Zeuge Konrad Morgen

25. Verhandlungstag 09.03.1964

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

25. Verhandlungstag, 9.3.1964

Vernehmung des Zeugen Konrad Morgen

Vorsitzender Richter:

Sie sollen hier als Zeuge vernommen werden. Ich muß Sie meiner Pflicht gemäß auf die Bedeutung und die Wichtigkeit des Eides aufmerksam machen, Sie vor den Strafen des Meineides verwarnen. Ihre Aussage bezieht sich auch auf Ihre Personalien, also auf die Angaben über Ihre Person. Wir wollen als Gedächtnisstütze für das Gericht Ihre Aussage mit auf Band aufnehmen, und ich möchte Ihnen das vorher sagen. Herr Doktor Morgen, Sie heißen mit Vornamen Konrad?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Doktor Morgen, Rechtsanwalt. Sie sind wie alt?

Zeuge Konrad Morgen:

54 Jahre.

Vorsitzender Richter:

Sie wohnen in Frankfurt und sind verheiratet.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Mit den Angeklagten sind Sie nicht verwandt und nicht verschwägert.

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Morgen, Sie sind hier jetzt wiederholt genannt worden, und zwar als Richter bei der SS, als SS-Richter, der verschiedene Untersuchungen vorgenommen hat, und zwar Untersuchungen nicht nur in Auschwitz, sondern auch in anderen Lagern. Vielleicht können Sie uns mit einigen Worten sagen, wieso es zu diesen Untersuchungen gekommen ist, aber dann in erster Linie Ihr Interesse richten auf die Untersuchungen im Lager Auschwitz, die uns ja hier hauptsächlich von Bedeutung sind, uns dann sagen, was Sie dort an Mißständen gesehen haben und was Sie veranlaßt haben.[...]

Zeuge Konrad Morgen:

Ich war als SS-Richter der Reserve etwa im Mai 1943 zum Reichskriminalpolizeiamt, Gruppe B, zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen abkommandiert worden[1] und hatte einen ersten Auftrag in Weimar auszuführen. Dort hörte ich in der Bevölkerung Gerüchte, daß anläßlich der »Juden-Aktion«, 1938 glaube ich, sich viele bereichert hätten und daß auch ein gewisser Verdacht auf dem Kommandanten, dem Standartenführer Koch, ruhe.[2]

Ich habe diese Fragen mit Behördenvertretern gesprächsweise erörtert und mußte dann sowohl von seiten der Polizei wie auch der Gestapo, dem Bürgermeister, der Vertreter der Regierung dieselben Beobachtungen oder Verdachtsgründe bestätigt hören. Und das ließ mir keine Ruhe, und ich bin von mir aus – zunächst ohne jeden Auftrag, außerhalb der mir gesetzten Untersuchung – der Sache nachgegangen und habe dann bei einer Überprüfung der Konten des Standartenführers Koch, die er bei einer Bank unterhielt, festgestellt, daß dieser sich im größten Umfange bereichert hat.

Ich habe darüber dem zuständigen Gerichtsherrn, dem das Konzentrationslager zugehörte, dem Fürsten von Waldeck, Bericht erstattet. Und der sagte mir auch, daß Standartenführer Koch ihm sehr verdächtig sei und daß er seinerzeit ein Verfahren gegen ihn, ein gerichtliches Verfahren, eingeleitet hatte, daß er aber auf Befehl des Reichsführers SS, Himmler, Koch nach zwei Tagen schon aus der Haft entlassen mußte und schwer gerügt wurde. Er sagte mir für diese Untersuchung seine vollste Unterstützung zu, und ich berichtete in Berlin und bekam zu meiner großen Überraschung den Auftrag, die Verfehlungen des Standartenführers Koch aufzuklären. Ich habe Standartenführer Koch und seine Frau Ilse Koch, dann später den Lagerarzt Doktor Hoven, den Bunkerwart, den Hauptscharführer Sommer verhaftet und angeklagt. Koch wurde bekanntlich deswegen, unter anderem wegen Mordes, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Untersuchung

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

War das noch vor Beendigung des Krieges? Die Hinrichtung von dem Standartenführer Koch?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja. Standartenführer Koch, ja. Die Untersuchungen, die dehnten sich zwangsläufig auf andere Konzentrationslager aus. Denn Koch galt bis dato als ein Musterkommandant, und zu ihm wurden sehr viele SS-Leute und -Führer zur Ausbildung hingeschickt und nachher in andere Konzentrationslager versetzt. Eine Zeitlang hatte er auch das Konzentrationslager Lublin aufgebaut und geführt. Und so dehnten sich diese Untersuchungen wegen dieser Verdächtigungen, die in Buchenwald angefallen waren, auf diese anderen Lager aus.

Für die zuständigen SS- und Polizeigerichte waren Verfahren gegen Angehörige von Konzentrationslagern ein heißes Eisen. Und nachdem nun mal von mir diese Bresche geschlagen worden war, möchte sagen, so auf allgemeinen Wunsch hin, war man froh, daß man jemand hatte. Und nachdem ich also nun so ein Spezialist für Konzentrationslagerverbrecher geworden war, erhielt ich durch allgemeines Rundschreiben den Auftrag, größere und wichtigere Verbrechenskomplexe in Konzentrationslagern zu untersuchen. Das heißt, die SS- und Polizeigerichte sind angewiesen worden, derartige Fälle an mich als Untersuchungsführer abzugeben. [Pause]

Nun zum Komplex Auschwitz: Meine Untersuchungen im Konzentrationslager Auschwitz wurden ausgelöst durch ein Feldpostpäckchen. Es war ein etwas kleineres, mehr langes als schmales Paket, gewöhnlicher Karton, das wahrscheinlich wegen seines ungeheuren Gewichtes bei der Feldpost aufgefallen war, und wegen seines Inhalts hatte ihn die Zollfahndung beschlagnahmt. Es enthielt nämlich drei Klumpen mit Gold. Gold war eine Devise, ablieferungspflichtig, und so ergab sich die Beschlagnahme durch die Zollfahndung. Absender war ein SDG, das heißt ein Sanitätsdienstgrad des Konzentrationslagers Auschwitz, und adressiert war dieses Paket an seine Frau. Er unterstand damit der SS- und Polizeigerichtsbarkeit, und mir wurde diese beschlagnahmte Sendung mit einem kurzen Anschreiben – »zur weiteren Veranlassung«, glaube ich, hieß es – zugeleitet.

Bei dem Gold handelte es sich um hochkarätiges Zahngold, das in einer primitiven Weise zusammengeschmolzen war. Es war ein sehr großer Klumpen, vielleicht in der Größe von zwei Fäusten, der andere war wesentlich kleiner, der dritte mehr unbedeutend. Aber immerhin, es war eine ganze Anzahl von Kilos. Ehe ich nun weiter etwas veranlaßte, überlegte ich mir die Sache. Zunächst war die Dreistigkeit, mit der hier der mir bis dahin unbekannte Täter vorgegangen war, verblüffend. Und es schien sich hier um eine ausgemachte Dummheit zu handeln. Aber je länger ich über die Sache nachdachte, glaubte ich, daß eine solche Auffassung den Täter unterschätzte. Denn immerhin: Bei Hunderttausenden von Feldpostpäckchen war die Chance sehr gering, daß nun ausgerechnet diese gefährliche Sendung beschlagnahmt und entdeckt werden würde. Sondern hier schien mir ein Zug einer raffinierten Primitivität und einer skrupellosen Rücksichtslosigkeit bei dem Täter vorzuwalten, ein Zug, der sich dann bei meinen späteren Ermittlungen im Konzentrationslager Auschwitz als richtig erweisen sollte. Denn nach dieser Methode wurde da eigentlich durchweg gearbeitet. Meine weitere Überlegung, die jagte mir allerdings einen nicht geringen Schauder den Rücken herunter, denn ein [Kilogramm] Gold besteht ja aus 1.000 Gramm.

Ich wußte, daß die Zahnstationen der Konzentrationslager beauftragt waren, in den Krematorien das dort anfallende Gold der Leichenverbrennung zu sammeln und an die Reichsbank abzuführen. Und eine Goldplombe, das sind ja nur wenige Gramm. 1.000 Gramm oder mehrere Tausend Gramm bedeuteten also den Tod von mehreren Tausend Menschen. Aber es trägt ja nicht jeder Goldplomben, sondern in der damaligen, doch sehr armen Zeit nur ein gewisser Bruchteil. Und je nachdem, wie man schätzte, ob jeder Zwanzigste oder Fünfzigste oder Hundertste Gold im Mund trug, mußte man diese Zahl damit multiplizieren, und so stellte eigentlich diese beschlagnahmte Sendung sozusagen den Gegenwert von Zwanzig-, Fünfzig- oder Hunderttausenden von Leichen dar. [Pause] Ein erschütternder Gedanke. Aber das geradezu Unfaßbare daran war, daß der Täter unbemerkt derartig bedeutende Mengen beiseite bringen konnte. Und so wenig die Tat des Angeklagten aufgefallen war, so schloß ich weiter, so wenig konnte es da auffallen, daß da 50.000 oder 100.000 Menschen verschwunden und verascht worden waren. Eine natürliche Todesursache konnte hier ja nicht obwalten, sondern die Menschen, die mußten hier ermordet worden sein.

Unter diesem Gesichtspunkt erfaßte ich erstmals, daß dieses damals kaum bekannte Auschwitz, dessen geographische Lage ich mit einigen Schwierigkeiten auf der Karte suchen mußte, eine der größten Menschenvernichtungsstätten sein mußte, die überhaupt die Welt gesehen hatte. [Pause] Ich hätte diesen Vorgang der beschlagnahmten Goldsendung sehr einfach erledigen können. Die Beweisstücke waren ja nun überzeugend. Ich hätte den Täter verhaften lassen können und anklagen, und damit war der Sachverhalt erledigt. Aber nach meinen Überlegungen, die ich Ihnen kurz geschildert habe, mußte ich unbedingt mir das ansehen. Und ich fuhr deshalb, so schnell ich konnte, nach Auschwitz, um die Untersuchungen an Ort und Stelle zu führen.

So stand ich dann an einem Vormittag auf dem Bahnhof in Auschwitz. Man erwartet unwillkürlich von einer Stätte, in der sich Ungeheuerliches, Unsagbares, Unvorstellbares vollzieht, daß irgendwie da Spuren sichtbar sein müßten, eine besondere Atmosphäre. Ich blieb deshalb längere Zeit auf dem Bahnhof stehen, um da irgend etwas zu sehen. Aber Auschwitz war eine kleine Stadt mit einem sehr großen Durchgangs- und Verschiebebahnhof, etwa wie Bebra. Es gingen dauernd Züge durch, Truppentransporte nach dem Osten, Verwundetentransporte kamen zurück, Kohlenzüge, Erzzüge, Güterzüge, auch Personenzüge. Die Menschen, die stiegen da aus, die jungen lustig, die älteren mürrisch, abgearbeitet, als wäre es die alltäglichste Sache von der Welt. Ich sah auch Häftlingstransporte in gestreiften Anzügen. Aber die gingen von Auschwitz weg, es kam keiner an.

