Organisation von SS und Polizei vorgelegt. Dem oben zitierten Protokoll der 4. Arbeitstagung vom Oktober 1963 ist eindeutig zu entnehmen, dass zum Zeitpunkt der Tagung die Gutachten auch der StA noch nicht vorlagen.
- FBI, SAP, Nachlass Hummerich. Zum Beitrag der Zeitgeschichte für die richterliche Wahrheitsfindung kritisch Ernst Forsthoff, »Der Zeithistoriker als gerichtlicher Sachverständiger«, in: Neue Juristische Wochenschrift (= NJW), Jg. 18 (1965), H. 13, S. 574–575.
- RA Laternser zufolge erfüllten die Gutachten keinen prozessualen Zweck, waren Gutachten »im luftleeren Raum oder in bezug auf das Prozessgeschehen sachverständige Freiübungen«, waren »überflüssig und ohne jede Bedeutung für die Entscheidung des Verfahrens« (Hans Laternser, Die andere Seite im Auschwitz-Prozess 1963/65. Reden eines Verteidigers, Stuttgart: Seewald Verlag, 1965, S. 82 und 84, ebenso S. 377).
- Hofmeyer, mündliche Urteilsbegründung, Tonbandmitschnitt, 19.8.1965, 182. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.664.
- 4 Ks 2/63, Urteil, S. 85.
- Siehe hierzu das Referat von Großmann, »Behandlung«, S. 179 ff. Buchheims Vorbemerkung zum Gutachten trägt in den hektographierten Exemplaren seiner Studie das handschriftlich eingetragene Datum »5. Juni 1964«.
- 4 Ks 2/63, Bd. 96, Anlage 1 zum Protokoll vom 28.2.1964.
- Das Gutachten von Kuczynski wurde als Sonderdruck zugänglich gemacht und veröffentlicht in: Dokumentation der Zeit. Informations-Archiv, Jg. 16 (1964), H. 308, S. 36–42.
- Siehe die Publikationen von Bruno Baum, Widerstand in Auschwitz. Bericht der internationalen antifaschistischen Lagerleitung, Berlin-Potsdam: VVN-Verlag, 1949, 55 S. und Widerstand in Auschwitz, Berlin: Kongress-Verlag, 1957, 111 S.; Berlin: Kongress-Verlag, 1961, 110 S., 2., bearb. Aufl.
- 4 Ks 2/63, Bd. 97, Protokoll vom 19.3.1964, Bl. 229.
- 4 Ks 2/63, Bd. 97, Anlage 3 zum Protokoll vom 19.3.1964.
- Siehe den Aufsatz von Irmtrud Wojak, »Herrschaft der Sachverständigen? Zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess«, in: Kritische Justiz, Jg. 32 (1999), H. 4, S. 605–615.
- Buchheim u.a., Anatomie, Bd. I, S. 257.
- Ebd., S. 334.
- Siehe hierzu auch Walter Lewald, »Das Dritte Reich – Rechtsstaat oder Unrechtsstaat?«, in: NJW, Jg. 17 (1964), H. 36, S. 1658–1661.
- Buchheim u.a., Anatomie, Bd. I, S. 262.
- Ebd., S. 273.
- § 47 MStGB lautet: »(1) Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers: 1. wenn er den erteilten Befehl überschritten hat, oder 2. wenn ihm bekannt gewesen ist, dass der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte. (2) Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von seiner Bestrafung abgesehen werden.« (zitiert nach: Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Erläutert von Erich Schwinge, 6. Aufl., Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag, 1944, S. 100)
- Buchheim schreibt: »Im mentalen Klima der SS-Kommandos, die mit der Durchführung der Befehle in Weltanschauungssachen befasst waren, hätte es absurd und herausfordernd gewirkt, wenn sich einer auf § 47 MStGB berufen hätte angesichts von Aufgaben, die angeblich doch von einzigartiger Bedeutung für die Zukunft des Volkes waren und die von einem kleinen Kreis Auserwählter verstanden und vollzogen werden konnten. […] Eine Berufung auf diesen Paragraphen war umso weniger möglich, als der Mord an den Juden, sofern er nicht mit Sadismus und Disziplinlosigkeit verbunden war, ausdrücklich für notwendig und nichtverbrecherisch erklärt worden war.« (ebd., S. 347 f.)
- Siehe die Ausführungen Hofmeyers in der Urteilsbegründung, Tonbandmitschnitt, 19.8.1965, 182. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.781.
- Buchheim u.a., Anatomie, Bd. I, S. 334. Siehe auch Hans Buchheim, »Das Problem des sogenannten Befehlsnotstandes aus historischer Sicht«, in: Peter Schneider, Hermann J. Meyer (Hrsg.), Rechtliche Aspekte der NS-Verbrecherprozesse, Mainz 1968, S. 29.
- Zur juristischen Bewertung der Beteiligung am Völkermord durch die herrschende Rechtsprechung siehe kritisch Gerhard Werle/Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Justiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, München: Verlag C. H. Beck, 1995, S. 27–40.
- Interview mit Josef Perseke (LG Frankfurt am Main), 19.12.1997 (FBI, SAP, FAP-1/I-2); Interview mit Gerhard Wiese (StA b. LG Frankfurt am Main), 30.3.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-3). Siehe Schriftsatz der StA von Anfang Februar 1964 (4 Ks 2/63, Bd. 90, Bl. 17.790), in dem die Ladung bestimmter Zeugen angeregt wurde, sowie Hermann Langbein, »Auschwitz vor Gericht. Das Mosaik des Grauens. Zwischenbilanz zum Auschwitz-Prozess in Frankfurt«, in: Freiheit und Recht, Jg. 10 (1964), Nr. 7, S. 35. Rechtsanwalt Stolting II hat in seinem Schlussvortrag die Auswahl der Zeugen scharf kritisiert (Hermann Stolting II, Plädoyer im Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. o.O., o.J., S. 2).
- Langbein gebraucht den Ausdruck bereits in seinem Gedächtnisprotokoll vom 21.12.1959 über Besprechungen mit Fritz Bauer u.a. in Frankfurt am Main. (AMPO, Materialy, Tom 196, Bl. 178).
- Tonbandmitschnitt, 24.2.1964, 19. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM),S. 4953-5003 und S. 5011-5228.
- Tonbandmitschnitt, 6.3.1964, 24. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S.5337-5549.
- 4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 1 zum Protokoll vom 8.6.1964. Mit Schriftsatz vom 30.6.1964 substantiierte Ormond seinen Antrag, in dem er ausführte, »durch den Augenschein« solle »die räumliche Gesamtsituation des Konzentrationslagers Auschwitz« verdeutlicht werden. Die »Beobachtungsmöglichkeiten innerhalb der einzelnen Lagerabschnitte« sollten »im Hinblick auf die den einzelnen Angeklagten zur Last gelegten Taten« nachgeprüft werden. Insbesondere solle geklärt werden, »ob und inwieweit Vorgänge in der Politischen Abteilung, im alten Krematorium, im Hof von Block 11 (Erschießungen an der Schwarzen Wand), im Häftlingskrankenbau (wo die Tötungen mittels Phenol-Injektionen stattfanden), auf der alten und neuen Rampe, wo die Selektionen erfolgten, von der Lagerstraße oder von anderen Blocks aus eingesehen und beobachtet werden konnten« (4 Ks 2/63, Bd. 100, Anlage 2 zum Protokoll vom 3.7.1964).
- 4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 2 zum Protokoll vom 11.6.1964.
- 4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 2 zum Protokoll vom 22.6.1964. In zwei Hilfsanträgen vom 29.6.1965 und 28.7.1965 nach Abschluss der Beweisaufnahme beantragten die Verteidiger Laternser und Steinacker eine erneute Ortsbesichtigung (4 Ks 2/63, Bd. 112, Anlage 1 zum Protokoll vom 1.7.1964 und Bd. 113, Anlage 3 zum Protokoll vom 29.7.1965). Festgestellt werden sollte, »dass auf die gegebene Entfernung von 60 m Bewegungen mit der Hand oder dem Daumen nicht feststellbar« seien. Der Verteidigung des Angeklagten Frank ging es um die Überprüfung der Aussage des Zeugen Alex Rosenstock, der Frank von dem Lagerabschnitt BIId (Männerlager) bei der Vornahme von Selektionen auf der Rampe gesehen haben will. Das Gericht gab dem Antrag nicht statt, trat aber in die Beweisaufnahme wieder ein und prüfte am 23.7.1965 »im Hof des Gallusgebäudes« (4 Ks 2/63, Urteil, S. 512), ob auf 60 m Entfernung Hand- und Daumenbewegungen erkennbar seien (4 Ks 2/63, Bd. 113, Bl. 1608–1610). Siehe die Bewertung der Anträge bei Ormond, »Rückblick auf den Auschwitz-Prozess« (in: Tribüne, Jg. 4 (1965), H. 16, S. 1723 f.) sowie ders., »Replik […] im Auschwitz-Prozess« (in: Frankfurter Hefte, Jg. 20 (1965), H. 12, S. 829 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.501–36.538).
