Zeuge Gustav Noßke
1. Frankfurter Auschwitz-Prozess
»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63
Landgericht Frankfurt am Main
146. Verhandlungstag, 26.3.1965
Vernehmung des Zeugen Gustav Noßke
Vorsitzender Richter:
[+ Sind Sie damit] einverstanden, daß ich Ihre Aussage auf ein Tonband nehme zum Zweck der Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?
Zeuge Gustav Noßke:
Jawohl.
Vorsitzender Richter:
Herr Noßke, ist es richtig, daß Sie früher Obersturmbannführer bei der SS waren?
Zeuge Gustav Noßke:
Jawohl. Mit der Einschränkung: SS im SD.
Vorsitzender Richter:
Im SD. Waren Sie auch Leiter der Gestapoleitstelle in Düsseldorf?
Zeuge Gustav Noßke:
Jawohl.
Vorsitzender Richter:
Wollen Sie uns bitte erzählen, wie das im Jahr 44 gewesen ist, als Ihnen angeblich ein Befehl gegeben wurde, Insassen eines bestimmten Gefängnisses erschießen zu lassen.
Zeuge Gustav Noßke:
Da möchte ich kurz folgendes erwähnen: Ein solcher Befehl ist mir nicht gegeben worden.
Vorsitzender Richter:
Sondern? Erzählen Sie uns bitte, wie es gewesen ist.
Zeuge Gustav Noßke:
Anfang September erteilte der Höhere SS- und Polizeiführer Gutenberger über den Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Düsseldorf an die Stapoleiter beziehungsweise Stapoleitstellenleiter des Rheinlandes, also des nunmehr frontnahen Gebietes, den Befehl, alle noch in Mischehe lebenden, also deutschen – arischen, wie man damals sagte – Personen, die mit einer Jüdin, einem Juden verheiratet waren, zu erfassen und zunächst an einem Ort, der noch ausfindig zu machen sei, zu sammeln, dann eine besondere Örtlichkeit ausfindig zu machen, an der dieser Personenkreis unauffällig erschossen werden sollte.
Vorsitzender Richter:
Und zwar beide Ehegatten?
Zeuge Gustav Noßke:
Beide, auch der deutsche Teil. Aus Gründen, die mir nicht näher bekannt sind.
Vorsitzender Richter:
Ja. [Pause]
Zeuge Gustav Noßke:
Ich war über diesen Befehl entsetzt und versuchte, gegenüber dem Inspekteur noch irgendwelche Einwendungen zu bringen. Er schnitt mir das Wort ab. So ging ich denn zunächst auf meine Dienststelle zurück, schloß mich ein, ließ mich von allem fernhalten, um über diesen Befehl nachzudenken.
Ich wurde mit mir allein nicht ganz fertig, weil ich irgendwie eine Lösung nicht finden konnte, und hatte unter den Dienststellenleitern, die auf der Stapoleitstelle beschäftigt waren, doch immerhin einen, den ich vollständig ins Vertrauen ziehen konnte. Und den bat ich zu mir, der genauso entsetzt war wie ich und mit dem ich nun aber mal die ganze Situation durchsprechen konnte und versuchen konnte, irgendwie einen Ausweg zu finden.
Der Vorteil in dieser Situation war, daß mir damit ja noch immerhin einige Zeit gegeben war. Denn allein schon die Erfassung eines solchen Kreises würde ja erhebliche Zeit in Anspruch genommen haben.
Und Herr Burghoff war es, dieser Mitarbeiter, der dann auch einzelne Vorschläge machte, die teils geeignet, teils nicht geeignet schienen. Jedenfalls wurde mir zur Gewißheit, daß Herr Burghoff, wie es damals bei den Staatspolizeistellen der Fall war, Verbindungsleute hatte zu allen, wie damals gesagt wurde, Gegnerkreisen – also zu Kreisen des ehemaligen Zentrums, zu Kreisen der Sozialdemokratie und eben, wie gesagt, auch zu dem Kreis der Juden. Es tat sich also dann die Möglichkeit auf, durch diese Vertrauensleute diese Kreise warnen zu lassen.
Dabei muß ich zunächst noch folgendes einfügen hinsichtlich der Befehlsgewalt des Höheren SS- und Polizeiführers: Wie mir bekannt war, sollte die ausschließliche Befehlsgewalt auf den Höheren SS- und Polizeiführer in dem Augenblick übergehen, in welchem eine Verbindung zu unserer Zentrale, also zum Reichssicherheitshauptamt in Berlin, nicht mehr gewährleistet sei. Diesen Zeitpunkt sah also der Höhere SS- und Polizeiführer gekommen.