Nun, das Konzentrationslager war nicht zu übersehen, aber von außen bot es auch nur den Anblick, den man von Kriegsgefangenenlagern oder anderen Konzentrationslagern gewohnt war: hohe Mauern, Stacheldraht, Wachtürme, Posten, die auf und ab gingen. Ein Tor, ein geschäftiges Treiben der Häftlinge, aber sonst nichts Auffälliges. Ich meldete mich bei dem Kommandanten, dem Standartenführer[3] Höß, ein etwas untersetzter, sehr wortkarger, einsilbiger Mann mit einem steinernen Gesicht. Ich hatte ihm meine Ankunft bereits durch Fernschreiben mitgeteilt und eröffnete ihm, daß ich hier Untersuchungen zu führen hätte. Er sagte etwa dem Sinne nach, daß ihnen eine ungeheuer harte Aufgabe übertragen sei, und dieser Aufgabe seien charakterlich nicht alle gewachsen. Er fragte dann kurz, wie ich beginnen wolle. Ich sagte ihm, ich müßte zunächst mal das ganze Lager besichtigen. Ehe ich eine Untersuchung in einem Konzentrationslager begann, habe ich mir das Lager allgemein und insbesondere seine Schwerpunkte da angesehen. Er sah kurz auf den Dienstplan, telefonierte, und es kam dann ein Hauptsturmführer. Und den wies er an, mich mit einem Wagen durch das Gelände zu fahren und mir alles zu zeigen, was ich sehen wollte. Ich fing mit dem Anfang vom Ende an, nämlich der Rampe in Birkenau. [Pause]

Die Rampe sah aus wie jede andere Rampe auf einem Güterbahnhof auch. Es war nichts besonderes daran festzustellen, und es waren auch gar keine besonderen Vorkehrungen irgendwie getroffen. Ich fragte deshalb meinen Führer, wie das nun vor sich ginge. Er erklärte mir, daß ein Transport, meistens Juden, vom Bahnhof, kurz vor der Ankunft, vorm Einlaufen in Auschwitz, dem Lager gemeldet wird. Darauf rückte eine Wachmannschaft aus, sperrte die Gleise und die Rampe ab. Dann wurden die Türen der Waggons geöffnet, die Ankömmlinge mußten aussteigen und ihr Gepäck absetzen. Männer und Frauen mußten sich getrennt aufstellen, und dann, erklärte er mir, würde zunächst nach Rabbinern gefragt. Rabbiner und sonstige bedeutende jüdische Persönlichkeiten wurden sofort ausgesondert, ins Lager gebracht, in eine Baracke, die sie für sich hatten. Ich habe sie später gesehen, es stimmte. Gut gehalten, sie brauchten nicht zu arbeiten, es wurde erwartet, daß sie möglichst viele Briefe und Postkartengrüße in alle Welt von Auschwitz schickten, um damit von vornherein jeden Verdacht, daß hier irgend so etwas Greuliches vor sich gehe, zu zerstreuen.

Danach fragte man nach Spezialisten, die das Lager brauchte – das Lager war ja mit großen Industriebetrieben verbunden –, die suchte man dann vorher aus. Und der Rest, der wurde dann nach arbeitsfähig, arbeitsunfähig getrennt. Die Arbeitsfähigen marschierten zu Fuß in das Lager Auschwitz, wurden dort regulär als Häftlinge aufgenommen, eingekleidet, eingeteilt. Die andere Gruppe mußte auf Lastwagen Platz nehmen und ging sofort, ohne daß eine namentliche Feststellung erfolgte, in die Gaskammern nach Birkenau. Als schwarzen Witz erzählte mir mein Begleiter, daß, wenn man keine Zeit habe oder kein Arzt da sei, zu viele Ankömmlinge da seien, daß man dann auch gelegentlich ein Verfahren abkürze, man den Ankömmlingen dann sagte, in höflichen Worten, das Lager wäre doch einige Kilometer entfernt, und wer sich zu krank oder zu schwach [+ fühle] oder wem das Gehen zu unbequem sei, der könne auch hier von der Fahrgelegenheit, die das Lager bereitgestellt habe, Gebrauch machen. Darauf setzte dann ein Massenansturm auf die Fahrzeuge ein. Und nur diejenigen, die nicht mitkamen, die konnten dann in das Lager marschieren, während die anderen unbewußt den Tod gewählt hatten. [Pause]

Von der Rampe folgten wir der Spur der Todesfrachten zum Lager Birkenau, es lag einige Kilometer entfernt. Äußerlich war da auch nichts Auffälliges zu sehen: großer Maschendrahtzaun, etwas windschief, mit einem Posten. Dahinter lag das sogenannte Lager »Kanada«, wo die Effekten der Opfer durchsucht, geordnet, weiterverwandt wurden. Man sah von den letzten Transporten noch einen Haufen aufgebrochener Koffer, Wäschestücke, Aktentaschen, aber auch ganze Zahnarzteinrichtungen, Schustereinrichtungen, Medikamententaschen liegen. Offensichtlich waren die sogenannten Evakuierten wirklich der Auffassung, sie würden im Osten, wie man es ihnen gesagt hatte, angesiedelt und fänden dort eine neue Existenz, und hatten dann das Notwendige dazu mitgebracht. [Pause]

Und dahinter lagen dann die Krematorien. Es waren einstöckige Hallen mit Satteldächern, die genausogut Werkschuppen oder kleine Werkstätten hätten sein können. Selbst die sehr breiten und massiven Schornsteine brauchten dem Laien nicht weiter aufzufallen, denn sie waren sehr niedrig, sie endeten kurz über dem Dach. Auf der Seite, wo die Lkws anfuhren, war der Boden schräg vertieft, etwa in Schulhofgröße, mit Schlacke bestreut und kurz abgestellt. Da fuhren die rein, so daß also ein Außenstehender, der diese Lastwagenkolonne sah, dann plötzlich nur feststellte, daß die in einer Bodensenkung verschwunden waren, ohne daß er aber nun feststellen konnte, wo die Transportierten abgeblieben waren – auch wieder eine dieser raffinierten, im Grunde aber primitiven Vorsichtsmaßnahmen, die man als roten Faden durch die ganze Organisation immer wieder feststellen konnte. [Pause] In dem Hof war ein Rudel, muß man sagen, jüdischer Häftlinge mit gelbem Stern, mit ihrem Kapo, der einen langen Knüppel trug, und die uns sofort umkreisten. Sie liefen dauernd so im Kreise da herum, gegenwärtig jeden Befehls und nach jedem Blick haschend. Und es schoß mir so durch den Kopf: Die verhalten sich ja genauso wie ein Rudel Schäferhunde. Und das sagte ich dann auch da meinem Begleiter, der darüber lachte und sagte, ja, das wäre auch die Aufgabe. Die Todesopfer, die sollten zunächst mal, indem sie also ihre Glaubensgenossen da sahen, Vertrauen haben. Und dieses Kommando hatte auch Anweisung, ja nicht die Ankömmlinge zu schlagen. Es sollte alles vermieden werden, damit keine Panik ausbricht. Sondern man sollte denen ein bißchen Angst und Respekt machen, im übrigen aber eben nur dasein und die da hinleiten und -führen, wo man sie haben wollte.

Hinter dem Hof war ein großes Tor, das in die sogenannten Umkleidungsräume führte, ähnlich wie die Auskleidehalle von einer Turnhalle. Einfache Holzbänke standen da, mit Kleiderrechen, und auffälligerweise war jeder Platz numeriert, trug auch eine Garderobenmarke. Und man schärfte noch den Opfern ein, ja acht auf ihre Garderobe zu geben, die Garderobenmarke festzuhalten – alles, um bis zur buchstäblich letzten Sekunde nicht den geringsten Verdacht aufkommen zu lassen und die Todesopfer ahnungslos in die gestellte Falle zu bringen.

Dann an der Wand war ein großer Pfeil, der in einen Gang wies, und darauf stand kurz und bündig: »Zu den Duschräumen«, und das wurde in sechs oder sieben Sprachen wiederholt. Man sagte denen also: Ihr kleidet euch aus und werdet geduscht und desinfiziert. Und an diesem Gang lagen dann verschiedene Kammern ohne jede Einrichtung, kahl, nackt, Zementfußboden. Auffällig und zunächst unerklärlich war nur, daß in der Mitte ein vergitterter Schacht stand, der bis zur Decke führte. Ich hatte zunächst dafür keine Erklärung, bis man mir sagte, daß durch eine Öffnung vom Dach aus Gas, und zwar in kristalliner Form, das Zyklon B, in diese Todeskammern gegossen würde. Bis zu diesem Moment war also der Häftling ahnungslos, und dann war es natürlich zu spät. Gegenüber den Gaskammern lagen die Leichenaufzüge, und diese führten dann nun in den ersten Stock oder, von der anderen Seite aus gesehen, in das ebenerdige Geschoß. [Pause] Das eigentliche Krematorium war ein riesiger Saal, an dessen einer Seite in langer Reihe die Krematoriumsöfen standen, mit geplättetem Fußboden, alles atmete eine sachliche, neutrale, technische, wertfreie Atmosphäre aus. Es war alles spiegelblank, geleckt, und einige Häftlinge in Monteuranzügen, die polierten da ihre Armaturen, machten sich da künstlich Bewegung. Sonst war alles still und leer.

Nachdem ich diese äußeren Einrichtungen gesehen hatte und irgendwie SS gar nicht in Erscheinung getreten war, interessierte mich natürlich, nun mal die SS-Leute zu sehen und kennenzulernen, die diesen ganzen Apparat da verwalteten und in Betrieb hielten. Es wurde mir dann ein kurzer Blick in die sogenannte Wachstube des Lagers Birkenau gestattet, und hier habe ich dann zum ersten Mal einen wirklichen Schock erlitten. Sie wissen, eine militärische Wachstube, die zeichnet sich bei sämtlichen Armeen der Welt durch eine spartanische Einfachheit aus. Es steht da ein Schreibtisch, es hängen Anschläge, es sind da einige Pritschen da für diejenigen, die da abgelöst werden, Schreibtisch und Telefon. Aber das hier war anders. Es war ein niedriger, etwas schummriger Raum, und da standen bunt zusammengewürfelte Couchen herum. Und auf diesen Couchen, da lagen malerisch einige SS-Leute, meistens untere Führerdienstgrade, und dösten da mit glasigen Augen vor sich hin. Ich hatte den Eindruck, daß sie die Nacht vorher ziemlich viel Alkohol genossen haben mußten.

Statt eines Schreibtisches stand ein riesiger Hotelherd da, und auf diesem buken vier, fünf junge Mädchen Kartoffelpuffer. Es waren offensichtlich Jüdinnen, sehr schöne, orientalische Schönheiten, vollbusig, feurige Augen, trugen auch keine Häftlingskleider, sondern normales, ganz kokettes Zivil. Und die brachten nun ihren Paschas, die auf den Couchen da rumlagen und dösten, die Kartoffelpuffer und fragten besorgt, ob auch genügend Zucker darauf war, und fütterten die. [Pause] Keiner nahm von mir und meinem Begleiter – immerhin also doch einem Hauptmann[4] – Notiz. Es wurde keine Meldung gemacht, es ließ sich keiner stören. Und ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen: Diese weiblichen Häftlinge und die SS, die duzten sich gegenseitig. Ich muß also wohl ziemlich entgeistert meinen Begleiter angeschaut haben. Der zuckte nur die Achseln und sagte: »Die Männer haben eine schwere Nacht hinter sich. Sie hatten einige Transporte abzufertigen.« Ich glaube, so drückte er sich aus. Das bedeutete also, daß in der Nacht, während ich da im Zuge stehend nach Auschwitz fuhr, einige Tausend Menschen, einige Zugladungen voll hier vergast und verascht worden waren. Und von diesen Tausenden von Menschen, da war auch nicht das Stäubchen auf einer Ofenarmatur übriggeblieben. [Pause]

Nachdem ich also in Birkenau alles gesehen hatte, was es zu sehen gab, habe ich dann einen Rundgang durch das Lager gemacht. Was man da so auf die Schnelle gezeigt bekommt: irgendeine gut ausgesuchte Häftlingsstube oder -baracke, Kultureinrichtungen des Lagers, die es auch gab, [Pause] der Krankenbau. Und dann ließ ich mich natürlich in den sogenannten Bunker unter anderem auch führen, und dabei wurde mir ganz offen und mit größter Bereitwilligkeit die sogenannte Schwarze Wand gezeigt, wo die Erschießungen stattfanden. [Pause]