- 4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 1 zum Protokoll vom 22.6.1964. Siehe auch das Schreiben der StA an den Hessischen Minister der Justiz vom 18.6.1964 (Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. IV, Bl. 140–144), in dem die Stellungnahme im Wortlaut enthalten ist. Die StA handelte entgegen der Anweisung des Justizministeriums. Laut Vermerk vom 11.6.1964 von RegDir. Pötz, Bundesjustizministerium, hat das JM Hessen die StA »nachdrücklich angewiesen […] dem Antrag auf Einnahme des Augenscheins zu widersprechen« (Bundesarchiv (= BA) Koblenz, B 141/22762, Bl. 4).
- Siehe sein Schreiben an Sehn vom 3.2.1964 (4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 1 zum Protokoll vom 8.6.1964). Ormond stand mit Sehn seit Februar 1962 in Kontakt (Nachlass Ormond, Aktenvermerk vom 1.3.1962, FBI, SAP, FAP-1/NK-4) und war im Sommer 1960 bereits privat nach Oświęcim gereist. In einem Brief an Langbein vom 20.7.1960 schreibt Ormond: »Wir haben viel gesehen und viel gelernt, und ich weiß heute, wie notwendig es ist, dass die mit diesen Sachen befassten Gerichte Augenscheinstermine im Lande vornehmen.« (ÖStA, E/1797, Nachlass Langbein, Ordner 106)
- Sehn hatte bereits im April 1964 dem Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main die am 11.4.1964 erteilte Vollmacht überreicht, die dieser mit Schreiben vom 30.4.1964 an den Hessischen Minister der Justiz mit der Bitte um Kenntnisnahme weiterleitete (Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. IV, Bl. 120). Laut Vermerk vom 5.6.1964 hielt der zuständige Beamte betr. Ortstermin Vortrag am 29.5.1964 beim Staatssekretär und am 2.6.1964 beim Minister (ebd., Bl. 123). Durch Erlass vom 6.5.1964 (ebd., Bl. 123R–124) erbat der Minister u.a. eine Stellungnahme der StA, die diese mit Bericht vom 18.6.1964 (ebd., Bl. 140–144) abgab. Der Generalstaatsanwalt trat den »Berichtsausführungen« der StA bei und vermerkte, der Bundesgerichtshof habe ausgeführt, »dass es unter Umständen eine Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) darstellen könne, wenn das Gericht seine Feststellungen über die Verhältnisse am Tatort nur auf die Skizze stützt, statt darüber auch andere Beweismittel zu verwenden, beispielsweise eine Ortsbesichtigung vorzunehmen« (ebd., Bl. 145).
- Seitens der Verteidigung stellte RA Zarnack, Verteidiger des Angeklagten Breitwieser, mit Schriftsatz vom 17.6.1964 ebenfalls Antrag auf Einnahme des richterlichen Augenscheins am Tatort (4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 1 zum Protokoll vom 18.6.1964) und RA Göllner, Verteidiger der Angeklagten Hofmann und Klehr, mit Schriftsatz vom 11.7.1964 (4 Ks 2/63, Bd. 100, Anlage 2 zum Protokoll vom 13.7.1964); ebenso mit Schriftsatz vom 23.9.1964 beantragte RA Gerhardt, der den Angeklagten Baretzki vertrat, eine Ortsbesichtigung in Auschwitz, um Aussagen des Zeugen Otto Dov Kulka bezüglich seiner Beobachtungen von Selektionen auf der Rampe zu überprüfen (4 Ks 2/63, Bd. 103, Anlage 3 zum Protokoll vom 15.10.1964); RA Bürger, Verteidiger des Angeklagten Schlage, beantragte mit Schriftsatz vom 13.10.1964 (4 Ks 2/63, Bd. 103, Anlage 6 zum Protokoll vom 15.10.1964) die Einnahme des Augenscheins, um im Block 11 prüfen zu lassen, ob eine Unterhaltung zwischen Insassen der Steh- und der Arrestzellen möglich gewesen sei.
- 4 Ks 2/63, Bd. 91, Bl. 17.941–17.942, ebenso Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. IV, Bl. 153–154.
- Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. IV, Bl. 171R.
- Vermerk vom 23.7.1964, BA Koblenz, B 141/22762, Bl. 41-45.
- Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV - 1076/59), Bd. IV, Bl. 191-193.
- 4 Ks 2/63, Bd. 92, Bl. 18.022-18.023.
- Tonbandmitschnitt, 16.10.1964, 101. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 21.842–21.897. Siehe auch 4 Ks 2/63, Bd. 103, Protokoll vom 16.10.1964, Bl. 809 f. Düx führte aus, bei der Feststellung etwaiger Örtlichkeitsfragen würde sicher eine Augenscheinseinnahme bzgl. von fraglichen Vorgängen im Stammlager lohnen, im Falle des Lagers Birkenau sei der Zweck eines Ortstermins beschränkt. Bei der Befragung von Düx spielte die Erörterung der Sichtmöglichkeiten in den Hof zwischen Block 10 und 11 eine große Rolle.
- Siehe den Vermerk von Düx vom 1.8.1963 (4 Ks 2/63, Bd. 86, Bl. 16.471–16.482). Düx nahm das Lager im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung in der Strafsache gegen Albrecht u.a. (4 Ks 3/63), die Düx am 24.10.1962 (4 Ks 3/63, Bd. 75, Bl. 14.018–14.028) eröffnet hatte, in Augenschein.
- BA Koblenz, Vermerk vom 27.10.1964, B 141/22762, Bl. 93–100. An der Besprechung nahmen Vertreter des AA, BMJ, BMI und des Bundeskanzleramtes teil.
- 4 Ks 2/63, Bd. 103, Protokoll vom 22.10.1964, Bl. 827. Siehe auch Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. IV, Bl. 255.
- 4 Ks 2/63, Bd. 92, Bl. 18.150–18.153. Hofmeyers Schreiben ging einen komplizierten Weg. Das an das BJM gesandte Schreiben wurde dem AA zur Weiterleitung zugestellt, vom AA der deutschen Handelsvertretung in Warschau zugeleitet und sodann von einem Vertreter der deutschen Handelsvertretung am 26.11.1964 im polnischen Außenhandelsministerium überreicht. Das Außenhandelsministerium übergab schließlich das Schreiben dem polnischen Justizministerium. Siehe Fernschreiben Nr. 129 vom 26.11.1964 der deutschen Handelsvertretung (BA Koblenz, B 141/22762, Bl. 129) sowie Schnellbrief des AA vom 27.11.1964 an BJM (BA Koblenz, B 141/22762, Bl. 130). Am 24.11.1964 wurde das Bundeskabinett von dem bevorstehenden Ortstermin unterrichtet (BA Koblenz, B 141/22762, Bl. 122–126).
- 4 Ks 2/63, Bd. 92, Bl. 18.275-18.276.
- 4 Ks 2/63, Bd. 92, Bl. 18.269-18.272.
- Der beauftragte Richter (Hotz), drei Staatsanwälte (Großmann, Kügler, Wiese), drei Vertreter der Nebenkläger (Ormond, Raabe, Kaul), elf Verteidiger (Steinacker, Bürger, Eggert, Joschko, Gerhardt, Staiger, Reiners, Knögel, Naumann, Zarnack, Schallock), ein Angeklagter (Lucas), ein Protokollführer (Josef Hüllen), zwei Justizwachtmeister (Walter Arnold, Walter Lanz), ein Gerichtsfotograf (Paul Schmelefski), eine Dolmetscherin (Wera Kapkajew).
- Ansprache Sehn (»Beglaubigte Übersetzung aus dem Polnischen«), 4 Ks 2/63. Bd. 92, Bl. 18.304.
- 4 Ks 2/63, Bd. 106, Anlage 6 zum Protokoll vom 7.1.1965.
- Siehe den Bericht des beauftragten Richters an den Bundesjustizminister, 4 Ks 2/63, Bd. 92, Bl. 18.294–18.301.
- Siehe zum Ergebnis der Ortsbesichtigung die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, StA Vogel, Plädoyer, Allgemeiner Teil, vom 7.5.1965, S. 11 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.903.
- 4 Ks 2/63, Bd. 94, Bl. 18.613.