In der Tat hatte ich auch selbst zu diesem Zeitpunkt, da ja schon die Feindmächte über Aachen hinaus gedrungen waren, zeitweilig eine Verbindung zum Reichssicherheitshauptamt nicht. Ich mußte also auf die Rückendeckung oder auf das, was ich vielleicht in Berlin durch die engere Verbindung hätte erreichen können, vorerst verzichten. [Pause]
Ich wurde dann nach einigen Tagen wieder zum Inspekteur befohlen, der sich in harten Worten nach dem Stand der Maßnahmen erkundigte. Ich konnte ihm ausweichend sagen, daß ich noch keine [Pause] Gelegenheit gefunden habe, die Örtlichkeiten ausfindig zu machen und dergleichen mehr, und es sei unerhört schwierig. So konnte ich wieder Zeit gewinnen.
Zu diesem Zeitpunkt aber war ich dann zu dem Entschluß gekommen, daß durch den Burghoff und über die Verbindungsmänner jener Personenkreis gewarnt wurde, sich einzeln nach dem Reichsinneren abzusetzen. Es wurde ihnen ungefähr angegeben, wie weit die Befehlsgewalt des Höheren SS- und Polizeiführers oder überhaupt dieser Befehl nur reichen könne. Also schon etwa nach hundert, zweihundert Kilometern landeinwärts konnte dieser Befehl keine Geltung mehr haben.
In welchem Umfange dann davon Gebrauch gemacht wurde, zeigt, daß von dem vielleicht auf 12.000 Personen geschätzten Personenkreis – dem Vernehmen nach, nicht aus eigener Wahrnehmung kann ich das sagen – nur noch eine Anzahl von 600 bis 800 Personen übrigblieb, die dann zwar erfaßt wurde, auf die der Befehl aber nachher, etwa 14 Tage später, nicht mehr angewendet werden konnte.
Ich darf dabei bemerken, daß zwischen der Führung des Reichssicherheitshauptamtes und den Höheren SS- und Polizeiführern seit dem Tode Heydrichs eine sich immer stärkere Spannung abzeichnete. Das ist in Machtkämpfen begründet, weil die Befehlsgewalt und die Möglichkeit, auch über die Organe der Sicherheitspolizei als Höherer SS- und Polizeiführer befehlen zu können, in der normalen Zeit praktisch gleich Null war und nun die Höheren SS- und Polizeiführer allgemein danach trachteten, Positionen aus dieser Schwächung des Reichssicherheitshauptamtes zu gewinnen.
Dann ist es mir später doch noch gelungen, mit Berlin, und zwar mit dem Gruppenführer Müller, Verbindung zu bekommen, dem ich in drastischer Weise schildern konnte, wie grauenvoll, wie unmöglich dieser Befehl sei. Müller hat ihn dann gestoppt und angeordnet, daß der Personenkreis, der dafür in Frage komme, nach Mitteldeutschland, ich glaube, nach Brandenburg, abtransportiert werden sollte.
Inzwischen aber hatte natürlich der Höhere SS- und Polizeiführer die Verhinderung des Befehles erkannt und über Kaltenbrunner meine sofortige Dienstenthebung verfügt. Er wollte mich vor ein SS-Gericht in seinem Bereich stellen. Das war ihm aber nicht möglich, weil ich der SS- und Polizeigerichtsbarkeit Potsdam unterstand. Ich wurde also unter Begleitung nach Potsdam transportiert und dort vor das SS- und Polizeigericht gestellt.
Zum Glück war der dortige Untersuchungsführer, ein Obersturmbannführer, aus früherer Zeit mit mir befreundet. Er war mit einer Holländerin verheiratet. Und ich hatte damals Einfluß genommen, daß die Vertretungsmöglichkeit für Holländer, die von der Sicherheitspolizei erfaßt wurden, in gewissem Umfange gegeben wurde. Ihm konnte ich nun alles sagen, was ich zu sagen hatte.
Es waren natürlich die Anklage oder der Vorwurf des Ungehorsams, des militärischen Ungehorsams, und verschiedene andere Straftatbestände vorgetragen, die, aufs Militärische abgestellt, in diesem Fall an sich keine Anwendung finden konnten, denen aber, wie ich glaube, daß es auch in andern Fällen geschehen ist, hier der Verweigerung oder dem Ausweichen ein militärisches Gewicht beigemessen wurde oder ein Vorwand dafür gegeben wurde.