Nachdem ich das Lager besichtigt hatte – es war mittlerweile Spätnachmittag geworden –, da schritt ich nun zur Aktion und ließ das ganze SS-Krematoriumskommando in seiner Unterkunft vor den Spinden antreten und nahm eine Durchsuchung vor. Und wie ich mir es gedacht hatte, kam dann da einiges zum Vorschein: goldene Ringe, Münzen, Ketten, Kettchen, Perlen, so ziemlich sämtliche Währungen der Welt. Bei dem einen wenig »Souvenirs«, wie der Betreffende sagte, bei dem anderen ein kleines Vermögen. Was ich aber nicht erwartet hatte, war, daß aus einem der zwei Spinde mir die Geschlechtsteile frisch geschlachteter Bullen entgegenfielen. Ich war zunächst völlig entgeistert und konnte mir also den Verwendungszweck nicht vorstellen. Bis mir der betreffende Spindinhaber errötend – tatsächlich, das gab es –, dann gestand, daß man sich das besorge zur Auffrischung der eigenen sexuellen Potenz. [Pause] Nachdem ich also diese Durchsuchung vorgenommen und damit ziemlich das ganze Krematoriumskommando da festgenagelt, kurz vernommen hatte, war der Tag zu Ende. Und ich begab mich dann in meine Unterkunft. [Pause]

Verständlicherweise konnte ich in dieser Nacht kein Auge schließen, obwohl ich da schon einiges in Konzentrationslagern gesehen hatte, aber so etwas nun doch noch nicht. Und ich überlegte mir, was nun dagegen unternommen werden könnte. Der Laie neigt ja nun angesichts der scheinbaren Machtfülle eines Richters, eines Staatsanwaltes dazu, die Frage zu stellen: Warum hast du denn die Verantwortlichen, und zwar an höchster Stelle befindlichen, nicht sofort verhaftet und denen dieser entsetzlichen Verbrechen [+ wegen] den Prozeß gemacht? Ich darf die Laienbeisitzer zunächst daran erinnern, daß ja kein Richter außerhalb der Hauptverhandlung einer Strafsache die Macht hat, eine Verhaftung vorzunehmen. Sondern er ist darauf angewiesen, daß der zuständige Staatsanwalt einen Haftantrag stellt. Der Staatsanwalt muß in wichtigen Sachen seinem Vorgesetzten, dem Oberstaatsanwalt, dem Generalstaatsanwalt oder dem Bundesanwalt oder dem Justizminister berichten. Die Staatsanwaltschaft ist eine bürokratische Behörde, die weisungsgebunden ist, und es kann nicht irgendein Hilfsarbeiter einer Staatsanwaltschaft einfach den Antrag stellen, irgendwie eine bedeutende Persönlichkeit zu verhaften.

Bei der SS- und Polizeigerichtsbarkeit lagen nun die Dinge ganz anders. Die SS- und Polizeigerichtsbarkeit war ja Kriegsgerichtsbarkeit, neben der Kriegsgerichtsbarkeit des Heeres, der Marine, der Luftwaffe, die Kriegsgerichtsbarkeit des vierten Wehrmachtsteiles, nämlich der Waffen-SS und der Polizei in besonderem Einsatz. Die Kriegsgerichtsbarkeit ist ein Ausfluß der militärischen Kommandogewalt, von dieser abgeleitet und abhängig. Alle wichtigen Funktionen, die sonst das Gericht, mit unabhängigen Richtern besetzt, ausübt, liegen in den Händen des sogenannten Gerichtsherrn, das heißt des kommandierenden Generals. Und über ihm der Korps-, der Armeegeneral und als oberster Gerichtsherr der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, damals Hitler. Der Gerichtsherr fertigt, unterschreibt einen Haftbefehl. Der Gerichtsherr ordnet die Eröffnung eines Verfahrens an. Der Gerichtsherr besetzt das Kriegsgericht. Er bestätigt oder verwirft Urteile, er ordnet die Vollstreckung an.

Um also nun gegen Himmler oder Hitler, die Urheber dieser Verbrechen, vorgehen zu können, gerichtlich vorgehen zu können, hätte ich also bei Hitler selbst oder bei Himmler selbst einen Haftbefehl gegen sie selber beantragen müssen. Und selbst wenn er gegen sich selbst ein Verfahren eröffnet hätte, wäre es unmöglich gewesen, ein Gericht zusammenzustellen. Denn das Gericht mußte so besetzt sein: mit einem Beisitzer als Laienbeisitzer im Range des Angeklagten und mit einem Diensthöheren. Man hätte also einen Hitler als Beisitzer, einen Über-Hitler als zweiten Beisitzer gebraucht. Also, Sie sehen daraus, das war absolut unmöglich. Man mußte feststellen, daß Hitler sich in einem rechtsfreien Raum bewegte, in dem sämtliche Schranken der Gewaltenteilung aufgehoben waren, und er Reichskanzler, Reichspräsident, Oberbefehlshaber der Wehrmacht, oberster Gesetzgeber, oberstes Vollzugsorgan, oberster Gerichtsherr, alles in einer Person darstellte.

Vorsitzender Richter:

Wir wollen an dieser Stelle unterbrechen, Herr Rechtsanwalt Doktor Morgen, und wollen um zwei Uhr wieder fortfahren. Ich bitte Sie, pünktlich wieder hier zu sein. Die Sitzung wird

Vorsitzender Richter:

Rechtsanwalt Doktor Morgen, wenn Sie etwas lauter sprechen würden. Es ist mir eben gesagt worden, daß Sie nicht überall verstanden werden.

Zeuge Konrad Morgen:

Ich bemühte mich vor der Pause, auszuführen, daß mit judiziellen Mitteln gegen die von mir festgestellten Verbrecher nicht vorzugehen war. Was auf die an letzter Stelle Verantwortlichen, nämlich Hitler und Himmler, zutrifft, trifft selbstverständlich auch auf die von ihnen unmittelbar Beauftragten zu, den Standartenführer Höß und die ihm Untergebenen. Denn sie hätten, wenn sie die Anklage gegen diese Männer verfügt hätten, zugleich sich selbst und ihre eigenen Taten anklagen und verurteilen müssen. Der Staatsanwalt, der Richter kann ja nur das Gesetz anwenden, das er vorfindet, und sich kein eigenes machen. Tritt er außerhalb der Schranken des Rechtes, dann wird er selber zum Verbrecher.

Es lag in dieser Lage nahe, an außergesetzliche Möglichkeiten zu denken, nämlich an ein Attentat. Aber das war undurchführbar, denn ich – als einer der wenigen – war während des Krieges einmal im Führerhauptquartier. Ich wurde zu einem Vortrag vor Himmler befohlen. Man kam dahin nur aufgrund eines schriftlichen Befehls vom Führerhauptquartier selbst. Man mußte dann in einer bestimmten Dienststelle in Berlin die Fahrkarten für den speziellen Sonderzug, der dort hinging, abholen. Es waren sehr strenge Kontrollen am Bahnsteig und im Zug. Und dann, nach einer Nachtfahrt, gegen Mittag des nächsten Tages, hielt der Zug plötzlich irgendwo in Ostpreußen auf einer grünen Wiese zwischen Kühen. Über einen Feldweg kam dann ein Wagen und holte einen ab. Man fuhr in einen dichten Wald, durch viele Sperrkreise hindurch. Und da lagen dann ganz verstreut, auch noch durch Tarnnetze geschützt, schwer bewacht, die Baracken. Wer in diesen einzelnen Baracken hauste, wo etwa Himmler oder Hitler residierten, das war nicht zu ergründen. Übrigens kam ich nicht zum Vortrag, sondern ich wurde nach mehreren Stunden Wartezeit weggeschickt. Es hieß, Himmler sei plötzlich abberufen worden und hätte mit dem Flugzeug an die Front gemußt. Und so fuhr ich wieder zurück. Nach dieser persönlichen Anschauung kann ich also beurteilen, deshalb kam mir der Gedanke gar nicht an eine solche Möglichkeit. [Pause]

Man kann daran denken, öffentlich Zeugnis abzulegen von diesem Geschehen. Aber wenn man das gemacht hätte, das hätte ja niemand geglaubt. Man wäre zu einem Verrückten erklärt und festgenommen worden.

Am Ende dieser schlaflosen Nacht mußte ich einsehen, daß dieses System nur von außen zu bekämpfen und zu stürzen war. Und ich glaubte, den Versuch dazu machen zu müssen. [Pause] Es fiel mir ein, daß ich vor einiger Zeit mal mit einem Kriminalkommissar gesprochen hatte, der Jahre im Grenzabschnitt an der Schweiz, Konstanz, Dienst versah und der mir damals gesprächsweise über die vielen Möglichkeiten des Grenzübertrittes berichtete, erzählte und beschrieb – der Straßen mit Häusern, wo der Vordereingang auf deutschem, der Hintereingang schon auf Schweizer Gebiet liegt. Ich glaubte diese Übergangsstellen zu finden. Ich war deshalb entschlossen, nach der Schweiz zu gehen.

Die Möglichkeit dazu war für mich einfach, denn für meine vielen dienstlichen Reisen führte ich ständig Blanko-Marschbefehle und Blanko-Militärfahrscheine mit. Ich brauchte die, je nach den Erfordernissen, die plötzliche Untersuchungen stellten, nur auszufüllen. Ich stellte also einen Fahrschein, einen Marschbefehl »Kriegsgerichtliche Untersuchung Wien« aus und von Wien weiter nach Konstanz und fuhr dann durch. 36 Stunden später etwa näherte ich mich meinem Ziel. In der Zwischenzeit hatte ich mich soweit wieder beruhigt, daß ich nun die mir bevorstehenden nächsten Ereignisse versuchte ins Auge zu fassen, glaubte, daß mir der Grenzübertritt gelingen würde, und fragte mich, wie sich das nun im einzelnen drüben abspielen würde. Sicherlich sofort dann eine Vernehmung, man würde von einer Dienststelle zu einer höheren weitergereicht werden. Und während ich mir das plastisch vorzustellen versuchte – die Fragen, meine Antworten –, da wurde mir plötzlich klar, daß dieser mein Bericht und meine Erzählung ja für einen Außenstehenden, insbesondere für einen Neutralen, so unglaublich und unfaßbar klingen mußte, daß mir nichts geglaubt werden würde. Es würde bestimmt die Frage kommen: Haben Sie denn selber eine Vergasung gesehen, haben Sie eine Leiche, einen geschlagenen Häftling gesehen? Und ich hätte ehrlicherweise sagen müssen: Nein.

Aber ich riß mich aus dem Gedanken, stellte mir das umgekehrt vor, dachte: Wenn das nun gutgeht, dir wird geglaubt, was passiert denn dann? Sicher, die Schweizer Regierung, die würde nichts machen. Aber man würde mich der Presse wahrscheinlich stellen, ich würde da Ausführungen machen. Folge davon wäre, die Kriegspropaganda gegen Deutschland, die würde auf ungeheuren Touren anlaufen. Und ich mußte mir sagen, nach dem, was ich gesehen hatte: Bei einem totalen Zusammenbruch, bei einer völligen Besiegung Deutschlands, da würden die Siegermächte uns, das ganze deutsche Volk, ja aufgrund dieser Vorkommnisse vernichten und jeden einzelnen, so dachte ich mir, vierteilen. [Pause] Und nun so etwas in die Wege zu leiten und verantworten zu müssen, das ging über meine Kraft.