- 4 Ks 2/63, Bd. 94, Bl. 18.638-18.647.
- 4 Ks 2/63, Bd. 94, Bl. 18.634–18.635. Siehe Aktenvermerk Hofmeyer vom 1.4.1965 (4 Ks 2/63, Bd. 94, Bl. 18.625–18.626). Die Vernehmung der von der Verteidigung (RAe Stolting II und Eggert) benannten Zeugen Jerzy Rawicz (Internationales Auschwitz-Komitee) und Janusz Gumkowski (Hauptkommission zur Untersuchung der Nazi-Verbrechen in Polen) wurde von seiten der polnischen Vertreter abgelehnt. Siehe den Brief Gumkowskis vom 4.3.1965 an die StA (4 Ks 2/63, Bd. 94, Bl. 18.798–18.800). Stolting II und Eggert hatten in ihrem Beweisantrag (4 Ks 2/63, Bd. 110, Anlage 3 u 4 zum Protokoll vom 26.4.1965) den Vorwurf erhoben, die Hauptkommission stelle nur für diejenigen Zeugen Reisedokumente aus, deren Aussage ihr genehm seien, übe folglich Zensur aus und beeinflusse die Zeugen. Siehe Stolting II, Plädoyer, S. 5 und 49.
- 4 Ks 2/63, Bd. 110, Protokoll vom 5.4.1965, Bl. 1303 f.
- Folgende Zeugen wurden vernommen: Józef Kral, Jerzy Pozimski, Barbara Pozimska, Józef Czopryk, Karol Zając, Stanisław Skudlarcz, Ryszard Kordek, Edward Jasiński jun., Franciszek Targosz, Ksawery Wieczorkiewicz, Henryk Bartoszewicz, Aleksander Droździński, Izydor Kornacki, Franciszek Benesiewicz, Józef Zalewski, Edward Mroczyk, Edward Halek, Franciszek Brol, Andrzej Rablin und Tadeusz Joachimowski.
- Die RAe Laternser und Steinacker beantragten (4 Ks 2/63, Bd. 110, Anlage 2 zum Protokoll vom 30.4.1965), die Vernehmungsprotokolle nicht zu verlesen.
- 168 Zeugen lebten in Deutschland, 188 waren aus »ausserdeutschen« Ländern nach Frankfurt gekommen, darunter allein 68 aus Polen, 24 aus Israel, 21 aus der CSSR, 17 aus Österreich, 12 aus den USA. Angaben bezüglich des Wohnortes der Zeugen nach den von Oberstaatsanwalt Großmann in seinem Schlussvortrag genannten Daten; siehe OStA Großmann, Plädoyer (FBI, SAP, FAP-1/StA-1) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.832 f. Auf Initiative von Ursula Wirth, Kronberg, fanden sich vier weitere Frauen und ein Student zusammen, die mit finanzieller Unterstützung des Landes Hessen, des Deutschen Roten Kreuzes und privater Spender viele ausländische Zeugen betreuten. Ursula Wirth hatte sich im Frühjahr 1964 an Generalstaatsanwalt Bauer gewandt und dessen Zustimmung zu ihrem Vorhaben eingeholt. Emmi Bonhoeffer, Barbara Minssen, Hildegard Müller, Brigitte Vollhardt, Ursula Wirth und Peter Kalb wurden am 27.1.1968 für ihre Arbeit mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet. Siehe den Bericht des DRK »Über die Betreuung von ausländischen Zeugen in NS-Verbrecher-Prozessen« (o.O., o.J.), das Buch von Emmi Bonhoeffer, Zeugen im Auschwitz-Prozess. Begegnungen und Gedanken, Wuppertal-Barmen: Johannes Kiefel Verlag, 1965 sowie Vom rechten Gebrauch der Freiheit. Ein zeitgeschichtliches Lesebuch in Dokumenten 1964 bis 1974, hrsg. von der Stiftung Theodor-Heuss-Preis, München: List Verlag, 1974. Die Bedeutung des Beistandes, den die freiwilligen Helferinnen und Helfer seit Mai 1964 den Opferzeugen zu geben vermochten, ist nicht hoch genug zu bewerten. Von Zeugenschutz, von der Viktimisierungserfahrung der Auschwitz-Überlebenden, war in den 1960er Jahren noch kaum die Rede.
- Laternser zählte 382 Zeugen (Laternser, Seite, S. 23), Langbein 359 (Langbein, Auschwitz-Prozess, Bd. 1, S. 14, 43f.).
- Es handelt sich um die Zeugen: Margareta Armbruster, Johanna Dyer, Karl Gerber, Cäcilie Neideck, Louise le Porz, Helene Schwesig (Ravensbrück), Artur Geisler und Wilhelm Thierhoff (Sachsenhausen) und Ernst Martin (Mauthausen). Nach einer Aufstellung von Langbein waren von den 211 in der Hauptverhandlung vernommenen Auschwitz-Häftlingen 104 Zeugen als politische Häftlinge, 90 als Juden, 13 als kriminelle Häftlinge und vier als »Zigeuner« nach Auschwitz deportiert worden (Langbein, Auschwitz-Prozess, Bd. 1, S. 44).
- Durch den Tod des Angeklagten Richard Baer wurde seitens der Anklagebehörde auf die Ladung von 27 Zeugen, die ausschließlich über den ehemaligen Kommandanten Aussagen zu machen hatten, verzichtet (4 Ks 2/63, Bd. 86, Bl. 16.488–16.489). Langbein hält der Staatsanwaltschaft vor, wichtige Zeugen nicht benannt zu haben (Langbein, Auschwitz-Prozess, Bd. 1, S. 43 ff.).
- Bei der Auswertung der Hauptakten konnte nicht bezüglich aller in der Hauptverhandlung gehörten Zeugen festgestellt werde, von wem der Zeuge benannt worden ist.
- OStA Großmann, Plädoyer vom 7.5.1965, S. 6 (FBI, SAP, FAP-1/StA-1) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.831–32.902.
- Ebd., S. 17 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.853. Siehe hierzu auch Großmann, »Behandlung«, S. 174–185.
- Siehe Kurt Hinrichsen, »Befehlsnotstand«, in: Adalbert Rückerl (Hrsg.), NS-Prozesse, S. 131–161.
- StA Vogel, Plädoyer, Allgemeiner Teil, vom 7.5.1965, S. 10 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.917.
- StA Vogel, Plädoyer vom 7./10./14. und 17.5.1965 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.903–33.204.
- StA Wiese, Plädoyer zu Kaduk vom 14.5.1965 (FBI, SAP, FAP-1/StA-3) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.340–33.395. Siehe auch Wieses Antrag vom 18.5.1965 bzgl. der Nichteinbeziehung von im Eröffnungsbeschluss aufgeführten Anklagepunkten in die Verurteilung der Angeklagten Kaduk und Boger (4 Ks 2/63, Bd. 112, Anlage 1 zum Protokoll vom 20.5.1965).
- Tonbandmitschnitt, 13./17. und 20.5.1965, 157. und 159. und 160. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.207–33.289 und S. 33.532–33.683.
- Ebd. und ebd., S. 33.239.
- Ebd. und ebd., S. 33.242.
- Tonbandmitschnitt, 17.5.1965, 160. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.545.
- 4 Ks 2/63, Bd. 112, Protokoll vom 17.5.1965, Bl. 1484.
- StA Vogel, Plädoyer zu Dylewski, 10.5.1965, S. 48 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.132. Treffend spricht Noll von »moralischer Schizophrenie« (Peter Noll, »Die NS-Verbrecherprozesse strafrechtsdogmatisch und gesetzgebungspolitisch betrachtet«, in: Schneider, Meyer (Hrsg.), Rechtliche und politische Aspekte, S. 47), die der von der subjektiven Teilnahmetheorie vorgenommenen Trennung von innerer Einstellung (nur als fremde gewollt) und äußerem Verhalten (Tatbeteiligung) zugrunde liege.
- StA Vogel, Plädoyer zu Broad, 10.5.1965, S. 38 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.186.
- Kaul, Schlussvortrag, S. 42 und den gesamten Schlussvortrag in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.690–33.853.
- Ebd., S. 9.
- Ebd., S. 31 und 34.
- Ebd., S. 32.
- Ebd., S. 40.
- Ebd.
- Ebd., S. 46.
- Ebd., S. 10.
- Ebd., S. 7.
- RA Raabe, Plädoyer vom 21.5.1965, S. 43a (FBI, SAP, FAP-1/NK-11) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.899.
- Ormond, Plädoyer, S. 49 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.076.
- Ebd., S. 62 und in: ebd., S. 34.100.