Jedenfalls ist das Verfahren nicht zur Durchführung gekommen. Er empfahl dem Personalchef meine Verschickung an die Front als einfacher Soldat. Der Befehl wurde binnen drei Tagen ausgeführt. Und da ich früher bei der Artillerie gedient hatte, kam ich wieder, und diesmal nur als Kanonier, zu einer Einheit. Aufgrund eines Befehles, der mir nicht bekannt, aber erklärlich wurde, kam ich dann noch zu einer Umschulung als Vorgeschobener Beobachter. Und das – es ist lediglich eine Vermutung von mir – geschah, weil der Dienst bei der Artillerie als verhältnismäßig sicherer angesehen wurde als der des Frontinfanteristen. Ich habe dann in Polen, Ungarn, Österreich seit Herbst 44 den Feldzug beendet und bin im Mai in Freistadt oberhalb Linz in Gefangenschaft geraten.
Vorsitzender Richter:
Ich hätte da noch eine Frage. Sie haben eben gesagt: »Obwohl es sich hier nicht um militärische Befehle handelte, die auf das Gebiet des Militärstrafrechts an sich nicht angewendet werden konnten, ist es bei mir nicht geschehen, wie das in anderen Fällen der Fall war, daß diese Tatbestände auf militärisches Gebiet übertragen wurden.« Oder so ähnlich haben Sie sich ausgedrückt.
Zeuge Gustav Noßke:
Ja, ich wollte folgendes damit sagen: Wir von der Sicherheitspolizei und dem SD wurden mit Beginn des Krieges dem Militärstrafrecht unterstellt, gleichviel ob wir noch in einer Heimatdienststelle oder in einer Verwendung in den besetzten Gebieten oder frontnahen Gebieten waren. Wir unterlagen also schlechthin den Militärstrafgesetzen. Um aber nun dem Vorwurf mehr Gewicht zu verschaffen, wurden Handlungen, die an sich mit einem militärischen oder in gar keinem militärischen Zusammenhang standen, unter militärstrafrechtliche Bestimmungen subsumiert.
Hier hätte also, weil es das nach meinen Begriffen im Militärstrafrecht nicht gibt, Zivilisten ohne Urteil zu erschießen, ein Straftatbestand des Militärgesetzbuches gar nicht herhalten können. Es wurden also dann Tatbestände des Militärstrafrechts wie Ungehorsam, Feigheit vor dem Feind und dergleichen wie Befehlsverweigerung herangezogen, um solche zivilen Tatbestände aufzunehmen.
Vorsitzender Richter:
Sind Ihnen Fälle bekannt, wo auf diese Art und Weise Menschen, weil sie sich geweigert haben, Zivilisten umzubringen, bestraft worden sind?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Nicht.
Zeuge Gustav Noßke:
Ich kenne keinen Fall einer offenen, das heißt frontalen Befehlsverweigerung. Wohl ist mir ein Fall bekannt, daß ein Obersturmbannführer und Leiter einer Dienststelle in Frankreich, die in der mittleren Stufe die Bezeichnung Kommandeure trugen, im Zuge der rückläufigen Bewegungen des Westfeldzuges sich vorzeitig abgesetzt hatte, um den in einem solchen Fall vor dem Abzug gebotenen Liquidierungsmaßnahmen, die ihm anbefohlen waren, auszuweichen.
Für ihn hat das, was er nicht getan hat, also die Nichterschießung, gar nicht zur Erörterung gestanden, sondern dies Absetzen und die Flucht ohne ausdrücklichen Befehl. Und damit war der Fall für ihn erledigt. Dieser ist erschossen worden. Aber eine offene Befehlsverweigerung ist mir weder aus eigener Kenntnis noch vom Hörensagen bekannt.
Vorsitzender Richter:
Sind noch Fragen von seiten des Gerichts? Von seiten der Staatsanwaltschaft? Herr Rechtsanwalt Ormond?
Nebenklagevertreter Ormond:
Lediglich eine Frage: Wer war der Höhere SS- und Polizeiführer, der damals den Befehl gegeben hat?
Zeuge Gustav Noßke:
Gutenberger. [...]
Nebenklagevertreter Ormond:
Wissen Sie zufällig, ob er noch lebt?
Zeuge Gustav Noßke:
Ja sicher. Er ist in verschiedenen Verfahren verurteilt worden, soweit ich weiß. Jetzt stand doch der Jahrestag der Erschießung des Oberbürgermeisters von Aachen an.
Nebenklagevertreter Ormond:
Aachen. Ja.
Zeuge Gustav Noßke:
Und in diesen Verfahren war er auch mit verwickelt. Von seiner Dienststelle war der Befehl wohl gegeben worden, also vom Hörensagen. Und dieserhalb ist ja auch Gutenberger verurteilt worden.