»Deutsches Volk«, das ist ja ein großer Begriff, aber er setzt sich aus vielen einzelnen zusammen. Und ich dachte nun an die Nächsten. Zunächst natürlich an meine Eltern, die mir unter Opfern das Studium ermöglicht hatten und die ich nur als brave, anständige Menschen kannte und die ein solches Los nicht verdienten. Ich dachte weiter an meine Kameraden, die ich vor kaum einem Vierteljahr an der Rußlandfront verlassen hatte. Ich war damals im Regiment SS-Germania, das zum großen Teil aus Dänen, aus Belgiern, Holländern, Norwegern bestand, Freiwilligen, jungen Idealisten, die mir offen erklärten, sie seien keine Nationalsozialisten, aber daß es hier nur mehr darauf ankomme, die europäische Kultur zu verteidigen gegen den anbrandenden Bolschewismus, und die, unzureichend bewaffnet, gegen eine Übermacht kämpfend, unsinnige Haltebefehle ausführend, da auch – die Soldaten kennen das von der Rußlandfront – als Division verheizt wurden und trotzdem den Tod erlitten für ihre Ideale. Auch die hatten das nicht verdient. Und so sah ich dann auch, von welcher Seite ich die Angelegenheit betrachtete, aus einer solchen Handlung nur neues Unheil kommen, und ich fuhr daraufhin nach Berlin zurück.

Unterwegs wurde ich dann noch weiter ruhig. Und während ich an diese Henkersknechte in Auschwitz, aber auch an die Häftlinge, die sich da dienstbar machten, zunächst mit Haß und Verachtung und Abscheu gedacht hatte, da versuchte ich, mich in deren Lage zu versetzen. Es ist ja nun ein hervorstechender Zug des Menschen, des Lebens überhaupt, daß er sich den Gegebenheiten anpaßt und nach jedem Strohhalm und jeder Chance des Überlebens greift. Und insofern, da war es nicht den Häftlingen zu verübeln, man konnte deshalb also nicht der ganzen Menschheit Gram sein, ebensowenig aber wegen dieser SS-Leute dem ganzen deutschen Volk. [Pause]

Und aus dieser Erkenntnis heraus sah ich plötzlich einen Weg des möglichen Vorgehens. Wo das höchste der Rechtsgüter, das Leben, nichts mehr gilt und in den Schmutz getreten wird, massenweise vernichtet, da müssen ja sämtliche andere Rechtsgüter, ob es nun das Eigentum, die Treue oder sonst etwas ist, auch zerbrechen und ihren Wert verlieren. Und deshalb – und davon hatte ich mich ja schon überzeugt – mußten diese Leute, denen man diese Aufgaben übertragen hatte, zu Verbrechern werden. Und dazu gab mir ja nun mein Auftrag und das Strafgesetzbuch die Möglichkeit, diese Verbrechen, nämlich die nicht befohlenen, zu verfolgen. Und das tat ich dann auch.

Und ich glaubte, daß man, wenn man massenweise das Verbrechertum entlarvte und immer wieder darauf hinwies, daß das ja nun die Folge der Verhältnisse und der gegebenen Befehle sein mußte, daß vielleicht die entfernte Möglichkeit der Einsicht und eines Wandels bestand. Und auch hinsichtlich der Oberverantwortlichen, jedenfalls bis zum Wirtschaftschef der Konzentrationslager, dem SS-Obergruppenführer Pohl, hatte ich schon einen ersten Hinweis bekommen. Sie erinnern sich, daß ich eingangs sagte, daß die in den Krematorien der Konzentrationslager bei den Verbrennungen anfallenden Goldreste der Reichsbank abzuliefern waren. Aber die in den Krematorien in Auschwitz anfallenden Goldmengen gingen nicht zur Reichsbank, sondern zur Läuterung und zum Umschmelzen an die Degussa, Frankfurt/Main. Ich habe den Weg später verfolgt, und gerade aus der Hinterlassenschaft und den Mark und Pfennigen der toten Häftlinge, von diesem Konto, das da geführt worden ist, hatten sich der Obergruppenführer Pohl und seine unmittelbaren Mitarbeiter da einige 100.000 Mark zur Seite gebracht. Das hat mit mir der SS-Wirtschaftsprüfer Steinberg und Brehm auch später festgestellt, einwandfrei bewiesen. [Pause]

Aber von diesen meinen Hoffnungen und Absichten konnte ich, ja durfte ich nichts sagen, wenn es überhaupt zu einer weitergreifenden Untersuchung kommen sollte. Deshalb trug ich in Berlin im Reichskriminalpolizeiamt vor dem Chef, dem SS-Gruppenführer Nebe, der dann nachher im Zusammenhang mit dem 20. Juli gehängt wurde, nur die ganz nüchternen Tatsachen vor: daß also das Konzentrationslager Auschwitz auch einen großen Korruptionskomplex aufweise, wie andere Konzentrationslager, die wir in Untersuchung hatten, auch, daß also ich auf Anhieb bei einer Spindrevision schon 20 mehr oder weniger schwere Fälle festgestellt hatte. Und mittlerweile hatten sich ja die Untersuchungen in den Konzentrationslagern schon eingespielt. Es wurde eine Sonderkommission des Reichskriminalpolizeiamtes gebildet. Ich unterwies den Kommissar in seine Aufgaben und in die Lagerverhältnisse, und dann reisten diese Kriminalisten ab nach Auschwitz.

Sie ermittelten dort – die Ermittlungen waren sehr fruchtbar –, und ich bekam die Berichte. Die wichtigsten für mich, die interessantesten Fälle, soweit also Straftaten von Offizieren des Lagers da anklangen, die bearbeitete ich selbst. Ich ließ mir die betreffenden Häftlinge der SS überstellen, vernahm sie persönlich. Und da stieß ich dann sehr bald schon auf die furchtbaren Zustände, die sich in der Politischen Abteilung des Lagers Auschwitz unter der Ägide des Kriminalobersekretärs der Geheimen Staatspolizei, Untersturmführer Grabner, herausgebildet hatten. Das, was mich zunächst am furchtbarsten traf, das war die sogenannte Stalin- Schaukel. Sie haben sie hier in dem Prozeß, wie ich Zeitungsmeldungen entnehme, als »Boger-Schaukel« geschildert bekommen. Und damals im SS- Jargon hieß sie die »Stalin-Schaukel«. Ich brauche sie Ihnen nicht weiter zu schildern, Sie wissen das. Und dieses Verfahren der staatspolizeilichen Kriminaluntersuchung, sas ja nun selbst die Schreckenstorturen mittelalterlicher Folterkammern in den Schatten stellte, das war ja auch nicht durch den Erlaß über »Verschärfte Vernehmungen« von Häftlingen in staatspolitisch wichtigen Angelegenheiten gedeckt.

Ich ermittelte weiter, daß Grabner und seine Leute auch Exekutionen auf eigene Faust durchführten, das heißt, zu denen sie nicht befohlen worden waren, zu denen sie ihrer vorgesetzten Dienststelle überhaupt keine Meldung gegeben hatten. Und diese Tötungen, die betrachte ich juristisch als Mord. Und diese »verschärften Vernehmungen« auf dieser »Stalin-Boger-Schaukel« als Amtsverbrechen, Aussageerpressung, schwere Körperverletzung im Amt. Ich habe dann Grabner sofort festnehmen lassen. Darauf wurde ich zum Chef der Geheimen Staatspolizei, dem SS-Gruppenführer Müller, zum Rapport ins Reichssicherheitshauptamt bestellt.

Schon beim Eintritt brüllte mich Müller an, was ich da für einen Unfug gemacht hätte, ich hätte wohl kein Verständnis für staatspolizeiliche Aufgaben, so in dieser Tonart. Ich versuchte, sehr ruhig zu bleiben, und sagte ihm etwa sinngemäß: Gruppenführer, ich bin kein Gestapo-Beamter, sondern ein SS-Richter und auf das Gesetz vereidigt. Schließlich leben wir ja noch in einem Rechtsstaat, und es gibt Grenzen, an die sich auch die Gestapo zu halten hat. Müller, der wurde weiß wie Kalk. Er sprang auf, er brüllte mich an, was ich mir erlaube, für eine Sprache mit ihm zu führen, er, ein General der Waffen-SS, und ich, was ich sei, ein einfacher Obersturmführer, ein Würstchen. Das werde er mir beweisen, soll mich rausscheren! Und damit warf er mich buchstäblich zur Tür hinaus.

Ich stand nun in diesen großen, leeren, endlosen Gängen des Gebäudes, des früheren Kaiser-Friedrich-Museums, glaube ich, und war überzeugt, daß der Mann in seinem Haß, in seiner Wut sofort unten die Wache anrief. Denn jeder, der da reinwollte, der mußte da einen Besucherschein ausfüllen, wurde namentlich festgehalten, und diesen beim Herausgehen wieder abgeben. Ich war überzeugt, wenn ich also jetzt rausgehe, daß ich verhaftet würde und in einem der Keller da verschwände. Ich [Pause] überlegte mir meine Situation und sagte: Du mußt, koste es, was es wolle, den Gruppenführer Müller umstimmen. Und so bitter es ist, und so schwer es dir fällt, du mußt noch mal in die Höhle des Löwen rein. Jedenfalls der Versuch muß gemacht werden. Und nachdem ich mir das überlegt hatte – inzwischen waren fünf oder zehn Minuten vergangen –, da ging ich noch mal ins Vorzimmer rein und sagte, ich hätte dem Gruppenführer noch eine wichtige Meldung zu machen. »Bitte, vorgelassen zu werden.«

Zu meiner Überraschung ging die Tür auf, und Müller, der war in der Zwischenzeit auch wieder ruhig geworden. Ich entschuldigte mich für mein militärisch unziemliches Auftreten und sagte ihm: »Gruppenführer, eigentlich bin ich hierhergekommen, um Ihren Rat und Ihre Weisung für die weiteren Untersuchungen zu erbitten.« Und plötzlich war der Müller wie umgewandelt. Er sagte auf einmal: »Aber bitte sehr, stehe Ihnen zur Verfügung.«»Kamerad Morgen«, sprach er mich an, »nehmen Sie Platz.« Ich sagte ihm: »Gruppenführer, es ist doch richtig, daß in jeder Personalakte eines Konzentrationslager-Kommandanten und eines Leiters einer Politischen Abteilung in einem Konzentrationslager ein Revers von dem Betreffenden unterzeichnet [Faksimile] steht, der lautet, daß über das Leben eines Staatsfeindes der Führer entscheidet.«»Ja«, sagt er, »das stimmt.« Sagte ich ihm: »Ich nehme doch auch richtig an, daß diese Machtbefugnis auf Sie als den Chef der Geheimen Staatspolizei und sonst niemand anderen delegiert worden ist.« Sagt er: »Jawohl, das ist richtig.« Dann sagte ich: »Wie würden Sie denn dann beurteilen, wenn ein Ihnen weit untergebener, ohne Ihnen eine Meldung zu machen, auf eigene Entschließung, nach eigenem Gutdünken Häftlinge töten würde?«»Na, das ist doch unmöglich, das gibt es doch nicht.« Also sagte ich ihm: »Sehen Sie, Gruppenführer, so mißachtet man Ihre Autorität in den Konzentrationslagern. Das hat der Untersturmführer Grabner getan, und deshalb habe ich ihn verhaftet.« Sagt er: »Das ist aber anders, so habe ich die Sache nicht gesehen.«

