Zeugin Helene Schwesig

120. Verhandlungstag 10.12.1964

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

120. Verhandlungstag, 10.12.1964

Vernehmung der Zeugin Helene Schwesig

Vorsitzender Richter:

Daß wir Ihre Aussage auf ein Tonband nehmen zum Zweck der Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, bitte.

Vorsitzender Richter:

Sie waren in Ravensbrück. Wollen Sie uns bitte sagen, wann Sie dort hingekommen sind?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich bin am 21. August 1942 in Ravensbrück eingeliefert worden.

Vorsitzender Richter:

Am 21. August 42. Und warum sind Sie damals dort eingeliefert worden?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich bin am 3. Juli 1942 von einem Frankfurter Sondergericht freigesprochen worden und wurde aufgrund meines politischen Vorlebens – ich war mit viereinhalb Jahren Zuchthaus vorbestraft wegen Vorbereitung zum Hochverrat – wegen staatsfeindlicher Haltung und wegen dieses Vorlebens in das KZ Ravensbrück eingeliefert. So lautete der Schutzhaftbefehl.

Vorsitzender Richter:

Ja. Und wie lang waren Sie in Ravensbrück?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich war bis zum 1. Mai 45 in Ravensbrück. Ich bin durch die Rote Armee befreit worden.

Vorsitzender Richter:

Ja. Frau Schwesig, als Sie dort in Ravensbrück waren, in welchem Block sind Sie untergebracht gewesen? Waren Sie mal in einem Krankenbau?

Zeugin Helene Schwesig:

Nein, ich war nicht im Krankenbau. Ich eignete mich dazu nicht, und ich hätte das auch nicht getan. Ich war Bürofachkraft, und darum habe ich mich bemüht, in einem Büro tätig zu werden. Ich habe zwar zuerst mit den Außenkolonnen ausrücken müssen und habe die schwere Feldarbeit verrichten müssen, aber später ist es mir dann doch gelungen, in einem Büro eine Tätigkeit zu finden. Die ausländischen Kameraden, die wohl ganz gut Deutsch sprachen, waren aber im Schriftverkehr nicht sicher, so daß die SS doch die deutschen Kräfte bevorzugte. Und so gelang es mir dann Ende 42, im Bekleidungswerk der Waffen-SS als Bürohäftling einen Posten zu finden oder eine Tätigkeit.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ende 44? Ende 44?

Zeugin Helene Schwesig:

Ende 42.

Vorsitzender Richter:

Ende 42.

Zeugin Helene Schwesig:

Ich habe dort für einen Hauptsturmführer den Schriftverkehr und die Hollerith-Buchhaltung geführt.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Und haben Sie während Ihrer Anwesenheit in Ravensbrück auch den Doktor Lucas kennengelernt?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, ich habe auch Herrn Doktor Lucas kennengelernt.

Vorsitzender Richter:

Und wie haben Sie ihn kennengelernt? Wollen Sie uns das mal erzählen?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, ich kann Ihnen das schildern. Ich lag später auf dem Block 1. Nach einigen Wochen, als ich in dem Büro tätig wurde, wurde ich auf den Block 1 gelegt. Und dort traf ich sehr viele alte Kameradinnen aus dem Zuchthaus wieder. Der Block wurde von einer Wienerin geführt, die heute in Österreich im Parlament als Nationalrätin sitzt. Diese Frau[1] hat vorzüglich für uns gesorgt. Die Kameradschaft war übrigens in dem Lager einmalig unter den armen Häftlingen.

Und das Pflegepersonal lag auch auf Block 1, so daß wir auch von diesen Ärztinnen, die im Ausland... Es waren Polinnen, Tschechinnen, auch eine Deutsche war darunter, eine Frau Doktor Kurth aus Köln, die leider hier als Zeugin nicht mehr erscheinen kann. Sie ist 45 in einem schwedischen Lager gestorben noch an Typhus. Sie würde auch Herrn Doktor Lucas entlasten können.

Und dort habe ich ja mit all diesen Leuten vom Revier jeden Abend mich unterhalten. Und ich habe die Zustände im Revier gekannt durch diese Kameraden. Und sie haben mich auch im Block behandelt. Wir hatten keine Courage, ins Revier zu gehen, weil diese angestellten Schwestern auch furchtbar waren. Die Oberschwester ist ja in Hamburg vom englischen Militärgericht zum Tode verurteilt worden.

Vorsitzender Richter:

Wie hieß die?

Zeugin Helene Schwesig:

Weiß ich nicht.