Nebenklagevertreter Ormond:
Danke sehr.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Raabe.
Nebenklagevertreter Raabe:
Keine Fragen.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Doktor Kaul. Von seiten der Verteidigung? Herr Rechtsanwalt Göllner.
Verteidiger Göllner:
Herr Zeuge, ist der Höhere SS- und Polizeiführer Gutenberger identisch mit dem Inspekteur, von dem Sie sprachen?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Göllner:
Wer war der Inspekteur? [Pause] Wissen Sie das noch? Zu dem Sie damals befohlen wurden, und der sich nach dem Ergebnis der Aktion erkundigte?
Zeuge Gustav Noßke:
[Pause] Ja, fällt mir im Augenblick nicht ein, weil man ja mit diesen Dingen... Aber ich kann es ja noch schriftlich, oder wenn es mir einfällt, nachher hier noch angeben.
Verteidiger Göllner:
Herr Zeuge, Sie haben gesagt, daß für Sie das SS- und Polizeigericht Potsdam zuständig war für diesen Fall. Wieso?
Zeuge Gustav Noßke:
Weil ich vom Reichssicherheitshauptamt, in welchem ich vordem Abteilungsleiter gewesen war, zur Leitung der Stapoleitstelle Düsseldorf abkommandiert war.
Verteidiger Göllner:
Wann ist diese Abkommandierung erfolgt?
Zeuge Gustav Noßke:
1943. [Pause] Ich nehme an, etwa Sommer 1943.
Verteidiger Göllner:
Seitdem waren Sie Leiter der Gestapoleitstelle Düsseldorf?
Zeuge Gustav Noßke:
Kommissarisch, ja.
Verteidiger Göllner:
Früher haben Sie auch eine Gestapoleitstelle geführt, oder waren Sie nur im Reichssicherheitshauptamt?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein, ich habe meine Laufbahn innerhalb der Sicherheitspolizei 1935 begonnen, als ich als Regierungsassessor zur Stapostelle Aachen probeweise abgeordnet wurde.
Verteidiger Göllner:
Herr Zeuge, wo waren Sie in den Tagen der sogenannten Reichskristallnacht?
Zeuge Gustav Noßke:
Da war ich in der Steiermark, in Österreich.
Verteidiger Göllner:
Haben Sie da auch eine Stapostelle geleitet?
Zeuge Gustav Noßke:
Jawohl.
Verteidiger Göllner:
Was haben Sie hinsichtlich der damaligen »Judenaktionen« gemacht? Oder haben Sie sich dagegen zur Wehr gesetzt, und wie?
Zeuge Gustav Noßke:
Da darf ich kurz folgenden Sachverhalt vorausschicken: [Pause] Die Leiter oder entsprechenden Abteilungsleiter des Reichssicherheitshauptamtes, also die Stapoleiter und die entsprechenden Abteilungsleiter oder Referenten des Reichssicherheitshauptamtes wurden regelmäßig zum 9. November nach München befohlen, um an der Vereidigung der jungen SS-Rekruten vor der Feldherrenhalle als Gäste beizuwohnen. Außerdem wurde das Zusammentreffen regelmäßig mit einer Tagung verbunden, bei der über verschiedene Dinge gesprochen wurde oder referiert wurde.
Und gerade in jenen Tagen vom 8. zum 9. waren wir dort und waren auseinandergegangen, als wir noch einmal von Doktor Best zusammengerufen wurden, der uns mit den Vorfällen in dieser Nacht bekanntmachte und uns anwies, auf schnellstem Wege an unsere Standorte zurückzukehren.
Verteidiger Göllner:
Mit andern Worten, Sie haben in diesen Tagen an einer Befehlsstelle der Gestapo nicht mitgewirkt?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Göllner:
Wie hieß der Jugendfreund, von dem Sie sprachen, der mit einer Holländerin verheiratet war und der der Leiter des SS- und Polizeigerichts Potsdam war?
Zeuge Gustav Noßke:
Er war nicht Leiter, er war der Untersuchungsführer.
Verteidiger Göllner:
Der Untersuchungsführer, gut. Also er war praktisch der Vertreter der Anklage in Ihrem Fall?
Zeuge Gustav Noßke:
Ja, darf man wohl sagen, obwohl ich über die Organisationsform des SS- und Polizeigerichts keine Kenntnis habe.