Und dann kramt er auf einmal in seiner Erinnerung und sagt: »Wissen Sie, nachdem Sie mir das erzählen, da fällt mir da einiges ein, was mir seinerzeit schon zu denken gegeben hat. Zum Beispiel ist da mal irgend jemand Bedeutendes, ich weiß nicht, ob es ein Pfarrer oder sonstwer immer gewesen ist, da verhaftet worden, und die Angehörigen, die wandten sich an mich. Ich habe mir den Fall angesehen und habe den betreffenden Bittstellern zugesagt, daß der Häftling entlassen wird. Ich habe mit Fernschreiben die Entlassung angeordnet und habe selbstverständlich angenommen, daß der Häftling entlassen worden sei. Aber nach einigen Wochen wandten sich diese Leute wieder an mich und sagten, daß der Betreffende noch nicht zu Hause sei. Ich telefonierte sofort das Lager an«, so sagte Gruppenführer Müller, »und fragte: ›Warum ist der Häftling entgegen meiner Anweisung noch nicht entlassen worden?‹ Darauf hieß es: ›Ja, der Häftling ist an einer ansteckenden Krankheit erkrankt, befindet sich im Krankenbau, laut ärztlichem Befehl muß er seuchenfrei sein, eher kann er nicht entlassen werden.‹ Und wieder einige Wochen später bekam ich dann die Mitteilung, daß der betreffende Häftling an den Folgen seiner Krankheit verstorben sei.« Da sagt er: »Das war mir komisch. Diese Fälle, die sind mehrfach vorgekommen. Aber wenn ich mich nun nicht mehr auf den Bericht eines Arztes verlassen kann, wem soll ich denn da glauben?«[Pause] Ich sagte: »Gruppenführer, sehen Sie, das mache ich mir mit zur Aufgabe, das zu verhüten.« Und darauf also sagte er: »Machen Sie so weiter, aber suchen Sie den Leiter der Gestapoleitstelle, ich weiß nicht, Kattowitz oder Gleiwitz, jedenfalls die da zuständig ist für dieses Konzentrationslager, auf und lassen sich in die besonderen staatspolitischen Aufgaben des Konzentrationslagers dort und der Gestapo-Leitstelle einweisen.«

Das habe ich nicht getan, um mich da in meinen weiteren Untersuchungen selber nicht zu binden und befangen zu machen. Der Grabner, der blieb also in Haft und wurde von mir wegen Mordes in mindestens 200 Fällen, die ich namentlich ermittelt hatte, angeklagt. Ich eröffnete dann auch ein Untersuchungsverfahren gegen den Standartenführer Höß. Und zwar konnte ich auch Höß, zusammen mit den Hauptsturmführern Schwarz und Aumeier, außer einem Meineid auch noch mindestens einen versuchten Mord nachweisen.

Der verheiratete Standartenführer Höß hatte ein Liebesverhältnis mit einer tschechischen Häftlingsfrau namens Hodys begonnen, und der weibliche Häftling war schwanger geworden. Damit die Sache nicht rauskam, da hat er seine Geliebte in den Block 11 bringen lassen, in den Bunker. Und zwar dort in dem Keller befanden sich auch Stehbunker. Ich habe die später beseitigen lassen. Das waren Gelasse, so etwa einen bis anderthalb Quadratmeter groß. Und unten war ein kleines Loch, in das man nur reinkriechen konnte, und dort mußte der betreffende Häftling stehen, solange es der Lagerleitung gefiel. Und im Falle Hodys, da hatte er sogar Anweisung gegeben, dieser Frau, die schwanger war, nichts mehr zu essen zu geben. Sie sollte da verhungern. Aber selbst Teile dieser entmenschten Wachen, die haben diesen Befehl nicht ausführen können. Sondern es fand sich ab und zu einer, der ihr was zu essen gab. So hat sie ihr kümmerliches Leben da weiter fristen können. Und aus dieser Marter befreite ich diese Frau. [Pause]

Ich brachte sie in eine Münchner Klinik von einem katholischen Orden und gewann dann allmählich das Vertrauen. Es ist ja die Schwierigkeit der Untersuchung die gewesen, daß man bei allem guten Willen das Schweigen der Häftlinge kaum brechen konnte. Wie oft hat mir ein Häftling gesagt: »Ja, zu Ihnen, da kann man Vertrauen haben. Aber was ist, wenn Sie nicht mehr da sind und wenn Ihre schützende Hand fehlt? Dann gehe ich doch auch durch den Kamin.« Und für solche Fälle hatte ich mir die Befugnis geben lassen, die Entlassung solcher wertvollen Häftlinge, die die Untersuchung unterstützten, durchzuführen, und habe das ja auch in einer ganzen Reihe von Fällen machen können. Und dann hat diese Frau lückenlos ausgesagt, und wir haben Protokolle aufgenommen und mit den anderen Beweismitteln das unterschreiben lassen, das erhärtet. Und die Frau, die ist dann auch in die Freiheit, nachdem sie wiederhergestellt worden ist, dann auch als Wrack entlassen worden.

Nun, der Standartenführer Höß wurde dann von dem Lager abgelöst. Es kam ein menschlicher Kommandant, der Liebehenschel, dorthin. Unsere Untersuchung ging weiter. Dem Kriminalkommissar, den ich zuerst hingesandt hatte, dem hatte man bald ein Bein gestellt. Man hatte ihn stark unter Alkohol gesetzt, vielleicht hat er es auch selber trinken müssen angesichts dessen, was er da ermittelte und sah. Er hatte da irgendwie eine Laterne zerschlagen und war dann da aufgefallen – provoziert, wie ich überzeugt bin –, woraufhin also das Lager mit Entrüstung seine Ablösung forderte, die dann auch durchgeführt werden mußte. Ein anderer ging hin, und der [beging] diese Fehler nicht mehr.

Dann, eines Tages, wir hatten da im Lager Auschwitz so eine Sonderbaracke, wo wir unsere Akten und Asservate und Vernehmungsräume hatten, und dann brannte die ab, offensichtlich Brandstiftung, durch das Lager gedeckt. Der Täter konnte nie ermittelt werden. So wurde dann auf alle mögliche Weise die Untersuchung erschwert. Es kamen dann natürlich auch von seiten des Obergruppenführers Pohl endlich die Beschwerden: Die Untersuchungen, die störten den Betrieb der Konzentrationslager, die Häftlinge, die würden aufsässig, die Kriegsproduktion, die litte darunter. Und eines Tages wurde ich dann da von meinem Amt entbunden. Das war im Mai, Juni 1944. Nur hat man es diesmal anders gemacht als anderthalb Jahre vorher, wo ich selbst ins Konzentrationslager sollte und dann nachher gnadenweise an die Front zur Frontbewährung – eine Degradierung zum einfachen Mann – geschickt wurde. Diesmal hat man das chevaleresk gemacht. Man hat meinen Rang erhöht, ich wurde Sturmbannführer, also Major, und wurde Chefrichter vom SS- und Polizeigericht Krakau. Es war kurz vor dem Einmarsch der Russen. Wir kamen dann noch raus, und dann wurde ich zum Chefrichter des SS- und Polizeigerichtes Breslau ernannt. Aber zu meinem Glück war es unmöglich, zu diesem Zeitpunkt noch nach Breslau reinzukommen, und so ging dann für mich der Krieg zu Ende.

Vorsitzender Richter:

Ja. Herr Zeuge, uns interessiert hier in erster Linie natürlich, welche Erfahrungen Sie gemacht haben mit den einzelnen Angeklagten. Ich habe bei Ihrer Vernehmung, die der Untersuchungsrichter[5] vorgenommen hat, wiederholt gelesen, daß Sie auch den Namen Boger genannt haben. Und wollen Sie uns bitte sagen, ob und wie Sie sich an diesen Angeklagten erinnern können.

Zeuge Konrad Morgen:

Ich kann mich heute, nach 20 Jahren, an die einzelnen Fälle natürlich nur noch undeutlich, wenn überhaupt, erinnern. Ich glaube, jedem von Ihnen, als Richter, würde das so ergehen, wenn Sie 20 Jahre Akten nicht gesehen haben. Ich weiß nur, daß Boger der Politischen Abteilung zugeteilt war. Er kann vielleicht zusammen mit dem Unterscharführer Klehr als die rechte Hand des Untersturmführers Grabner bezeichnet werden, und er war es vor allen Dingen, der diese – in Anführungsstrichen – Verschärften Vernehmungen da auf dieser »Schaukel« durchführte. Und daß diese Vernehmungen in Anführungsstrichen nur eine Farce waren, ergab sich auch daraus nach meinen Feststellungen, daß bei diesen Vernehmungen noch nicht einmal ein Protokoll geführt worden ist.

Vorsitzender Richter:

Ja. Wissen Sie noch Einzelheiten darüber, wie Boger diese Vernehmungen durchgeführt hat, und insbesondere in welchen Fällen oder was dabei passiert ist?

Zeuge Konrad Morgen:

Leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern.

Vorsitzender Richter:

Nein?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich hatte ja Hunderte von Verfahren, und zwar nicht nur im Konzentrationslager Auschwitz, sondern auch noch aus vielen anderen Konzentrationslagern zu bearbeiten.

Vorsitzender Richter:

Ja. Nun, wenn Sie sagen, nach Ihrer Erinnerung ist Boger einer derjenigen gewesen, der gerade diese »Verschärften Vernehmungen« hauptsächlich durchgeführt hat, haben Sie noch irgendwelche Anhaltspunkte für diese Meinung?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Nein.

Vorsitzender Richter:

Sie haben keine Erinnerung mehr daran? Sie sagten, Boger war aber die rechte Hand von Grabner. Dann haben Sie bei Ihrer Vernehmung einmal ausgesagt, daß [Pause] Ihrer Erinnerung nach diese Leute von der [Politischen Abteilung] zur Beseitigung ihnen lästig gewordener Häftlinge, Mithelfer und Zeugen diese hätten töten lassen oder sie aus sonstigen Gründen ihre Dienstgewalt mißbraucht hätten.[6]

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Was wissen Sie da noch darüber?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, nur das Endergebnis, nicht mehr die Einzelheiten.

Vorsitzender Richter:

Sie wissen auch nicht, wer dabei beteiligt gewesen ist?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, das weiß ich nicht mehr.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Und Sie haben dann weiterhin gesagt, oder habe ich Sie da falsch verstanden, Boger und Klehr? Oder habe ich Sie da falsch verstanden?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich kann das verwechseln mit dem Krankenbau.[...] Vorsitzender Richter:

Mit dem Krankenbau. Ja. Klehr war nämlich Sanitätsdienstgrad.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und was haben Sie denn da festgestellt?[...]

Zeuge Konrad Morgen:

Man hat dort im Krankenbau auch im großen Umfange Häftlinge gemordet und, wie es im dortigen Jargon hieß, »abgespritzt«.

Vorsitzender Richter:

Ja. Das hat man dort getan. Und was wissen Sie insofern von dem Angeklagten Klehr? [Pause] Sie sagten, er wäre eine rechte Hand des Grabner gewesen, zusammen mit Boger. Wieso, was wissen Sie darüber in dieser Beziehung?

Zeuge Konrad Morgen:

Es ist ja so: Offizielle, also befehlsmäßig angeordnete Exekutionen, die brauchten ja nicht das Licht des Tages zu scheuen, das heißt also, dieser Konzentrationslager-Öffentlichkeit, mag sie also auch nun abgeschlossen sein, die Öffentlichkeit eines Hofes, wie zum Beispiel der mit der Schwarzen Wand. Und alles, was da auch nun lagerintern heimlich, unter Tarnung geschah, das »Abspritzen«, das zeigt, daß man hier nichts Erlaubtes oder Befohlenes tat. Sondern man brachte die Menschen in heimlicher Weise um und erstattete falsche dienstliche Meldungen, indem man eine erfundene Todesursache, »gestorben an Kreislaufschwäche« oder »Magendurchbruch« oder sonst etwas, mit einer gefälschten Krankenakte, minutiös gefälscht, anfertigte. Für wen anfertigte? Doch gegenüber den oberen SS-Dienststellen, um denen Sand in die Augen zu streuen. Sie wußten ganz genau, daß sie etwas Verbotenes taten, nicht wahr. Und deshalb trafen sie diese Vorkehrungen der besonderen Unauffälligkeit.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Ja. Waren denn diese ganzen Injektionen mit Phenol, von denen wir gehört haben, daß sie sich also in Tausenden von Fällen wiederholten, sämtlich ungesetzlich?