Vorsitzender Richter:

Marschall?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Ja. [Pause] Und was haben Sie da von Doktor Lucas gehört?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich habe Herrn Doktor Lucas einmal abends auf der Lagerstraße gesehen; ich habe beobachtet, daß er ins Revier ging. Und die Ärztinnen und Pflegerinnen vom Revier waren sehr vorsichtig. Sie hätten niemals etwas Gutes über ihn gesagt, um ihn nicht zu gefährden. Wir waren stark durchsetzt mit Spitzeln, die gut bezahlt wurden von diesen Leuten à la Boger, und dieser Mann, der ist auch in Hamburg zum Tode verurteilt worden. Das waren furchtbare Leute, diese Politische Abteilung, und wir Frauen waren sehr vorsichtig. Und da habe ich ihnen erzählt, daß dieser Arzt mich auf der Lagerstraße gegrüßt hätte, als niemand dort war. Ich konnte die Lagerstraße auch passieren, wenn die Blocks schon alle von den Leuten

Vorsitzender Richter:

Geschlossen waren. [dazwischen gesprochen]

Zeugin Helene Schwesig:

Aufgesucht waren, weil ich eine Binde trug und manchmal noch Arbeitskräfte suchen mußte für den Transport, da ich beim Bekleidungswerk der Waffen-SS als Bürohäftling tätig war und der Hauptsturmführer mir manchmal den Auftrag gab, noch eine neue Kolonne... Wenn die Produktion der Uniform so stark lief, dann waren neue Waggons bestellt, und dann mußten wir zusätzlich Transporthäftlinge haben. Die konnte ich mir dann in einigen Blocks mit Hilfe der Blockältesten zusammenstellen lassen.

So passierte ich dann abends noch die Straße. Da hat er mich gegrüßt. Dann habe ich das den Kameradinnen vom Revier erzählt, dann haben sie so gelächelt, und die andern haben gesagt: »Du bist auch schon so weit, du bist auch schon übergeschnappt. Als wenn dich ein Arzt grüßen würde.« Sage ich: »Ich bilde mir bestimmt nichts ein. Aber das war todsicher so.« Und dann haben Sie gar nichts mehr gesagt und haben ihn immer beobachtet, und er war wirklich eine Ausnahme in Ravensbrück.

Vorsitzender Richter:

Können Sie uns Einzelheiten erzählen, warum er eine Ausnahme war?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja. Die Kameradinnen haben dann ganz aufgeregt gesagt... Ich kann Ihnen nur Phasen schildern, ich kann das nicht in Wochen festlegen oder Daten. Wir konnten kein Tagebuch führen. Aber als die offensichtliche Vernichtung losging, da hat man das Jugendlager in der Uckermark geräumt. Dann mußten wir alle antreten, und wir wurden ausgesucht für die Gaskammer. Man hat uns aber nur gesagt, man sortiert nur die Arbeitsunfähigen von den Arbeitsfähigen. Aber wir wußten doch schon, daß es die Vernichtung war. Und wir wußten auch von den Bürohäftlingen, daß sie dieses Zyklon A und B bestellt hatten.

Und dann traten die Ärzte an, darunter ein Doktor Winkelmann und Doktor Trommer und noch viele andere SS-Leute. Und die Aufseherinnen mit den Hunden, die blockierten dann gleich die ausgesuchten Frauen. Und die wurden dann sofort in einem Zug ganz quer durch das Lager zu dem südlichen Ausgang geführt zur Uckermark in das Jugendlager. Dort haben sie noch tagelang und nächtelang stehen müssen, um vollkommen entkräftet zu sein, weil das Gas sonst nicht gewirkt hätte sofort.

Und da haben die Pflegerinnen und die Ärztinnen gesagt, daß sie eine große Diskussion gehört hätten mit den Chefärzten, daß Herr Doktor Lucas sich geweigert hätte, an Selektionen teilzunehmen. Und ich habe ihn auch nie gesehen. Ich habe bestimmt vier- oder fünfmal gestanden.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Wissen Sie etwas darüber, wann Doktor Lucas in das Lager gekommen ist?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, das muß so im Herbst 44, es kann auch November gewesen sein. Es war aber so Ende 44, meine ich. Ich kann mich da aber irren.

Vorsitzender Richter:

Und wissen Sie, wann er weggegangen ist?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, es war Anfang 45.