Verteidiger Göllner:
Herr Zeuge, kennen Sie auch den damaligen Vorsitzenden des SS- und Polizeigerichts Düsseldorf?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Göllner:
Kannten Sie ihn?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Göllner:
Wissen Sie nicht, daß das der hier in Frankfurt ansässige Rechtsanwalt Hansen war?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Göllner:
Sie sagten – ich hatte den Eindruck, mit etwas Beklemmung –, daß es Ihnen wesentlich gewesen wäre, zu dem SS- und Polizeigericht in Potsdam transportiert zu werden.
Zeuge Gustav Noßke:
Ja.
Verteidiger Göllner:
War das aus dem Gesichtspunkt, weil das SS- und Polizeigericht in Düsseldorf durch besonders exemplarisch harte Strafen bekannt war?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein. Davon war mir nichts bekannt. Ich hatte mit dem SS- und Polizeigericht nichts zu tun gehabt, obwohl ich weiß
Verteidiger Göllner [unterbricht]:
Herr Zeuge, ist das wirklich richtig? Wenn Sie Leiter der Gestapoleitstelle waren in Düsseldorf, dann mußten Sie doch sämtliche Verfahren vor dem SS- und Polizeigericht entweder in Durchschrift oder durch Berichterstattung erfahren.
Zeuge Gustav Noßke:
Nein, glaube ich nicht.
Vorsitzender Richter:
Das SS- und Polizeigericht bezog sich ja nur auf die Angehörigen der SS und der Polizei, nicht etwa auf die anderen, außerhalb der SS stehenden Menschen.
Verteidiger Göllner:
Herr Präsident, ich will den Zeugen fragen, inwieweit er in dieser Tätigkeit eine Einwirkung auf das SS- und Polizeigericht Düsseldorf hatte. Es ist sicher
Zeuge Gustav Noßke [unterbricht]:
Gar keine.
Verteidiger Göllner:
Daß der Höhere SS- und Polizeiführer, sein Vorgesetzter damals, gleichzeitig der Gerichtsherr für die SS- und Polizeigerichte war. Stimmt das? Oder ging diese Gerichtsherreneigenschaft vorübergehend nach 43 auf Sie persönlich über?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Göllner:
Wenn auch nur vertretungsweise?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein, nein, nein.
Verteidiger Göllner:
Danke.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Doktor Aschenauer.
Verteidiger Aschenauer:
Herr Noßke, Sie haben im Zusammenhang einer nicht offenen Befehlsverweigerung einen Fall, um einem Liquidierungsbefehl auszuweichen, [angeführt]. Ist das der Fall des Kommandeurs der Sicherheitspolizei von Paris, Doktor Neifeind?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Aschenauer:
Ist das der Fall des Kommandeurs der Sicherheitspolizei von Marseille?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein, glaube ich auch nicht.
Verteidiger Aschenauer:
Welchen Fall haben Sie im Auge?
Zeuge Gustav Noßke:
Das muß im Raume Nord-Lothringen, also in diesem Raume, Mittelfrankreich, gewesen sein, bei der Absetzbewegung.
Ich habe ihn mal flüchtig gekannt oder vom Ansehen her, sonst keinerlei Verbindung zu ihm gehabt. Ich habe dann später aber einen Mitarbeiter von ihm getroffen, der mit einem Kriminalrat meiner früheren Dienststelle befreundet war. Und von daher sind mir diese Zusammenhänge bekannt.
Vorsitzender Richter:
Gesprächsweise bekannt, ja?
Zeuge Gustav Noßke:
Ja.
Verteidiger Aschenauer:
Sie machten eine Zäsur im Reichssicherheitshauptamt vor der Zeit des Ablebens Heydrichs und nach der Zeit. In dem Zusammenhang eine einzige Frage: Sahen Sie, als Sie bei dem Einsatzkommando im Süden Rußlands waren, eine Möglichkeit, einen Befehl zu verweigern?
Zeuge Gustav Noßke:
[Pause] Diese Frage kann ich nicht unbedingt mit Ja oder mit Nein beantworten. Also in meiner Situation war es sicherlich leichter, zwar nicht frontal – die frontale Verweigerung, also das offene Hinstellen und Sagen: »Das tue ich nicht, macht mit mir was ihr wollt«, ist weder vorgekommen und wäre bei Ohlendorf insbesondere gar nicht möglich gewesen, gänzlich ausgeschlossen. Er hätte, um das Gefüge, sein Gefüge, nicht einfach ins Nichts vergehen zu lassen, hart durchgegriffen. Und das hätte ihm in seiner zwielichtigen Position oder in seiner Lage, daß er bei Heydrich etwas gutzumachen hatte, nur ein besonderes Ansehen verschafft und ihn sozusagen als harten Mann rehabilitiert, als der er nicht galt, der er aber sein wollte, [weshalb er] in dieser Hinsicht vielleicht um so gefährlicher war.