Zeuge Konrad Morgen:

Das geht vielleicht zu weit, denn die Lager, die sind ja auch in diese »Euthanasie-Aktion«[7] miteinbezogen worden. Daß Häftlingen, die nicht mehr zu retten gewesen sind, die unheilbar erkrankt waren, daß denen, wie es hieß, der »Gnadentod« gewährt werden konnte. Es ist möglich, daß ein großer Teil der dort im Krankenbau getöteten Häftlinge, unter diese Rubrik fällt. Nun konnte ich natürlich bei der Undurchsichtigkeit des Milieus und der Vielheit der Fälle und auch im Hinblick darauf, daß das Interessante für mich ja die einwandfrei ungesetzlichen Fälle sein mußten, um sie verfolgen zu können, mich natürlich nicht mit allen Fällen befassen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Nun, was wissen Sie denn von Befehlen, die darauf hinausgingen, daß Leute, die unheilbar erkrankt waren, hier getötet werden konnten? [Pause] Wissen Sie etwas davon? Sind da über diese sogenannten Euthanasie-Anordnungen, wie wir sie jetzt zum Beispiel in dem Limburger Verfahren[8] kennenlernen, sind über diese Anordnungen auch für die KZs besondere Anordnungen ergangen?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Es ist da immer von einer besonderen Anordnung

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

14f13.[...]

Vorsitzender Richter:

14f13 die Rede gewesen.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Was war das für eine Anordnung?

Zeuge Konrad Morgen:

14f13, das ist nach dem Aktenplan der Konzentrationslager die Rubrizierung für Todesfälle gewesen, allgemein. Und diese Bezeichnung, diese Aktenbezeichnung, die wurde dann da später auch als Deckname für diese »Euthanasie-Aktion« übernommen.

Vorsitzender Richter:

Und war diese Aktion befohlen für die Konzentrationslager, und eventuell durch wen und wann und wie? Wissen Sie etwas Näheres darüber?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Dieser Befehl, der ging von dem Reichsarzt-SS, dem Professor Doktor von Grawitz, aus.

Vorsitzender Richter:

Ja. Aber im einzelnen sind Sie anscheinend nicht über diese Befehle unterrichtet?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Nun sind Sie ja hier an und für sich nicht als Sachverständiger, sondern als Zeuge geladen. Also, wenn ich etwas fragen sollte, was nicht in Ihrem Bewußtsein als Zeuge ist, dann bitte ich, mir das zu sagen. Ich möchte Sie hier als Zeugen nicht überfragen. Andererseits habe ich natürlich hier verschiedene Unklarheiten, die ich gern bei dieser Gelegenheit geklärt hätte.

Sie haben zum Beispiel vorhin gesprochen von den »Verschärften Vernehmungen«. Und da hätte ich gern von Ihnen gewußt: Was war durch »Verschärfte Vernehmungen« überhaupt erlaubt? Zweitens: Wann war es erlaubt? Und drittens: Von wem mußte es erlaubt werden?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Über »Verschärfte Vernehmungen« gab es einen besonderen Erlaß. Die »Verschärfte Vernehmung« war begrenzt auf Fälle von Landeshochverrat und Fälle von großer politischer Bedeutung. [...] Sie mußte unter Darlegung des Sachverhaltes beantragt werden und wurde dann vom Reichssicherheitshauptamt genehmigt. Es gab Ausführungsvorschriften darüber. Gestattet waren nur Schläge auf das Gesäß im Beisein eines Arztes. Aber

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Verwechseln Sie das jetzt nicht mit den Strafen?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Die waren ja auch nur im Beisein des Arztes

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Ja, ja, ja.

Vorsitzender Richter:

Also, Sie sagen, das war die »Verschärfte Vernehmung«? Schläge auf das Gesäß im Beisein des Arztes?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja. Ich [wußte] aber aus der Unterredung, die ich schilderte, mit dem Gruppenführer Müller, daß die Praxis über diesen Befehl hinausgegangen war beziehungsweise daß da noch andere Befehle vorlagen. Vielleicht dürfte ich den Hinweis von Müller, mich zur Gestapoleitstelle Kattowitz zu begeben und mich dort unterrichten zu lassen über die besonderen staatspolizeilichen Aufgaben dieser Leitstelle und ihrer Außenstelle im Konzentrationslager... Vielleicht wollte er das damit andeuten. Er versuchte, in mir als Juristen ein Verständnis dafür zu wecken, indem er sagte, folgender Fall hätte sich –

Zeuge Konrad Morgen:

Auf dem Spiel steht, da sagte er: »Da gibt es für mich keine Grenzen der ›Verschärften Vernehmung‹, sondern dann ist alles Recht.«

Vorsitzender Richter:

Nun haben wir also zum Beispiel gehört von dieser »Schaukel«, die verschiedene Namen bekommen hat. War die innerhalb des Rahmens der »Verschärften Vernehmung« offiziell oder inoffiziell zugelassen?

Zeuge Konrad Morgen:

Meines Wissens war sie nicht zugelassen. Ich habe niemanden getroffen, der das gutgeheißen hätte. Auch Müller hat sich nicht ausdrücklich dazu bekannt, nachdem ich Grabner hatte verhaften lassen.

Vorsitzender Richter:

Sie haben Grabner verhaften lassen wegen eines Mordfalls oder mehrerer Mordfälle?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Auch wegen dieser Benutzung dieser »Schaukel«?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.[...]

Vorsitzender Richter:

Nun ist uns hier ein Fall geschildert worden, wo ein Häftling vermutlich von dem Angeklagten Boger auf dieser »Schaukel« aufs schwerste mißhandelt worden ist und insbesondere auch an seinen Geschlechtsteilen. Haben Sie über derartige Mißhandlungen des Angeklagten Boger etwas gehört, etwas Näheres?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, die Tatsache als solche. Ich bin auch einzelnen Fällen nachgegangen, aber ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern.

Vorsitzender Richter:

Sie können sich an einzelne Fälle nicht mehr erinnern. Sie haben aber vorhin Ihren Eindruck zusammengefaßt in die Worte: Boger war die rechte Hand Grabners, und er hat sich hauptsächlich an diesen Quälungen der Häftlinge beteiligt.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Das war die Zusammenfassung aus dem Untersuchungsergebnis, was Ihnen

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Jawohl. Ich kann mich noch erinnern, ich bin Einzelfällen nachgegangen, gerade mit Hinblick auf diese Vorwürfe, die mir Müller gemacht hat, ob das nun wirklich solche Fälle des äußersten Notstandes gewesen sind. Aber es waren zum Teil ganz belanglose Lappalien, wegen denen da diese Menschen gefoltert und gequält worden sind. Sie wurden zu Krüppeln gemacht Zeit ihres Lebens beziehungsweise gingen dabei ein.

Vorsitzender Richter:

Aber wie gesagt, an einzelne Fälle können Sie sich nicht mehr erinnern. [Pause] Sie haben dann den Namen Klehr genannt. Aber Sie sagen, Einzelheiten können Sie auch bezüglich des Klehr uns heute nicht mehr sagen?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Nein. [Pause] Nun, was wissen Sie über die Erschießungen an der Schwarzen Wand? Sie hatten die Stelle besichtigt, Sie wußten auch, daß dort Erschießungen vorgenommen wurden. Wissen Sie, ob auch Leute dort erschossen worden sind, gegen die vielleicht ein Todesurteil vorgelegen hat oder die auf Befehl von Berlin hin erschossen worden sind? Oder sind da nur Leute erschossen worden, die aus reiner Willkür von den derzeitigen Machthabern im KZ Auschwitz hingerichtet werden sollten?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein. Das waren, oder sollten es wenigstens sein, die offiziellen Exekutionen.

Vorsitzender Richter:

Es sollten die offiziellen Exekutionen sein?

Zeuge Konrad Morgen:

Und so war zum Beispiel Auschwitz die Vollstreckungsanstalt für sämtliche Todesurteile, die im damaligen Generalgouvernement, das heißt in Polen, von Standgerichten gefällt worden waren. Die Vollstreckung dieser Standgerichtsurteile nahm eine sehr lange Zeit in Anspruch. Denn ein langwieriges Prüfungsverfahren war vorgeschaltet worden, und der Generalgouverneur Frank als Gnadeninstanz mußte letztlich über die Vollstreckung entscheiden. Und während da nun also diese Gefängnisse im Generalgouvernement überfüllt waren und man auch diese Leute da aus politischen Gründen raushaben wollte, wurden die nach Auschwitz überstellt. Die konnten da nun ein oder zwei Jahre als Häftling leben und waren da nur in der Kartei oder bei den Akten der Politischen Abteilung als Todesaspiranten geführt. Sie hatten vielleicht längst die Vorgeschichte vergessen, und eines Tages kam dann der Vollstreckungsbefehl, und dann wurden die erschossen. Es ist also durchaus möglich, daß Erschießungen vorgenommen wurden, für die nach außen – also für die Häftlinge, die das nicht wußten – gar kein Grund vorlag.

Vorsitzender Richter:

Ja. Nun, bei dieser Erschießung an der Schwarzen Wand, wer war da nach Ihrer Erinnerung persönlich beteiligt?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Das vermag ich heute auch nicht mehr zu sagen.

Vorsitzender Richter:

Sie haben einmal den Namen Palitzsch genannt.

Zeuge Konrad Morgen:

Ach ja, Palitzsch, ja.

Vorsitzender Richter:

Ja. Da können Sie sich noch positiv daran erinnern?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, daß der Erschießungen durchgeführt hat.

Vorsitzender Richter:

Bei den Untersuchungen, die Sie damals durchgeführt haben, daß Palitzsch einer gewesen ist, der selber Erschießungen vorgenommen hat.

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Wissen Sie auch etwas über Boger in diesem Zusammenhang?

Zeuge Konrad Morgen:

Kann ich mich nicht erinnern.

Vorsitzender Richter:

Also, Sie haben damals ausgesagt: »Ich meine, ich hätte Palitzsch damals selbst in Untersuchungshaft genommen. Ich glaube, daß auch Boger bei diesen Aktionen beteiligt war. Die Tötungen erfolgten mit einem Kleinkalibergewehr«, und so weiter, »ich habe persönlich keine derartigen Erschießungen mitangesehen. Ich weiß aber mit Sicherheit aus meinen Ermittlungen, daß solche stattgefunden haben.«[9]

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Also Sie haben gesagt: »Ich glaube, daß auch Boger bei diesen Aktionen beteiligt war«, aber mehr

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Ich habe kein zuverlässiges Erinnerungsvermögen mehr.

Vorsitzender Richter:

Ja. Hatten Sie denn gegen Boger auch ein Verfahren eingeleitet?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich glaube, ja.

Vorsitzender Richter:

Sie glauben, ja. [Pause] Hatten Sie noch Fragen? Bitte schön.

Richter Perseke:

Sie sagten eben, daß bei diesen Todesurteilen durch Standgerichtsurteile eine Zeit verstrich, bis der Generalgouverneur Frank als Gnadeninstanz entschieden hatte.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Richter Perseke:

Ist Ihnen nun der Name Doktor Mildner bekannt und ein Begriff?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Richter Perseke:

Wer war dieser Mann?

Zeuge Konrad Morgen:

Er war der Leiter der Gestapoleitstelle Kattowitz oder Gleiwitz, ich weiß nicht mehr genau.

Richter Perseke:

Dieser Doktor Mildner, der soll in Auschwitz Standgerichtsverfahren durchgeführt haben, selbst in Auschwitz. Ist Ihnen darüber etwas bekannt?

Zeuge Konrad Morgen:

Heute nicht mehr.

Richter Perseke:

Können Sie sich nicht mehr daran erinnern?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein. Möglich wäre es durchaus.

Richter Perseke:

Und wenn er Standgerichtsurteile gefällt hätte, dann hätte nach Ihrer heutigen Aussage ja zunächst an den Doktor Frank das gehen müssen. Ist das richtig?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, es kommt auf die Häftlinge an. Ein Teil der ehemalig polnischen Gebiete war, glaube ich, schon unter Verwaltung des Reichsgebietes gestellt worden. Und Frank hatte ja keine Befugnisse, die über sein Generalgouvernement hinausgingen. Also für diese Fälle, wenn es sich um Häftlinge gehandelt haben sollte, die nicht zum Generalgouvernement gehörten, mögen sie auch polnischer Nationalität gewesen sein, dann traf also die Gnadenfunktion von Frank nicht mehr zu.