- Ebd., S. 63 und in: ebd., S. 34.100; siehe auch Ormond, »Rückblick«, S. 1723-1728.
- Ormond, Plädoyer, S. 1 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.985.
- Laternser, Seite.
- Stolting II, Plädoyer, 65 S.
- Einzig die Plädoyers der RAe Aschenauer und Jugl liegen nicht vor.
- RA Erhard, Plädoyer für Stark, Teil I, 4.6.1965, S. 32 (FBI, SAP, FAP-1/V-9) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.322.
- Ebd., S. 65 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.375. Nach Auffassung von RA Laternser sah sich der Angeklagte Capesius im Falle der »rumänischen Zeugen« einer »tatsächlich einverständlich handelnden Gemeinschaft oder sogar einer Verschwörung von Zeugen gegenübergestellt« (Laternser, Seite, S. 293). Zu diesem Vorwurf siehe das Urteil (4 Ks 2/63, Urteil, S. 109).
- Stolting II, Plädoyer, S. 44; RA Bürger, Plädoyer für Schlage, 8.6.1965, S. 46 f. (FBI, SAP, FAP-1/V-11) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.918.
- RA Bürger wies in seinem Schlussvortrag (ebd.) darauf hin, nach dem Sächsischen Landrecht seien Aussagen ausländischer Zeugen in der Urteilsfindung nicht zu verwerten gewesen. Laternser griff den Hinweis Bürgers zustimmend auf (Laternser, Seite, S. 240 f.).
- RA Schallock, Plädoyer für Boger, Tonbandmitschnitt, 31.5.1965, 163. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.211–34.269. RA Reiners hat in seinem Plädoyer für Kaduk die Bezeichnung »Schauprozess« (Tonbandmitschnitt, 2.7.1965, 173. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 35.603–35.651) zurückgewiesen.
- RA Erhard, Plädoyer für Stark, Teil I, a.a.O., S. 3 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.272. Ebenso Interview mit Benno Erhard, 28.4.1998 (FBI, SAP, FAP-1/I-4).
- RA Göllner, Plädoyer für Hofmann, Tonbandmitschnitt, 18.6.1965, 169. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 35.652–35.720; Laternser, Seite, S. 13. Der Vorsitzende Richter Hofmeyer brachte in seiner mündlichen Urteilsbegründung sein »Bedauern« zum Ausdruck, dass das Wort vom »Schauprozess« gefallen sei und betonte mit Nachdruck, allein die Erforschung der Wahrheit sei das Bestreben des erkennenden Gerichts gewesen (Tonbandmitschnitt, 19.8.1965, 182. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.665). Siehe hierzu auch die Ausführungen von RA Ormond in seiner am 29.7.1965 vorgetragenen »Replik«, S. 827 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.501.
- Stolting II, Plädoyer, S. 1 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.174.
- Laternser, Seite, S. 148.
- Ebd., S. 185-191.
- Der »Selekteur«, so Laternser in seinem Plädoyer für Frank vom 1.7.1965, »war noch nicht einmal ein Glied in der Kette derjenigen, die objektiv einen Beitrag zum Tode geleistet haben. Der Tod stand aufgrund des von langer Hand vorbereiteten Planes als sicher und unabwendbar fest.« (ebd., S. 250)
- Ebd., S. 204. Da »Rampendienst« nach Laternser den Befehl bedeutete, Personen auszusuchen, die nicht getötet werden sollten, ging der »Selekteur […] in dem Bewusstsein zur Rampe, die Zahl der zu Tötenden zu verringern« (ebd., S. 254). Der »Selekteur« hatte demnach kein Unrechtsbewusstsein. Selbst bei der laut Laternser irrigen Auffassung, der an Selektionen Beteiligte habe Beihilfe zum Mord geleistet, musste der »Selekteur« nach Ansicht des Verteidigers straffrei bleiben, da er kein Wissen um den verbrecherischen Charakter des Befehls haben konnte. Siehe auch Laternsers Hilfsantrag vom 28.7.1965 (4 Ks 2/62, Bd. 113, Anlage 1 zum Protokoll vom 6.8.1965), durch eine Anfrage bei Organisationen festzustellen, wie viele jüdische Häftlinge »die Lagerzeit im Konzentrationslager Auschwitz überlebt haben«. Mit der »Beweiserhebung« wollte RA Laternser dartun, »dass aus dem Kreise der vom nationalsozialistischen Gewaltregime zum Tode bestimmten Juden in Europa infolge der Selektionen eine erhebliche Anzahl die Lagerzeit überstehen konnten« (Hervorhebung, W.R.).
- RA Steinacker, Plädoyer für Dylewski und Broad, 11. und 14.6.1965, S. 6 ff. (FBI, SAP, FAP-1/V-4) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.445 und S. 34.673.
- RA Erhard, Plädoyer für Stark, Teil II, a.a.O., S. 23 und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.441.
- RA Fertig, Plädoyer für Schlage, 18.6.1965, S. 6 f. (FBI, SAP, FAP-1/V-11) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.984 ff. RA Knögel schloss sich in seinen Schlussausführungen Fertig an (RA Knögel, Plädoyer für Scherpe, 25.6.1965, S. 33 (FBI, SAP, FAP-1/V-12) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 35.327 ff.). Siehe die Zurückweisung dieser Auffassung durch das Gericht (4 Ks 2/63, Urteil, S. 131).
- Siehe auch RA Gerhardt, Plädoyer für Baretzki, 1.7.1965, S. 6 f. (4 Ks 2/63, Bd. 112, Anlage 2 zum Protokoll vom 2.7.1965).
- RA Fertig, Plädoyer für Klehr, 8.7.1965, S. 17 (FBI, SAP, FAP-1/V-11) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 35.721 ff.
- Tonbandmitschnitt, 6./12.8.1965, 180./181. Verhandlungstag: alle Schlussworte in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.604–36.655.
- 4 Ks 2/63, Bd. 6, Bl. 937-960 und Bl. 968-971.
- Kaduk wurde 1947 vom Militärgericht der sowjetischen Militärverwaltung des Landes Sachsen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt (Urteil und Protokoll, 4 Ks 2/63, Bd. 74, Bl. 13.822–13.840e) und 1956 im Rahmen einer Amnestie entlassen.
- Zum Urteil siehe Henry Ormond, »Ein Wort zur Kritik am Auschwitz-Urteil«, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Jg. 22 (27.8.1965), Nr. 22, S. 2, ebenso Eugen Kogon, »Kommentar nach dem Urteil«, in: Frankfurter Hefte, Jg. 20 (1965), H. 12, S. 838–839 und in: NJW, Jg. 18 (1965), H. 41, S. 1901 sowie Werle/Wandres, Auschwitz.
- Urkunden dienten, heißt es im Urteil, »im wesentlichen nur der Aufklärung allgemeiner Dinge, konnten jedoch über die individuelle Schuld des Angeklagten kaum Aufschluss geben« (4 Ks 2/63, Urteil, S. 107). In der mündlichen Urteilsbegründung wies Hofmeyer darauf hin, nur wenige, »nicht sehr ergiebige Urkunden« (Tonbandmitschnitt, 19.8.1965, 182. Verhandlungstag, und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.678) hätten dem Gericht zur Verfügung gestanden. Ebenso aus der Sicht des Ermittlers Rückerl, »NS-Prozesse«, S. 29. Ganz anders hingegen die Bewertung der Beweismittel durch Bauer, Humanität, S. 108.
- Siehe den Aufsatz von Franciszek Brol, Gerard Włoch, Jan Pilecki, »Das Bunkerbuch des Blocks 11 im Nazi-Konzentrationslager Auschwitz« und die Textreproduktion der Quelle in: Hefte von Auschwitz, H. 1 (1959), S. 7–42 und 45–85.
- Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.), Sterbebücher von Auschwitz. Fragmente. Bd. 1: Berichte, 214 S.; Bd. 2: Namensverzeichnis A–L; Bd. 3: Namensverzeichnis M–Z, Annex, zus. 1654 S. München u.a.: K. G. Saur Verlag, 1995.