Aber zwischen Verweigerung und dem Ausweichen, da ist nun meines Erachtens ein großer Spielraum, und der hängt davon ab: Wie kann die Kontrolle zur Durchführung eines Befehls ausgeübt werden? Und wie stark, wie scharf ist das Kontrollorgan, der Vorgesetzte? Unendlich weit weg wie in den Gebieten Rußlands, wo Ohlendorf den Winter über auf der Krim ganz unten saß, während die andern in der Nähe, so im Mittelabschnitt, also vielleicht 1.500 Kilometer entfernt waren, wo Ohlendorf nie hingekommen ist. Da konnte man sich durch Falschberichte oder durch Schilderung einer Situation vollständig der Befehlsausführung entziehen.
Verteidiger Aschenauer:
Danke schön.
Vorsitzender Richter:
Keine Frage mehr. Herr Rechtsanwalt Doktor Eggert.
Verteidiger Eggert:
Herr Zeuge, hingen diese Spannungen zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und dem Höheren SS- und Polizeiführer in irgendeiner Form zusammen mit diesen Friedensfühlern, die Himmler gegen Kriegsende nach Schweden ausgestreckt hat?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein, glaube ich nicht. Sondern es war hier, möchte ich sagen, mehr ein Diadochenkampf. Heydrich hatte es ja verstanden, seine Machtposition auch über die eigentlichen Aufgaben der Sicherheitspolizei hinaus auszudehnen. Und er hatte sich mehr und mehr von Himmler die Befugnisse, den Höheren SS- und Polizeiführern Befehle erteilen zu können, na, [Pause] erworben oder zusichern lassen.
Verteidiger Eggert:
Danke schön.
Zeuge Gustav Noßke:
Und sehr zum Leidwesen und oft eben widerwillig. Aber nach Heydrichs Tod und der längeren Interimszeit, in der es einen Chef der Sicherheitspolizei nicht gab, antichambrierten nun wieder die Höheren SS- und Polizeiführer, um sich für ihre Bereiche auch nach Möglichkeit die Befehlsgewalt über die Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD mehr und mehr zu sichern. Und das wurde ihnen nur dann zugestanden in der letzten Phase des Krieges, wo eben eine Verbindung zur zentralen Führung von Berlin aus nicht mehr möglich war.
Vorsitzender Richter:
Sonst noch eine Frage?
Verteidiger Eggert:
Ja. Herr Zeuge, sind Ihnen während Ihrer Tätigkeit in Düsseldorf auch andere Befehle erteilt worden, die nach heutigem Rechtsempfinden und auch nach dem damaligen formellen Rechtsdenken als verbrecherisch zu gelten hatten?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein.
Verteidiger Eggert:
Der einzige Befehl war
Zeuge Gustav Noßke [unterbricht]:
Der einzige verbrecherische Befehl ist dieser gewesen. Weil ich meine Weisungen im übrigen ja nur von dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin bekam. Und
Verteidiger Eggert [unterbricht]:
Sehr richtig. Aber bitte, ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, Herr Zeuge, etwa ein Befehl, ich sage das ganz theoretisch, zu einer »verschärften Vernehmung« enthält ja nach unserem Strafgesetzbuch, was auch damals galt, ein Verbrechen. Denn die Körperverletzung im Amt ist bekanntlich – es wird Ihnen bekannt sein – mit sehr hohen Strafen bedroht.
Sind derartige Befehle, unabhängig von Mordbefehlen, Befehle rechtswidriger, auch verbrecherischer Art, wenn man an die Zuchthausstrafe denkt, nie erteilt worden? Und mußten Sie solche Befehle nie weitergeben oder ausführen?
Zeuge Gustav Noßke:
In dieser Zeit ist es mir nicht bekanntgeworden.
Verteidiger Eggert:
Was heißt »in dieser Zeit«?
Zeuge Gustav Noßke:
Nichts bekanntgeworden. Ich weiß davon nichts, von einem solchen Befehl.
Verteidiger Eggert:
Ich meinte nicht einen solchen Befehl. Sondern es ist bei Ihnen nie ein Befehl durchgekommen, der gegen die damals geltenden Strafgesetze verstoßen hätte?
Zeuge Gustav Noßke:
Ist mir nicht bekannt.
Verteidiger Eggert:
Danke.
Vorsitzender Richter:
Herr Göllner, wollten Sie noch eine Frage stellen?