Vorsitzender Richter:

Und wissen Sie, wieso er dort weggekommen ist?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, eines Tages waren die Pflegerinnen und Ärztinnen ganz aufgeregt. Herr Doktor Lucas war nicht mehr da. Und die SS hat ganz geheimnisvoll getan. Und wir haben alle geglaubt, sie hätten ihn in der Nacht erschossen. Dann sind Pflegerinnen gekommen und haben zu mir gesagt, wir waren nur mit sehr wenigen westdeutschen politischen Häftlingen dort: »Er war aus deiner Heimat, und er hat in Münster studiert, und du mußt dich später mal erkundigen, was aus ihm geworden ist. Er ist bestimmt tot.«

Vorsitzender Richter:

Also Sie wußten nicht, ob er überhaupt weggekommen ist oder ob er getötet worden ist

Zeugin Helene Schwesig:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Geschweige denn, daß Sie wissen

Zeugin Helene Schwesig [unterbricht]:

Nein. Ich hatte mit diesen SS-Leuten, für die ich arbeitete, einen ganz guten Kontakt. Die hatten mit der Kommandantur nichts zu tun, diese Waffen-SS für das Bekleidungslager. Das waren verwundete SS-Leute, die dort für den Kammerdienst eingesetzt waren, und ich habe versucht, sie auszuquetschen. Aber sie haben immer so mit der Schulter gezuckt. Und dann habe ich auch noch den Hauptsturmführer gefragt – das war ein guter Katholik, ich habe ihn immer an den lieben Gott erinnert –, aber er hat gesagt: »I weiß es nicht.« Er sprach bayerisch.

Und dann habe ich mich 45 erkundigt bei der Ernanda Herbermann in Münster – sie war die Sekretärin von Pater Muckermann und ist schon früher entlassen worden –, ob in Münster ein Arzt Doktor Lucas wohnt und dort eine Praxis hat. Aber sie hat sich erkundigt und hat ihn auch nicht ausfindig gemacht, so daß ich glaubte, er sei wirklich tot.

Vorsitzender Richter:

Also Sie wissen nicht, ob er von selbst etwa geflohen ist oder ob er versetzt worden ist oder was mit ihm geschehen ist. Das haben sie damals nicht ergründen können.

Zeugin Helene Schwesig:

Nein, aber wenn er versetzt worden wäre, das hätten wir alle gewußt. Denn das haben die Leute, auch die Offiziere, immer so den nächsten Häftlingen gesagt. Und weil er das eben niemandem gesagt hatte, hat man kombiniert, daß sie ihn erschossen hatten.

Vorsitzender Richter:

Und das ist wann gewesen? Anfang 45, meinten Sie.

Zeugin Helene Schwesig:

Ja, ich meine, es wäre Anfang 45 [+ gewesen]. Aber, wie gesagt, mit der Zeit kann ich mich da irren, mit den Wochen. Es war die letzte grauenhafte Phase, die er dort miterlebt hat, also der Beginn der Vergasung, der offensichtlichen Tötung. Früher waren ja immer Exekutionen oben am Walde. Schöne junge Polinnen hat man immer in Gruppen dort erschossen, wenn wir Appell standen, und viele Menschen sind durch »Spritzen« vernichtet worden. Aber dann, Ende 44, trat die öffentliche Vernichtung mit der Gaskammer ein. Und nachts wurden die Leichen verbrannt. Das ganze Lager stank nach diesen Verbrennungen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Frau Zeugin, ich hatte noch vergessen, vorhin zu fragen, welchen Mädchennamen haben Sie? Sie sind eine geborene?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich bin eine geborene Stommel.

Vorsitzender Richter:

Stommel mit zwei M?

Zeugin Helene Schwesig:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Stommel. Hat das Gericht noch Fragen? Ja, bitte schön.

Richter Hotz:

Frau Schwesig, Sie nannten vorhin den Namen Boger. Gab es einen SS-Mann namens Boger in Ravensbrück?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich habe gesagt à la Boger.

Richter Hotz:

À la Boger. Da habe ich Sie falsch verstanden.

Vorsitzender Richter:

Von seiten der Staatsanwaltschaft? Von seiten des Herrn Rechtsanwalts Ormond? Strodt? Aschenauer? Boger? Doktor Lucas, haben Sie noch etwas zu sagen? Nein. Herr Rechtsanwalt Doktor Eggert auch nicht. Frau Zeugin, was Sie uns gesagt haben, können Sie mit guten Gewissen beschwören?

Zeugin Helene Schwesig:

Ich kann das beeiden.

Vorsitzender Richter:

Wollen Sie den Eid in religiöser oder in bürgerlicher Form

  1. Die Zeugin Schwesig meint die ehemalige Häftlingsfrau Rosa Jochmann. Vgl. Abschrift eines Schreibens der Zeugin Schwesig vom 21.01.1962, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 62, Bl. 11.549.
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