- KL Auschwitz in den Augen der SS. Höss–Broad–Kremer, Oświęcim: Verlag Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1973, S. 137–200. – Siehe auch die maschinenschriftliche Abschrift des von Broad handschriftlich abgefassten Berichts, die zu den Akten gegeben wurde (4 Ks 2/63, Bd. 99, Anlage 3 zum Protokoll vom 25.6.1964). Mit Schreiben vom 30.12.1963 hatte die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Großbritannien den Bericht in einer beglaubigten Abschrift an die Frankfurter Staatsanwaltschaft gesandt. Der Bericht war der deutschen Botschaft von Hermann Rothmann übergeben worden. (Vermerk StA Vogel vom 8.1.1964, Privatbesitz Fritz Vogel). Der Broad-Bericht wurde in der Hauptverhandlung vom 20.4. und 5.6.1964 verlesen. Um seine Authentizität zu beweisen, wurden am 20.4.1964 auf Antrag der StA der Zeuge Rothmann und am 1.10.1964 auf Antrag der RAe Ormond und Raabe die Zeugen Cornelis van heit Kaar und Paul Winter gehört. Siehe hierzu im Urteil (4 Ks 2/63, Urteil, S. 88 f.). Kritisch zu dem Bericht als Beweismittel RA Steinacker in seinem Plädoyer für Dylewski und Broad, 11. und 14.6.1965, S. 162–164 (FBI, SAP, FAP-1/V-4) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.667 ff. Mit Sicherheit, so Steinacker, könne nicht ausgeschlossen werden, »dass dem Bericht auch von dritter Seite irgendwelche Zusätze, Vergröberungen usw. beigefügt worden sind«.
- KL Auschwitz in den Augen der SS, S. 201-286.
- Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Eingel. und komm. von Martin Broszat, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1958, 184 S.; München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1963, 189 S. (dtv 114).
- Siehe z.B. 4 Ks 2/63, Urteil, S. 315.
- Hierzu auch die Ausführungen Hofmeyers in seinem Vortrag (Hofmeyer, »Probleme«, S. C40).
- Siehe die Ausführungen von Ormond, Plädoyer, S. 19.
- Siehe die Ausführungen im Urteil (4 Ks 2/63, Urteil, S. 107–110). Wie die Überlebenden die gebotene Befragung durch das Gericht empfunden haben, hat die einfühlsame Prozessbeobachterin Emmi Bonhoeffer in einem erhellenden Bild zum Ausdruck gebracht. Den Zeugen kam es vor, »als hielte man ihnen aus einer Wüste erlebten Unrechts ein Sandkorn vor, und sie sollten sagen, ob es gelb oder braun gewesen sei« (Bonhoeffer, Zeugen im Auschwitz-Prozess, S. 22).
- Siehe 4 Ks 2/63, Urteil, S. 139.
- Siehe BGHSt, Bd. 8 (1956), S. 73: »Die Täterschaft unterscheidet sich von der Beihilfe nicht nach dem äußeren Tatbeitrag, sondern nur nach der Willensrichtung der Beteiligten.«
- Siehe die Entscheidung des Reichsgerichts im »Badewannen-Fall« (RGSt, Bd. 74 (1941), S. 84–86). Entscheidend für die Frage, ob auf Täterschaft oder Beihilfe zu befinden ist, sei, »ob der Beschuldigte die Ausführungshandlung mit Täterwillen unternommen, d.h. die Tat als eigene gewollt hat, oder ob er damit lediglich eine fremde Tat als fremde hat unterstützen wollen. Nur im ersten Fall ist er Täter, im zweiten bloßer Gehilfe«. Und: »Ob jemand die Tat als eigene will, richtet sich vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, nach dem Grade seines eigenen Interesses am Erfolg.« (ebd., S. 85) Siehe hierzu kritisch BGHSt, Bd. 8 (1956), S. 393–399, hingegen aber die Entscheidung im Fall Staschynskij (BGHSt, Bd. 18 (1963), S. 87–96). Zur Problematik der subjektiven Teilnahmetheorie siehe u.a. Hans Welzel, »Zur Kritik der subjektiven Teilnahmelehre« (in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Jg. 2 (1947), Nr. 12, Sp. 645–650), zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Walter Sax, »Der Bundesgerichtshof und die Täterlehre. Gedanken zum Sta(s)chynskij-Urteil« (in: Juristenzeitung, Jg. 18 (1963), Nr. 11/12, S. 329–338), kritisch zur sogenannten Gehilfen-Rechtsprechung Falko Kruse, »NS-Prozesse und Restauration« (in: Kritische Justiz, Jg. 11 (1978), H. 2, S. 109–134) und ders., »Zweierlei Maß für NS-Täter?« (in: Kritische Justiz, Jg. 11 (1978), H. 3, S. 235–252), insbesondere Barbara Just-Dahlmann und Helmut Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, 1988.
- »Die Besonderheit in diesem Verfahren, die es gleichzeitig schwer macht, den tatsächlichen Willen und die wahre innere Einstellung« der Angeklagten »vor 20 Jahren zu erforschen, liegt darin, dass es sich um staatlich befohlene Massenmorde handelt, bei denen die Verbrechensantriebe von dem Träger der höchsten Staatsgewalt ausgingen, auf dessen Befehl eine riesige Organisation zur Tötung von Millionen Menschen aufgebaut worden war.« Die Angeklagten waren »in diese(n) Apparat hineinbefohlen worden. In Auschwitz« waren sie »ein Rad in der gesamten ›Vernichtungsmaschinerie‹, die durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von Menschen ›funktionierte‹« (4 Ks 2/63, Urteil, S. 138).
- Viele NS-Täter beteuerten in Vernehmungen, sie seien von der »Notwendigkeit der Befehle« überzeugt gewesen.
- Im Urteilstenor (4 Ks 2/63, Urteil, S. 5) ist hinsichtlich Boger einzig von Mord die Rede. Siehe aber die Ausführungen im Urteil (4 Ks 2/63, Urteil, S. 229 und 233) bezüglich Bogers Mitwirkungen bei Bunkerentleerungen und Erschießungen an der Schwarzen Wand sowie der gemeinsam mit Josef Erber/Houstek durchgeführten Erschießung von 100 Mitgliedern des Sonderkommandos nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 7. Oktober 1944. Hierbei handelte es sich nach Erkenntnis des Gerichts um gemeinschaftlichen Mord.
- Siehe Friedrich Hoffmann, Die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Hessen, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2001, S. 232–240.
- Von der obersten Befehlsebene bis hinunter zum kleinen Befehlsempfänger war, wie Herbert Jäger in seiner großen Darstellung anhand von Dokumenten und durch Auswertung von Schwurgerichtsurteilen zeigt, ein Unrechtsbewusstsein vorhanden. Siehe Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Olten und Freiburg i. Br.: Walter Verlag, 1967, S. 161–325.
- In Anlehnung an die herrschende Rechtsprechung (siehe BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 391–403; ebd., Bd. 2 (1952), S. 173–180 und S. 234–242; ebd., Bd. 3 (1953), S. 357–368) ging das Schwurgericht von einem Kernbereich des Rechts (4 Ks 2/63, Urteil, S. 130), von überpositiven, unveräußerlichen Rechtsgrundsätzen aus, denen alle nationale Gesetzgebung unterworfen sei. Unrecht war nicht Recht, auch wenn es von der Staatsführung mit vorgeblich gesetzgeberischer Kraft (Hitler als oberster Gesetzgeber, der »Führerwille« als Gesetz) befohlen worden war. Zur Judikatur des Bundesgerichtshofs siehe Hermann Weinkauff, »Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes«, in: NJW, Jg. 13 (1960), H. 38, S. 1689–1696. Gustav Radbruch zufolge stand gesetzlichem Unrecht im NS-Staat übergesetzliches Recht entgegen (ders., »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Jg. 1 (1946), Nr. 5, Sp. 105–108 sowie ders., »Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Sondernummer (März 1947), Sp. 131–136).
- 4 Ks 2/63, Urteil, S. 135.
- Nach Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHSt, Bd. 5 (1954), S. 239–245) begründet nur das sichere Wissen des Befehlsausführenden um den verbrecherischen Zweck des Befehls dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit.
- Das Strafrecht, entschied der Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.1.1952 – 1 StR 485/51, »kennt keinen Entschuldigungsgrund des blinden Gehorsams und kann ihn nicht anerkennen, weil es damit die Grundlagen der Verantwortlichkeit des Menschen als Person aufgeben würde«. Und: »Wer sich freiwillig fremdem Willen unterwirft, bleibt strafrechtlich verantwortlich.« (in: NJW, Jg. 5 (1952), H. 21, S. 835)
- Siehe hierzu umfassend Jäger, Verbrechen, S. 79-160.
- Siehe die von Buchheim genannten Möglichkeiten, sich den Befehlen zu entziehen (Buchheim u.a., Anatomie, Bd. I, S. 348 ff.)
- Siehe hierzu den vorzüglichen Aufsatz von Günter Bertram, »Vergangenheitsbewältigung durch NS-Prozesse? Individualschuld im ›Staatsverbrechen‹«, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 2, hrsg. von Ursula Büttner, Hamburg: Christians Verlag, 1986, S. 423.