Verteidiger Göllner:
Gestatten Sie bitte, Herr Präsident. Herr Zeuge, die von Ihnen geschilderte Erledigung Ihres Verfahrens durch das SS- und Polizeigericht Potsdam, haben Sie die als Ausnahme, als Rechtswohltat Ihnen gegenüber oder als allgemeine Norm der SS- und Polizeigerichtsbarkeit empfunden?
Nebenklagevertreter Raabe:
Ich widerspreche dieser Frage. Die Frage ist beantwortet. Der Zeuge hat gesagt, daß ihm ein weiterer Fall von Befehlsverweigerung gar nicht bekannt ist. Infolgedessen kann er auch nicht wissen, ob das die Norm war oder eine Ausnahme.
Verteidiger Eggert:
Ich sehe mich gezwungen, mich dem Widerspruch des Herrn Nebenklagevertreters anzuschließen und der eigenen Frage meines geschätzten Herrn Mitverteidigers zu widersprechen. Denn auch ich bin der Ansicht, daß die Frage beantwortet ist, nachdem der Zeuge hier ausdrücklich gesagt hat, zu seinem Glück sei Potsdam für ihn zuständig gewesen, und dort habe er einen guten Freund gehabt.
Verteidiger Göllner:
Der Zeuge hat aber – und deshalb ist diese Frage durchaus berechtigt – auf meine Frage vorhin erklärt, daß sein Freund nur Untersuchungsführer, nicht aber der Vorsitzende des SS- und Polizeigerichts gewesen sei.
Vorsitzender Richter:
Aber Herr Rechtsanwalt, es ist doch richtig, was der Rechtsanwalt Raabe sagt, nämlich daß der Zeuge erklärt hat: »Mir ist sonst ein Fall von Befehlsverweigerung nicht bekanntgeworden.«
Verteidiger Göllner:
Das ist ja nur eine Minderung der Frage, die ich stelle.
Hier steht doch folgendes im Raum: Die Verteidigung behauptet in einem umfangreichen Beweisantrag, daß Befehlsverweigerungen nicht mit milden Strafen geahndet wurden im Dritten Reich.[1] Und die Nebenklage behauptet demgegenüber – durch diesen Zeugen als ersten –, das sei praktisch die Regel gewesen, man sei mit Frontbewährung oder Frontabkommandierung gewissermaßen begnadigt worden, wenn man Befehlsverweigerung durchgeführt hätte. Deshalb muß meines Erachtens die Frage zugelassen werden, ob der Zeuge als exponierter Gestapoleitstellenleiter von Düsseldorf hier einen Ausnahmetatbestand sich gegenüber empfand.
Vorsitzender Richter:
Aber, Herr Rechtsanwalt, dazu wäre es doch erforderlich, daß dem Zeugen andere Fälle bekanntgeworden wären. Und wenn ihm keine Fälle bekanntgeworden sind, kann er doch auch nicht wissen, wie es in den anderen Fällen gehandhabt worden ist. Er kann doch gar keine Vergleiche ziehen.
Verteidiger Göllner:
Der Zeuge, Herr Präsident, hat selbst gesagt, daß er sich praktisch als Zivilist in seiner Stellung empfand und daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in das Militärkleid des militärischen Ungehorsams, der Feigheit vor dem Feinde und der Befehlsverweigerung eingekleidet worden waren.
Vorsitzender Richter:
Ja, das hat er gesagt.
Verteidiger Göllner:
Das hat er gesagt.
Vorsitzender Richter:
Und nun?
Verteidiger Göllner:
Und daraus will ich eben von dem Zeugen wissen, ob nach seiner Kenntnis der Dinge... Ich kann den Zeugen noch etwas fragen: Herr Zeuge, ist Ihnen bekannt, daß Ihr Kollege, der frühere Gestapoleitstellenleiter Frankfurt/Main, sich in Norwegen das Leben genommen hat?
Zeuge Gustav Noßke:
Wie ist der Name?
Verteidiger Göllner:
Ich habe es vergessen.
Vorsitzender Richter:
Ich meine, der Leiter der Gestapostelle hier wäre Breder gewesen.
Verteidiger Göllner:
Zuletzt, Herr Präsident.
Vorsitzender Richter:
Und Breder lebt ja noch.
Verteidiger Göllner:
Im letzten Jahr oder in den letzten anderthalb Jahren war es Breder. Ich komme nicht auf den Namen. Er hat mit mir zusammen das Assessorexamen in Berlin gemacht, es war ein großer, blonder Mann. Aber ich kann Ihnen bis heute mittag den Namen sagen. Ich habe ihn notiert.