Richter Perseke:

Ja, wer war denn dann zuständig als Gnadeninstanz oder Bestätigungsinstanz oder wie sich das nennen mag?

Zeuge Konrad Morgen:

Gruppenführer Müller, der Chef der Geheimen Staatspolizei. [...]

Richter Perseke:

Der Gruppenführer Müller hätte das Urteil dann bestätigen müssen?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Richter Perseke:

Und haben Sie irgendeine Vorstellung, wie lange das gedauert hätte oder wie lange es gedauert hat, wenn es der Fall war?

Zeuge Konrad Morgen:

Na, ich nehme an, das wäre sehr kurz gewesen.

Richter Perseke:

[Pause] Danke schön.

Vorsitzender Richter:

Also, Herr Doktor Morgen, ich muß noch einmal darauf zurückkommen. Sie haben uns einmal gesagt, daß nach diesem Erlaß über »Verschärfte Vernehmungen« a) besondere Anlässe vorliegen mußten und b) eine Genehmigung von Berlin. Sie glaubten aber, daß man in der Praxis über diese Befehle hinausgegangen ist. Es ist uns das hier wiederholt nunmehr aufgekommen, daß bestimmte Anordnungen, Anweisungen, Befehle, Einrichtungen, Institutionen und so weiter offiziell vorlagen und daß inoffiziell nach ganz anderen Richtungen verfahren wurde.

Zum Beispiel: Das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt brauchte Leute zum Besetzen der Arbeitsstellen der dort eingerichteten Industrien und so weiter. Selbstverständlich kann nur ein Mensch arbeiten, der gesund und kräftig ist. Und diese Leute, die sie arbeiten lassen wollten, sei es nun im Buna-Lager oder in sonstigen Werkstätten, die hatten natürlich ein Interesse dran, Arbeiter und keine abgewrackten Menschen zu bekommen. Andererseits hat man die Leute so schlecht behandelt, daß sie gar nicht in der Lage waren, positive Arbeit zu leisten. Also zwei Dinge, die nebeneinander herliefen, und von denen eines das andere ausschloß.

Ebenso hat man Häftlingskrankenbauten gehabt, mit Ärzten und, wenn auch wenig, aber immerhin mit Medikamenten, ja sogar mit einer Diätküche. Man hat sogar Leute wochenlang vom Fleckfieber wieder gesundgepflegt, und dann hat man sie ohne Angabe von Gründen eines Tages umgebracht, sei es, daß man sie vergast hat oder sie mit Injektionen getötet hat. Also alles Dinge, die nebeneinander herliefen, mit einer positiven und einer negativen Seite. Ist das Ihrer Ermittlung nach auch so dort gewesen in dem Auschwitz-Lager?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, diese grotesken Widersprüche – ich habe ja schon einige geschildert. Daß man auf der einen Seite Juden millionenweise umbrachte und daß dieses Kommando da sich duzte mit jungen Jüdinnen und sehr vertrauten Umgang hatte. Und diese Widersprüchlichkeiten, die einfach nicht zu fassen sind, dieses Durcheinanderregieren, dieses Ändern der Gesichtspunkte, das ist eigentlich gang und gäbe gewesen, und deshalb dieser vielschichtige, schillernde Komplex der Konzentrationslager. Buchstäblich alles ist möglich gewesen.

Vorsitzender Richter:

Ja, Herr Doktor Morgen, ich muß Sie deshalb fragen, weil wir hier Sachverständige gehört haben. Und diese Sachverständigen haben ihre Sachkunde natürlich in erster Linie aufgrund von schriftlichen Befehlen, Erlassen, Verordnungen, Berichten und so weiter, also aufgrund von Dokumenten hergeleitet, die ihnen in die Hand gekommen sind. Und nun will ich von Ihnen wissen, ob Sie aufgrund Ihrer Ermittlungen und Erfahrungen feststellen konnten, daß diese schriftlichen Unterlagen zwar offiziell bestanden haben, daß aber inoffiziell auch von oben herunter geduldet wurde gerade das Gegenteil. [Pause] Wie zum Beispiel bei diesen »Verschärften Vernehmungen«. [Pause] Was meinen Sie dazu?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Ja, das ist so. Es ist natürlich, daß sich die politischen und die wirtschaftlichen Interessen kreuzten. Auf der einen Seite, da brauchte man Häftlinge für die Kriegsproduktion. Und die Konzentrationslager hatten ja doch eine wichtige Aufgabe. Zum Beispiel die V-Waffen, die wurden dort zum großen Teil hergestellt. Oder auch von Häftlingen sind die Abschußrampen an der Kanalküste gebaut worden. Die Situation änderte sich aber auch. Von einem Monat zum anderen konnte sie sich ändern. Während in diesem Monat geschrieen wurde nach Arbeitskräften, da waren im nächsten Monat – vielleicht zum Beispiel nach dieser »Ungarn-Aktion«–, da waren dann Hunderttausende zuviel da. Die Leute, die konnte man gar nicht unterbringen. Da waren gar nicht Baracken und Betten dafür da und auch nicht die Verpflegung und die Kleidung und so weiter. Das ist nicht böser Wille gewesen, sondern die Kommandanten waren einfach überfordert. Die mußten sich ja mit den Kriegswirtschaftsämtern um jedes Kilo Nägel raufen. Und die Verpflegung, die wurde ihnen ja von den Ernährungsämtern zugewiesen, und die Konzentrationslager, die kamen in der Dringlichkeitsstufe, auch auf dem zivilen Sektor, ja an allerletzter Stelle. Und so ist es dann auch eben zu Katastrophensituationen gekommen und zu diesen Auswirkungen am Ende des Krieges. Aber das war nicht das Normale in den Konzentrationslagern.

Vorsitzender Richter:

Ja. Also was die Verpflegung anbelangt, da hätte ich auch noch eine Frage. Sie sagen eben, die Verpflegungssätze wurden von oben herunter – also ich vermute von Berlin aus – festgesetzt und zugeteilt. [...]

Zeuge Konrad Morgen:

Ja. Über die Ernährungsämter.

Vorsitzender Richter:

Und nun haben wir gehört, daß also von diesen Verpflegungssätzen etwa nur 70 Prozent überhaupt bis nach Auschwitz gekommen wären. Der Rest, der wäre schon vorher, was weiß ich, untergegangen, sei es durch schlechte Lieferungen, namentlich durch verhungertes Vieh und lauter solche Geschichten, die dann den Leuten angelastet worden sind, so daß die also nur 70 Prozent überhaupt empfangen hätten. Und von diesen 70 Prozent seien dann im Lager noch einmal soundso viel Prozent gestohlen worden, sei es, daß sie direkt bei den Magazinen abgeholt worden seien durch irgendwelche Leute, die da mächtig gewesen wären, das zu tun, sei es, daß sie nachher noch auf dem Block mit Wissen des Blockführers von dem Blockältesten erneut beschnitten worden seien. Was wissen Sie darüber, oder wissen Sie nichts darüber?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, doch. In der ganzen Kriegsernährung, da sind überall Schiebereien vorgekommen. Und es ist klar, daß in einem Zustand der Rechtlosigkeit, in dem der Häftling leben mußte, in dem er insbesondere an der untersten Stelle der Willkür der Kapos ausgeliefert war, daß er da in seiner Ernährung auch zu kurz kam. Der Blockälteste, häufig ein Berufsverbrecher, der nahm sich natürlich die besten Bissen und das meiste Brot und das meiste Fett. Und dann kamen dann nachher die Leute, mit denen er besonders gut konnte, seine Freunde. Na, und was dann für die letzten übrigblieb, das war dann zuwenig. Aber die Ernährungssituation ist verschieden. Wer auf ein Kommando kam, der bekam die Schwerarbeiterzulage oder Langarbeiterzulage. Denn die Firmen, die hatten ja ein eigenes Interesse daran, die Häftlinge arbeitsfähig zu erhalten. Die organisierten dann auch noch und gaben da dazu, so daß jene Häftlinge da auf ein ganz erträgliches Maß zum Teil gekommen sind.

Vorsitzender Richter:

Nun noch etwas anderes. Sie haben uns vorhin gesagt, jeder Lagerkommandant und auch die Leute bei der Politischen Abteilung hätten einen kleinen Zettel in ihren Akten liegen gehabt, auf dem draufgestanden hätte: »Über das Leben eines Staatsfeindes entscheidet nur der Führer.« Sie haben uns geschildert Ihre Unterredung mit dem Obergruppenführer Müller, dem Sie vorgehalten hätten, daß Leute ohne sein Wissen und ohne seinen Willen und ohne seine Genehmigung zu Tode gebracht worden seien. Daraufhin habe der Obergruppenführer Müller erklärt, daß das unter gar keinen Umständen zulässig sei und angehe. Stimmt das?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Wenn also, will ich mal sagen, hier in diesem Prozeß festgestellt werden sollte, daß der eine oder andere Angeklagte einen Häftling ohne diese ausdrückliche Anweisung von dem Obergruppenführer Müller getötet hätte, wäre das noch unter diese Genehmigung gefallen oder nicht?

Zeuge Konrad Morgen:

Unter welche Genehmigung? [...]

Vorsitzender Richter:

Ja, unter diese Genehmigung, daß der Obergruppenführer Müller bevollmächtigt sei, hier über Leben und Tod der Häftlinge zu entscheiden.

Verteidiger Laternser:

Ich widerspreche, Herr Vorsitzender, dieser Frage. Es handelt sich dabei um eine reine Rechtsfrage, die das Gericht dann wird beurteilen müssen, aber nicht der Zeuge. Ich widerspreche dieser Frage.

Vorsitzender Richter:

Also jedenfalls bleiben Sie dabei, daß der Obergruppenführer Müller erklärt hat, was er nicht genehmigt, ist nicht zulässig auf diesem Gebiet?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Schön. Dann hätte ich noch wegen Ihrer Person zwei oder drei Fragen. Ist es richtig, daß Sie zunächst einmal als Richter in Stettin durch Disziplinarbescheid entlassen worden sind aus dem Justizdienst?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Ist es richtig, daß Sie eingezogen worden sind zum 12. SS-Regiment in Posen?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich darf hinzufügen, damit keine Mißdeutungen meiner Person aufkommen: Ich hatte in öffentlicher Sitzung der Strafkammer des Landgerichtes Stettin die Mitwirkung an einer Urteilsfindung verweigert und habe dies zu Protokoll gegeben, weil Gefahr bestand, daß das Recht durch den Vorsitzenden gebeugt wurde.

Vorsitzender Richter:

Weil Gefahr bestand, daß das Recht durch den Vorsitzenden gebeugt wurde, deshalb haben Sie Ihre Mitwirkung versagt und sind deshalb aus dem Justizdienst entlassen worden.

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Ist es richtig, daß Sie dann zur Waffen-SS eingezogen worden sind nach Posen?

Zeuge Konrad Morgen:

Bei Kriegsbeginn. [...] Nicht nach Posen, nach Breslau.

Vorsitzender Richter:

Nach Breslau. Und ist es richtig, daß Sie dann zunächst als Schreiber beim Regimentsstab Verwendung fanden?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Ist es richtig, daß Sie dann schließlich im Oktober 40 als Hilfsrichter zum Hauptamt SS-Gericht versetzt worden sind und daß dann schließlich im Jahr 41, wie Sie uns schon geschildert haben, Ihre Versetzung nach Krakau erfolgt ist?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

An das SS- und Polizeigericht. Ich habe keine Fragen mehr. Hat das Gericht noch Fragen? Ja, bitte schön.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Zunächst zur Örtlichkeit. Sie sagten eben, als Sie auf der Rampe gewesen seien in Birkenau, das sei kilometerweit [unverständlich] gewesen bis zu den Krematorien, bis zu »Kanada«. Wir haben da drüben den Plan. Das wurde uns bisher immer als etwas näher geschildert.