- Breitwieser hatte keinen Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft (4 Ks 2/63, Bd. 123, Bl. 19.556). Die im Laufe des Prozesses den freigesprochenen Angeklagten Schatz, Schoberth und Breitwieser erwachsenen Auslagen wurden nicht der Staatskasse auferlegt (4 Ks 2/63, Bd. 123, Bl. 19.553).
- 4 Ks 2/63, Urteil, S. 151. Zum Strafmaß führte Hofmeyer in seiner mündlichen Urteilsbegründung aus, »das Menschenleben« sei für eine »gerechte Sühne […] viel zu kurz« (Tonbandmitschnitt, 19.8.1965, 182. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.686).
- Hanack reklamierte für die NS-Täter »übergesetzliche Schuldminderungsgründe«; siehe Ernst-Walter Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher. Tübingen: J. C. B. Mohr Verlag, 1967 (ebenso in: Juristenzeitung, Jg. 22 (1967), H. 10, S. 297–303 und Jg. 22 (1967), H. 11/12, S. 329–338) sowie ders. »Zur Frage geminderter Schuld der vom Unrechtsstaat geprägten Täter«, in: Probleme der Verfolgung, S. C57 f.
- 4 Ks 2/63, Urteil, S. 152.
- Brief Josef Perseke vom 15.4.1999 (FBI, SAP). Perseke zufolge verwendete er für die Abfassung des Urteils den Tonbandmitschnitt nicht, er stützte sich vielmehr ausschließlich auf seine Mitschrift. Die komplette Mitschrift Persekes ist veröffentlicht in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM).
- Revisionsbegründungen: Schriftsatz RA Aschenauer vom 17.11.1966 (Lucas), (4 Ks 2/63, Bd. 124, Bl. 19.810–19.811); Schriftsatz RA Bürger vom 18.11.1966 (Schlage), (Bd. 124, Bl. 19.812–19.813); Schriftsatz RAe Erhard und Staiger vom 18.11.1966 (Stark), (Bd. 125, Bl. 19.908–19.929); Schriftsatz RA Geis vom 21.11.1966 (Baretzki), (Bd. 126, Bl. 20.294–20.297); Schriftsätze RA Gerhardt vom 21.11.1966 (Baretzki), (Bd. 126, Bl. 20.218–20.275 und 20.276–20.293); Schriftsatz RAe Göllner und Fertig vom 14.11.1966 (Klehr), (Bd. 126, Bl. 20.377–20.389); Schriftsatz RAe Jugl und Reiners vom 15.11.1966 (Kaduk), (Bd. 124, Bl. 19.813–19.837); Schriftsatz RAe Laternser und Steinacker vom 18.11.1966 (Boger, Dylewski, Broad, Frank und Capesius), (Bd. 125, Bl. 19.936–20.217); Schriftsatz RA Müller vom 23.11.1966 (Mulka), (Bd. 124, Bl. 19.890–19.898); Schriftsatz RAe Staiger und Göllner vom 11.11.1966 (Hofmann), (Bd. 126, Bl. 20.298–20.376); Schriftsatz RAe Stolting II und Eggert vom 21.11.1966 (Mulka, Höcker, Lucas und Bednarek), (Bd. 124, Bl. 19.838–19.889). Die StA als Gegner der Beschwerdeführer reichte mit Datum vom 5.5.1967 ihre Gegenerklärung (Bd. 127, Bl. 20.533–20.690) ein.
- Scherpes und Hantls zeitige Zuchthausstrafen (Scherpe: viereinhalb Jahre Zuchthaus, Hantl: dreieinhalb Jahre Zuchthaus) waren durch die erlittene Untersuchungshaft verbüßt, so dass beide am 20.8.1965 auf freien Fuß gesetzt wurden (Siehe Abgangsmitteilungen vom 20.8.1965, 4 Ks 2/63, Bd. 94, Bl. 18.982 und 18.983). Scherpes Verteidiger Knögel und Reiners nahmen mit Schriftsatz vom 17./18.11.1966 die mit Schriftsatz vom 24.8.1965 eingelegte Revision zurück (siehe 4 Ks 2/63, Bd. 123, Bl. 19.603 und Bd. 124, Bl. 19.807).
- RAe Ormond und Raabe legten Revision in den Fällen Mulka, Höcker, Stark, Dylewski, Broad, Lucas, Frank, Schatz und Capesius ein (4 Ks 2/63, Bd. 123, Bl. 19.609 und Bd. 124, Bl. 19.809). RA Kaul focht das Urteil gegen Mulka und Höcker an (4 Ks 2/63, Bd. 123, Bl. 19.605–19.606).
- 4 Ks 2/63, Bd. 124, Bl. 19.808 (18.11.1966) und Bd. 127, Bl. 20.691–20.694 (9.5.1967). In dem bereits erwähnten Vermerk vom 9.6.1967 hielt der Beamte des Hessischen Justizministerium fest: »Im übrigen erscheint es mir unverständlich, dass die Staatsanwaltschaft zur Begründung der Revision von nur 4 Seiten eine so lange Zeit gebraucht hat, wobei ich nicht verkenne, dass umfangreiche Gegenerklärungen zu den Revisionsbegründungen der Verteidiger abgegeben werden mussten.« (Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. VI, Bl. 285)
- 4 Ks 2/63, Bd. 128, Bl. 20.761–20.826. Das Revisionsverfahren erstreckte sich über neun Verhandlungstage (14.1.–20.2.1969). Nach Auffassung von Perseke, der das Urteil absetzte, hat der Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung die Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts auf unzulässige Weise bewertet. Siehe Interview mit Josef Perseke, 19.12.1997 (FBI, SAP, FAP-1/I-2).
- Die Bundesrichter Paulheinz Baldus, Ferdinand Kirchhof, Ernst Henning, Werner Baumgarten, Hans Erich Müller.
- 4 Ks 2/63, Bd. 124, Bl. 19.810–19.811, Schriftsatz RA Aschenauer vom 17.11.1966.
- Siehe 143. Verhandlungstag, Sitzung vom 11.3.1965, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 30.465.
- 4 Ks 2/63, Bd. 128, Bl. 20.959–20.993; siehe Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXXIV, Lfd. Nr. 740, S. 643–661.
- Die Beisitzer waren Landgerichtsdirektor Emil Möller und Landgerichtsrätin Ingrid Ohm.
- Ebd., Bl. 20.983.
- Ebd., Bl. 20.984.
- Ebd., Bl. 20.887-20.888.
- Zu den Erscheinungsformen totalitärer Kriminalität, zur Typologie der Taten siehe die Arbeit von Jäger, Verbrechen, S. 19–78 sowie ders., »Verbrechen unter totalitärer Herrschaft«, in: Handwörterbuch der Kriminologie. Bd. 3. 2., neu bearb. Aufl., hrsg. von Rudolf Sieverts und Hans Joachim Schneider, Berlin, New York: de Gruyter Verlag, 1975, S. 453–464.
- Die Rede von »Vernichtungsprogramm« und »Gesamtplan« gilt für die Zeit der mit Frühjahr/Sommer 1942 einsetzenden Massenvernichtungen in Auschwitz, mit Beginn der sog. Jüdischen Periode (siehe Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990, Oświęcim: Verlag Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1993, S. 31 sowie Yisrael Gutman, Shmuel Krakowski, »Juden im KL Auschwitz«, in: Sterbebücher, Bd. 1, S. 164). Die von der neueren Holocaust-Forschung dargelegte stufenförmige Radikalisierung der deutschen Vernichtungspolitik steht der obigen Auffassung, es habe sich mit Beginn der Tötungen in Gaskammern um ein »Programm« und einen »Plan« gehandelt, nicht entgegen. Grundlegend und umfassend siehe Peter Longerich, Politik der Vernichtung, der bezüglich der Vernichtungspolitik für die Zeit seit Mitte 1942 explizit von einem »Gesamtprogramm« (ebd., S. 475) spricht.
- Siehe Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1989 und Franciszek Piper, Auschwitz: Wie viele Juden, Polen, Zigeuner wurden umgebracht, Kraków: Universitas Verlag, 1992 sowie ders., Zahl der Opfer. Nach einer vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau erarbeiteten Aufstellung kamen insgesamt rund 3300 Einzel-, Sammel- und Massentransporte nach Auschwitz.