Vorsitzender Richter:
Also jedenfalls der Zeuge weiß nichts davon.
Zeuge Gustav Noßke:
Ich würde das auch nur vom Hörensagen beantworten können.
Verteidiger Göllner:
Herr Zeuge, haben Sie aus der Lektüre des Mitteilungsblatts der SS- und Polizeigerichtsbarkeit Fälle in Erinnerung, die sich mit Befehlsverweigerung befaßt haben?
Zeuge Gustav Noßke:
Nein. Ich muß sogar
Verteidiger Göllner [unterbricht]:
Ich meine jetzt nicht, in Ihrer Berufsebene
Zeuge Gustav Noßke [unterbricht]:
Allgemein auch nicht.
Verteidiger Göllner:
Sondern auch in der Ebene der Inspektoren, der Sekretäre und weiteren Beamten der Gestapostellen.
Zeuge Gustav Noßke:
Dazu darf ich nur sagen, daß mir nicht einmal dieses Blatt, von dem Sie sprechen, bekannt gewesen ist.
Verteidiger Göllner:
Dann habe ich keine weiteren Fragen mehr.
Vorsitzender Richter:
Keine Frage mehr. Herr Doktor Laternser.
Verteidiger Laternser:
Nur eine Frage, Herr Zeuge. Waren Sie mit dem Ausgang des Verfahrens in Potsdam zufrieden?
Zeuge Gustav Noßke:
Sehr.
Verteidiger Laternser:
Sehr?
Zeuge Gustav Noßke:
Durchaus. Das darf ich sagen. Also den persönlichen Eindruck hatte ich, daß ich gut bedient war.
Angeklagter Klehr:
Herr Präsident, ich hätte eine Frage an den Zeugen.
Vorsitzender Richter:
Ja, bitte schön.
Angeklagter Klehr:
Herr Zeuge, wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Sie SS-Obersturmbannführer.
Zeuge Gustav Noßke:
Jawohl.
Angeklagter Klehr:
Nach Ihren Aussagen haben Sie eine Ermittlung, ein Verfahren [durchlaufen]. Wollen Sie etwa behaupten, daß ein kleiner Mannschaftsdienstgrad genauso abgeschnitten hätte in dem Verfahren, wie es bei Ihnen [der Fall war], [da] Sie einen Freund gehabt haben als Untersuchungsrichter?
Nebenklagevertreter Raabe:
Es tut mir sehr leid
Zeuge Gustav Noßke [unterbricht]:
Da bin ich überfragt.
Nebenklagevertreter Raabe:
Ich widerspreche dieser Frage. Es tut mir sehr leid. Ich bin der Ansicht, daß die Angeklagten durchaus die Möglichkeit haben müssen, in großem Umfange Fragen zu stellen. Aber dieser Frage muß ich widersprechen, Herr Präsident, da das eine Frage nach den Meinungen des Zeugen ist. Der Zeuge soll aber hier nur über Tatsachen aussagen.
Angeklagter Klehr:
Herr Nebenkläger, ich muß [unverständlich]
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Also der Zeuge hat die Frage bereits beantwortet, er hat gesagt: »Ich bin überfragt.« Haben Sie sonst noch eine Frage?
Angeklagter Klehr:
Da kann ich nichts dazu sagen.
Vorsitzender Richter:
Da können Sie nichts sagen.
Angeklagter Klehr:
Wenn sie heute alle überfragt sind. Heute weiß [keiner mehr was], alle haben Gedächtnisschwund und wissen nichts mehr. Dazumal waren sie unsere Führer und haben befohlen und [unverständlich]
Vorsitzender Richter:
Herr Klehr, das erleben wir ja hier Tag für Tag, daß es Menschen gibt, die Gedächtnisschwund haben. Aber nicht nur bei den Zeugen.
Angeklagter Klehr:
Die Nebenkläger[+ vertreter] und die Staatsanwälte [+ meinen], wir müßten uns dann erinnern können nach soundso viel Jahren. Wir haben ja auch nur einen Kopf. Und wir haben nicht so einen Kopf, wie die Herrn Professoren und Gelehrten einen gehabt haben. Wir sind ja nur kleine Männer gewesen.
Vorsitzender Richter:
Werden hier noch Fragen gestellt? Nicht mehr? Keine Anträge zur Beeidigung?
Herr Zeuge, können Sie das, was Sie gesagt haben, mit gutem Gewissen beschwören?
Zeuge Gustav Noßke:
Jawohl.
- Vgl. Beweisantrag von Verteidiger Göllner vom 08.03.1965, Anlage 1 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 08.03.1965, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 109.