- Kritisch zum Konzept der juristischen Bewertung der Beteiligung am Holocaust siehe Gerhard Werle, »Der Holocaust als Gegenstand der bundesdeutschen Strafjustiz«, in: NJW, Jg. 45 (1992), H. 40, S. 2529–2535 sowie Werle/Wandres, Auschwitz, S. 34–40. Der Mord an den europäischen Juden war Werle zufolge für das Recht des Dritten Reiches rechtmäßig. Da der »Führerwille« Rechtsquelle und Ausgangspunkt des gesamten NS-Rechts gewesen sei, sei der Befehl zur Vernichtung der Juden rechtsverbindlich gewesen. Das zur Tatzeit geltende Strafrecht, das die bundesdeutsche Justiz zur Grundlage der Ahndung der NS-Verbrechen machte, war durch die rechtsetzenden »Führerbefehle« suspendiert. Die Exekutoren der »Endlösung« handelten sonach im Rahmen der nationalsozialistischen Rechtsordnung nicht rechtswidrig. Das Versagen des Gesetzgebers, die gebotenen rechtspolitischen Schritte angesichts der Art der zu ahndenden Verbrechen zu tun, bleibt zu konstatieren (Werle/Wandres, Auschwitz, S. 215). Siehe u.a. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München: Piper Verlag, 1966, S. 42 f. und 58–66; Peter Noll, »NS-Verbrecherprozesse«, S. 47; Bernd Hey, »Die NS-Prozesse – Versuch einer juristischen Vergangenheitsbewältigung«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 32 (1981), H. 6, S. 331–362 sowie ders. »Die NS-Prozesse – Probleme einer juristischen Vergangenheitsbewältigung«, in: Jürgen Weber und Peter Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München: Olzog Verlag, 1984, S. 56 f. – Werle stellt richtig fest: »Das menschheitswidrige Staatsverbrechen kann seiner Natur nach erst nach dem Zusammenbruch des organisierenden Systems bestraft werden. Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat sich der Entscheidung verweigert. Er hat auf Sonderregeln für die Bestrafung der NS-Verbrechen verzichtet und die strafjuristische Verarbeitung des Holocaust allein der Justiz überlassen.« (Werle, »Holocaust«, S. 2535; ebenso Werle/Wandres, Auschwitz, S. 39). Zur Frage der rückwirkenden Bestrafung der NS-Täter, zur Suspendierung des Rückwirkungsverbots bezüglich der NS-Verbrechen siehe die Aufsätze von Friedrich Dencker, »Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Lehren aus der Justizgeschichte der Bundesrepublik«, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung, Jg. 73 (1990), H. 3/4, S. 299–312 und Bernhard Schlink, »Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht«, in: Helmut König, Michael Kohlstruck, Andreas Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 433–451.
- Mit Gesetz vom 9.8.1954 (BGBl., Teil II, Nr. 15 (1954), S. 729) trat die Bundesrepublik Deutschland der Völkermord-Konvention vom 9.12.1948 bei. Der neue Straftatbestand fand Aufnahme in das Strafgesetzbuch (§ 220a).
- Zum Wesen totalitärer Herrschaft siehe Hans Buchheim, Totalitäre Herrschaft. Wesen und Merkmale, München: Kösel Verlag, 1962.
- Fritz Bauer, »Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit«, in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965, München u.a.: Desch Verlag, 1965, S. 307; ebenso in: Bauer, Humanität, S. 83.
- Fritz Bauer, »Ideal- oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen?«, in: Juristenzeitung, Jg. 22 (1967), Nr. 20, S. 627.
- Ebd.
- Bauer, »Im Namen des Volkes«, S. 308; ebenso: Bauer, Humanität, S. 84.
- Bauer, »Ideal- oder Realkonkurrenz«, S. 628.
- Bauer, »Im Namen des Volkes«, S. 307 f.; ebenso: Bauer, Humanität, S. 83 f. Siehe auch Protokoll der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen«, S. 22 f. (Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden, Abt. 503, Nr. 1161).
- Fritz Bauer, »Zu den Naziverbrecher-Prozessen« (Das politische Gespräch, NDR, 25. und 28.8.1963), in: Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur, Jg. 15 (15.9.1963), H. 18, S. 567 f.; ebenso in: Bauer, Humanität, S. 108.
- Wie noch gezeigt wird, hat die Staatsanwaltschaft eine von Bauer teilweise abweichende, d.h. differenziertere Auffassung dargelegt.
- 4 Ks 2/63, Bd. 111, Anlage 1 zum Protokoll vom 6.5.1965, siehe ebenso Protokoll, Bl. 1452. Siehe auch den Antrag vom 3.5.1965 der StA bezüglich der Rechtsbelehrung der Angeklagten. Laut Sitzungsprotokoll vom 3.5.1965 beantragte die StA, »die Angeklagten gemäß § 265 StPO [lt. Eröffnungsbeschluss (4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.069–17.103) waren die Angeschuldigten dringend verdächtig, in Auschwitz Verbrechen nach § 211 StGB aF und nF, §§ 43 aF, 47 aF, 49 aF, 74 aF StGB begangen zu haben; die Angeklagten waren somit aufgrund der neuen Rechtsauffassung der Anklagebehörde auf die veränderte Rechtslage hinzuweisen; W.R.] darauf hinzuweisen, dass nicht nur § 74 StGB, sondern auch § 73 StGB bei der Urteilsfindung mit herangezogen werden kann« (ebd., Bl. 1445). Die nachfolgend genannten Paragraphen des Strafgesetzbuches sind heute unter anderen Paragraphenzahlen im StGB aufgeführt: § 43, neu § 22; § 47, neu § 25 Abs. 2; § 49, neu § 27; § 73, neu § 52; § 74, neu § 53 StGB.
- 4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9379-9547.
- 4 Ks 2/63, Bd. 52, Bl. 9456.
- 4 Ks 2/63, Bd. 61, Bl. 11.329-11.335.
- 4 Ks 2/63, Bd. 61, Bl. 11.470a-11.470e.
- 4 Ks 2/63, Bd. 65, Bl. 12.175-12.178.
- 4 Ks 2/63, Bd. 54, Bl. 9890-9894.
- 4 Ks 2/63, Bd. 53, Bl. 9628–9671 (Baer u.a.), Bd. 54, Bl. 9894–9895 (Scherpe), Bd. 61, Bl. 11.337–11.338 (Lucas und Höcker), Bd. 61, Bl. 11.470d–11.470e (Schlage), Bd. 65, Bl. 12.191–12.192 (Neubert).
- 4 Ks 2/63, Bd. 78, Bl. 14.663.
- 4 Ks 2/63, Bd. 78, Bl. 14.618.
- 4 Ks 2/63, Bd. 88, Bl. 17.069-17.103.
- OStA Großmann, Plädoyer vom 7.5.1965, S. 16 (FBI, SAP, FAP-1/StA-1) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.831. In einem Entwurf des Plädoyers heißt es: »Das durch die Dauer der Anwesenheit umgrenzte Gesamtverhalten der Angeklagten in Auschwitz bildet dabei in rechtlicher Konsequenz aus der Perspektive der dieses Gesamtgeschehen umfassenden psychischen Mittäterschaft oder Beihilfe eine natürliche Handlungseinheit.« OStA Großmann, Entwurf, S. 14 (FBI, SAP, FAP-1/StA-1).
- StA Vogel, Plädoyer zu Stark, 7. und 10.5.1965, S. 72 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 32.945 ff. Die »Vorgänge in Auschwitz« waren ein »ununterbrochenes, planvolles Morden, das […] ohne Unterlass seinen Lauf nahm« (StA Vogel, Plädoyer zu Hofmann, 14.5.1965, S. 7 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.297.
- StA Vogel, Plädoyer zu Hofmann, 14.5.1965, S. 29 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.331.
- Johann Paul Kremer, von Ende August 1942 bis Mitte November 1942 in Auschwitz als Lagerarzt tätig, hat in den zehn Wochen seiner Anwesenheit in Auschwitz nach eigenen Angaben (siehe sein Tagebuch in: KL Auschwitz in den Augen der SS. Höss–Broad–Kremer, Oświęcim: Verlag Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1973, S. 215, 217–219, 221–227, 232 und die richterliche Vernehmung vom 7.2.1962, 4 Ks 2/63, Bd. 61, Bl. 11.441–11.446) an 14 »Sonderaktionen«, d.h. Selektionen auf der Rampe, teilgenommen. In den Monaten September bis November 1942 kamen mindestens 70 RSHA-Transporte in Auschwitz an.
- RA Raabe, Plädoyer vom 21.5.1965, S. 84 (FBI, SAP, FAP-1/NK-11) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.945.
- Ebd., S. 85 und ebd.
- Ebd. und ebd.
- BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 219–222, ebenso in: NJW, Jg. 4 (1951), H. 16/17, S. 666–667 und in: Juristenzeitung, Jg. 6 (1951), H. 15/16, S. 519. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch RA Kaul ziehen die zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs heran und verweisen darauf, dass die von ihnen vertretene Rechtsauffassung den Bedenken des Revisionsgerichts standhält.
- Ebd., S. 88. – In seinem Plädoyer im 2. Auschwitz-Prozess revidierte Raabe seine Auffassung und stimmte der Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft zu (Plädoyer vom 16.8.1966, FBI, SAP, FAP-2/NK-2).
- Ormond, Plädoyer, S. 53.
- Ormond verwies auf: BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 219–222 (Az.: 1 StR 129/51); 5 StR 4/62 (abgedruckt in: Justiz und NS-Verbrechen, Lfd. Nr. 511, Bd. XVII, S. 491–495) und 1 StR 540/62 (abgedruckt in: Justiz und NS-Verbrechen, Lfd. Nr. 526, Bd. XVIII, S. 127–132). Raabe zieht außerdem noch die Entscheidung 2 StR 594/62 heran.
- Friedrich Karl Kaul, Schlussvortag vom 21.5.1965, o. O., o. J., S. 30 ff.
- Friedrich Karl Kaul, Erwiderung vom 29.7.1965, o. O., o. J., S. 22. Siehe auch Kaul, Schlussvortrag, S. 41. Kaul führt die Erfordernisse an, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs (siehe den ersten Teil der Studie von Manfred Maiwald, Die natürliche Handlungseinheit, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1964, S. 13–58) dargelegt sind.
- BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 222.
- Kaul, Erwiderung, S. 23.
- RA Steinacker, Plädoyer für Dylewski und Broad, 11.u. 14.6.1965, S. 15 (FBI, SAP, FAP-1/V-4) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.667 ff.
- Laternser, Seite, S. 189.
- Ebd., S. 190.
- RA Erhard, Plädoyer für Stark, Teil I, 4.6.1965, S. 77 f. (FBI, SAP, FAP-1/V-9) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 34.272 ff.
- 4 Ks 2/63, Urteil, S. 127, Bd. 114 d. A.
- Das Gericht (4 Ks 2/63, Urteil, S. 78 ff.) orientierte sich an den Ergebnissen der damaligen Forschung, die durchweg von der Annahme eines Befehls Hitlers ausging. Siehe die Gutachten in: Buchheim u.a., Anatomie, Bd. I, S. 81, 148 und 327 sowie Bd. II, S. 130 und 361.
- Ebd., S. 132.
- Ebd., S. 133.
- Ebd.
- Ebd., S. 133 f.
- BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 20–22. Die Vernichtung eines RSHA-Transportes beruhte auf je einer Willensbetätigung je eines Mitwirkenden. Im Rechtssinne war mithin je eine Handlung gegeben, durch die dasselbe Strafgesetz (§ 211 StGB) mehrmals (Mindestanzahl der vergasten Juden) verletzt wurde. Siehe auch BGHSt, Bd. 6 (1954), wo es heißt: »Ob im Rechtssinne eine oder mehrere Handlungen vorliegen, ist jedoch allein davon abhängig, ob im natürlichen Sinne eine Willensbetätigung und damit eine Handlung gegeben ist oder ob mehrere Willensbetätigungen vorliegen und rechtlich zu beurteilen sind«(ebd., S. 81).
- 4 Ks 2/63, Urteil, S. 134, Bd. 114 d. A.
- 4 Ks 2/63, Bd. 123, Bl. 19.607. Die StA legte Revision ein, soweit das Urteil »die Angeklagten Mulka, Höcker, Dr. Capesius, Dr. Schatz, Dylewski, Broad, Stark und Schlage« betraf. Mit Schriftsatz vom 18.11.1966 beantragte die Anklagebehörde »das Urteil im angefochtenen Umfang aufzuheben« (ebd., Bd. 124, Bl. 19.803).
- 4 Ks 2/63, Bd. 127, Bl. 20.691–20.694. Einem im Hessischen Ministerium der Justiz angefertigten Vermerk vom 9.6.1967 zufolge beruhte »die Revisionsbegründung des OStA […] auf der vom GStA (Generalstaatsanwalt, d. Verf.) vertretenen Theorie, dass alle Taten zur Ausrottung der Juden als natürliche Handlungseinheit angesehen werden müssten«. Dem Verfasser des Vermerks erschien es »zweckmäßig«, auch wenn »gegen diese Auffassung […] erhebliche Bedenken bestehen, […] die Rechtsfrage, die für eine ganze Reihe weiterer NS-Verbrechen von Bedeutung ist, durch den Bundesgerichtshof klären zu lassen« (Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden, Az.: III (IV – 1076/59), Bd. VI, Bl. 285).
- 4 Ks 2/63, Bd. 127, Bl. 20.691.
- Siehe den Aufsatz von Thilo Kurz, »Paradigmenwechsel bei der Strafverfolgung des Personals in den deutschen Vernichtungslagern«, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), Jg. 8 (2013), H. 3, S. 122–129 (http://www.zis-online.com/dat/artikel/2013_3_739.pdf). Kurz verweist darauf, dass in der 1960er Jahren in Prozessen gegen Personal der Vernichtungslager Treblinka, Sobibór und Chełmno die Gerichte und der BGH das Vernichtungsgeschehen als eine Tat im Rechtssinne betrachteten.
- Hofmeyer, »Probleme«, S. C38 f.
- Siehe Bauer, »Im Namen des Volkes«, S. 307 f.
- Hofmeyer, »Probleme«, S. C39. In seiner am 19./20.8.1965 vorgetragenen Urteilsbegründung ging Hofmeyer ausführlich auf den Beweiswert der Zeugenaussagen ein, verwies auf die Gefahr von »Justizirrtum« wie im »Fall Otto Hoppe« und unterstrich, das Gericht habe »alles vermieden, was irgendwie auch nur im entferntesten auf eine summarische Entscheidung hindeuten könnte« (Tonbandmitschnitt, 19.8.1965, 182. Verhandlungstag, in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 36.682). Siehe hierzu Eugen Kogon, »Zeugen in KZ-Prozessen«, in: Frankfurter Hefte, Jg. 20 (1965), H. 9, S. 600 und Laternser, Seite, S. 375 f.
- 4 Ks 2/63, Bd. 128, Bl. 20.820; ebenso in: NJW, Jg. 22 (1969), H. 46, S. 2056 f.
- 4 Ks 2/63, Bd. 128, Bl. 20.820R.
- BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 222.
- Ebd.
- StA Vogel, Plädoyer zu Stark, 7. und 10.5.1965, S. 71 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.049 f.
- Ebd. und ebd.
- StA Vogel, Plädoyer zu Schoberth, 10.5.1965, S. 7 (FBI, SAP, FAP-1/StA-2) und in: Der Auschwitz-Prozeß (DVD-ROM), S. 33.200.
- Ebd., S. 7 f.
- BGHSt, Bd. 4 (1954), S. 220; ebenso NJW, Jg. 6 (1953), H. 36/37, S. 1358.
- NJW, Jg. 4 (1951), H. 16/17, S. 666.
- BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 221.
- BGHSt, Bd. 1 (1951), S. 21.
- Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (= RGSt), Bd. 44 (1911), S. 227.
- RGSt, Bd. 58 (1925), S. 116. »Der natürlichen Betrachtung stellt sich als einheitliches Handeln häufig auch eine Kette von Willensbethätigungsakten dar, eine Mehrheit solcher, die ebenso im objektiven Zusammenhange stehen, wie aus einem Willen hervorgegangen sind.« (RGSt, Bd. 32 (1900), S. 138 f.)
- Siehe RGSt, Bd. 76 (1943), S. 143, wo es heißt: »Bei ›Handlungen‹ im engeren Sinne wird Einheit der Handlung i. S. des § 73 StGB. auch da angenommen, wo zwar mehrere gleichartige körperliche Betätigungen vorliegen, diese aber räumlich und zeitlich in so engem Zusammenhange miteinander stehen, dass sie der natürlichen Betrachtung als Einheit erscheinen; man spricht dann von ›natürlicher Handlungseinheit‹.« Richtet sich »ein und dieselbe natürliche Handlung […] als ein einheitlicher Angriff gegen das Leben mehrerer Personen zugleich« (BGHSt, Bd. 2 (1952), S. 247), liegt gleichartige Tateinheit vor.
- RGSt, Bd. 22 (1900), S. 139.
- RGSt, Bd. 76 (1943), S. 144: »Denn Voraussetzung für die Annahme einer ›natürlichen Handlungseinheit‹ muss in jedem Falle sein, dass es sich um innerlich und äußerlich gleichartige Vorgänge handelt.«
- Siehe Maiwald, Handlungseinheit.