Zeuge Konrad Morgen:

Die Zeit, von der ich spreche, das ist der Herbst 1943. Und da war diese Rampe noch ein Nebengleis

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Ach, das war die alte Rampe.

Zeuge Konrad Morgen:

Des Bahnhofes. Und später hat man dann – das habe ich auch gesehen – Gleise direkt in das Vernichtungslager gelegt.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Also im Herbst 43 war die neue Rampe in Birkenau noch nicht fertig?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Dann weiter. Das Vergasungskommando, bei dem [unverständlich]. Was haben Sie mit denen gemacht?

Zeuge Konrad Morgen:

Die sind angeklagt worden, verurteilt.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Die kamen weg, wurden angeklagt und verurteilt?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Dann zu Grabner. Sie haben damals nur Grabner verhaftet? Die anderen nicht aus der Politischen Abteilung?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich sagte, ich kann mich an Namen noch erinnern, aber nicht an die Einzelheiten des Verfahrens. Aber Grabner als der... [...] Es ist möglich, daß ich mehrere verhaftet habe. Ich glaube es sogar.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Jetzt überlegen Sie mal zurück. Sie nannten vorhin im Zusammenhang mit Grabner Klehr. Versuchen Sie sich mal zu erinnern, ob Klehr – es ist so etwas einmal in einer Aussage angedeutet – ob Klehr für Grabner eine Ausweichmöglichkeit war, wenn die Schwarze Wand überlastet war, daß dann einfach Leute in den Krankenbau überstellt wurden, die gar nicht krank waren, sondern die der Grabner weghaben wollte, und daß die dann – in einem Aufwasch so ungefähr – mit den »Muselmännern«, mit den ganz Schwachen, dort »abgespritzt« wurden.

Zeuge Konrad Morgen:

So ist es.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Das war also die Hilfestellung, die Klehr Grabner leistete?

Zeuge Konrad Morgen:

Nach meiner Erinnerung. [...]

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ja, dann zur »Verschärften Vernehmung«. Ich darf Ihnen vorhalten eine Geheime Reichssache vom Chef der Sicherheitspolizei des SD vom 12. Juni 1942. Unterschrieben: »In Vertretung, Müller.« Dort hat er zunächst sich vorbehalten, in allen übrigen Fällen, außer dringenden, die ich Ihnen gleich vorhalten werde, »in allen übrigen Fällen bedarf es grundsätzlich meiner vorherigen Genehmigung«, und hat als Ausnahmefälle im Gegensatz zu einem vorherigen Erlaß aus der Friedenszeit, nämlich aus dem Jahr 1937, folgendes festgelegt: »Verschärfte Vernehmung darf nur angewendet werden, wenn aufgrund des Vorermittlungsergebnisses festgestellt ist, daß der Häftling über wichtige staats- und reichsfeindliche Sachverhalte, Verbindungen oder Planungen Auskunft geben kann, seine Kenntnisse aber nicht preisgeben will und im Ermittlungswege nicht feststellbar sind.« Und zweitens: »Die verschärfte Vernehmung darf unter diesen Voraussetzungen nur angewendet werden gegen Kommunisten, Marxisten, Bibelforscher, Saboteure, Terroristen, Angehörige der Widerstandsbewegung, Fallschirmagenten, Asoziale, polnische und sowjetrussische Arbeitsverweigerer oder Bummelanten.« Das waren die Ausnahmen. »In allen übrigen Fällen bedarf es grundsätzlich meiner vorherigen Genehmigung.«

Ist Ihnen dieser Erlaß jetzt in Erinnerung, wenn ich Ihnen das vorhalte? Denn Sie haben ja in diesem Zusammenhang vorhin gesagt, die »Verschärften Vernehmungen« kamen da gar nicht in Frage, denn es war gar kein Reichsfall. Sie haben uns außerdem das Beispiel genannt, daß etwa man gehört habe vom Vertrauensmann, in vier Stunden soll ein Truppentransport in die Luft gesprengt werden, man weiß aber nicht, wo, man weiß nicht genau, auf welcher Bahnstrecke, jetzt muß schnell ermittelt werden. Ist Ihnen in diesem Zusammenhang das Gesetz geläufig?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, das sagte mir der Gruppenführer Müller, nicht, daß

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Das sagte Ihnen Gruppenführer Müller?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und da heißt es nämlich weiter am Ende: »Die Verschärfung kann je nach Sachlage unter anderem bestehen in einfachster Verpflegung, Wasser und Brot [unverständlich] Dunkelzelle, Schlafentzug, Ermüdungsübungen, aber auch in der Verabreichung von Stockhieben. Bei mehr als 20 Stockhieben muß ein Arzt zugezogen werden.« Damit ist an sich der Rahmen ja eng umrissen.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und in Auschwitz haben Sie Dinge festgestellt, die sowohl in bezug auf das Nicht-Müller-Fragen als auch in bezug auf die Härte der »verschärften Vernehmung« völlig außerhalb des Rahmens dieses Befehls lagen?

Zeuge Konrad Morgen:

So ist es.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Das können Sie ganz allgemein sagen für die Politische Abteilung?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl. Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Danke schön.

Vorsitzender Richter:

Herr Staatsanwalt.

Staatsanwalt Kügler:

Herr Doktor Morgen, wie war der Name des Sanitätsdienstgrades, der Sie auf die Spur Auschwitz gebracht hat, mit dem Paket, in dem das geschmolzene Gold drin war?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich kann mich nicht mehr erinnern.

Staatsanwalt Kügler:

Ich möchte Ihnen ein paar Namen vorhalten, Vielleicht fällt Ihnen dann der Name wieder ein: Koch, Theuer, Wieczorek, Richter, Hantl, Nierzwicki, Klehr, Scherpe, Neubert.

Zeuge Konrad Morgen:

Also die Namen sagen mir nichts.

Staatsanwalt Kügler:

Was ist mit dem Sanitätsdienstgrad geschehen?

Zeuge Konrad Morgen:

Bekam zwölf Jahre Zuchthaus.

Staatsanwalt Kügler:

Von welchem SS-Gericht?

Zeuge Konrad Morgen:

SS-Gericht zbV.

Staatsanwalt Kügler:

Und wo fand die Verhandlung statt?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich glaube, in Weimar.

Staatsanwalt Kügler:

In Weimar. Sind Sie dort aufgetreten in dieser Verhandlung in einer Funktion, sei es des Anklägers oder...

Zeuge Konrad Morgen:

Des Anklägers.

Staatsanwalt Kügler:

Sind Sie selbst aufgetreten?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich weiß nicht, ob in diesem Fall. Aber allgemein war ich zuständig.

Staatsanwalt Kügler:

Ja. Wie hieß Ihr Begleiter, der Sie auf dem Rundgang durch Auschwitz, einschließlich der Besichtigung der Krematorien, begleitet hat?

Zeuge Konrad Morgen:

Kann ich mich nicht mehr erinnern.

Staatsanwalt Kügler:

War es ein Offizier, ein SS-Führer des Lagers?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Sie wissen auch nicht, in welcher Dienststellung er sich damals befand? Der Adjutant oder wer es war?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, weiß ich nicht mehr.

Staatsanwalt Kügler:

Bei wem meldeten Sie sich denn zunächst, beim Adjutanten oder beim Kommandanten?

Zeuge Konrad Morgen:

Bei der Adjutantur selbstverständlich.

Staatsanwalt Kügler:

Beim Adjutanten, ja.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Staatsanwalt Kügler:

Können Sie sich erinnern, mit dem Adjutanten gesprochen zu haben? [...]

Zeuge Konrad Morgen:

Kann ich mich nicht erinnern.

Staatsanwalt Kügler:

Von dem verhältnismäßig großen Umfang Ihrer Ermittlungen, die Sie ja damals geführt haben, ist Ihnen da noch erinnerlich, wie die Dienststellung und der Aufgabenbereich des Adjutanten in einem Konzentrationslager zu umschreiben sind? [Pause] Beispielsweise sagten Sie uns, daß Boger die rechte Hand des Grabner gewesen sei. Würden Sie eine ähnliche Formulierung gebrauchen, wenn ich Sie frage, was der Aufgabenbereich des Adjutanten war? War er die rechte Hand des Kommandanten?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich glaube, das kann man nicht so allgemein sagen. Das hängt doch ganz von der Persönlichkeit des Chefs ab. Wenn ein Chef alles selber macht und sich für unersetzlich hält und glaubt, daß Untergebene es grundsätzlich nur falsch machen, dann wird der Adjutant ganz im Schatten stehen und nur so eine Art Ehrengarde sein. Ist der Chef großzügig und vielleicht auch, wollen wir es mal ruhig sagen, faul, dann wird er sehr viel abwälzen, und der Adjutant mag dann vielleicht der eigentliche Herr des Lagers sein, de facto.

Aber wie das Verhältnis nun in Auschwitz gewesen ist, das weiß ich nicht. Denn darum konnte ich mich nicht kümmern, interessierte mich auch nicht. Es spielte in dem Zusammenhang meiner Untersuchung keine Rolle, und ich war auch nur wenige Male in Auschwitz da.

Staatsanwalt Kügler:

Können Sie eine Angabe darüber machen, ob dem Adjutanten die Fahrbereitschaft unterstand?

Zeuge Konrad Morgen:

Das ist möglich, aber ich weiß es nicht.

Staatsanwalt Kügler:

Darüber wissen Sie nichts Genaues. Können Sie mir sagen, wo dieses Krematoriumskommando schlief – also dieses Krematoriumskommando, das Sie da in betrunkenem Zustand angetroffen hatten? Waren diese Leute in den Krematorien selbst untergebracht, oder hatten die irgendwo anders eine Unterkunft?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich meine, die hätten woanders eine Unterkunft gehabt.

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Können Sie sich noch an den Leiter dieses Kommandos erinnern?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Staatsanwalt Kügler:

Sagt Ihnen der Name Moll etwas?

Zeuge Konrad Morgen:

Kann ich mich nicht mehr daran erinnern.

Staatsanwalt Kügler:

Können Sie sich nicht mehr daran erinnern. Waren Sie im Zusammenhang mit Ihrer Tätigkeit auch in dem Konzentrationslager Lublin?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Ist Ihnen dieses Konzentrationslager, dem ja, glaube ich, auch eine Vernichtungsanstalt angeschlossen war, nur unter dem Namen Lublin oder auch Majdanek oder unter beidem bekannt?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein. Das Konzentrationslager Lublin ist eine Schöpfung des Standartenführers Koch, die sich aus einem Kriegsgefangenenlager entwickelt hat. Und Majdanek, Treblinka und Sobibór, das waren Vernichtungsstätten, die ich zum Teil auch untersucht habe und die unter dem Kommando eines Kriminalkommissars [Wirth] standen.

Staatsanwalt Kügler:

Können Sie sich noch erinnern, wann Sie in Lublin waren?

Zeuge Konrad Morgen:

Etwa um dieselbe Zeit, früher oder später.

Staatsanwalt Kügler:

Haben Sie dort mit dem hier angeklagten Adjutanten des späteren Lagerkommandanten Baer in Auschwitz, der damals in Lublin war, zu tun gehabt, Höcker?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, ja.

Staatsanwalt Kügler:

Was war der Grund?

Zeuge Konrad Morgen:

Nun, das Typische.

Staatsanwalt Kügler:

Na ja, das Typische. Also Korruptionsfälle?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, ja. Jedenfalls war das der Ausgangspunkt.

Staatsanwalt Kügler:

Ja. War der hier angeklagte Höcker damals in einen dieser Korruptionsfälle verwickelt?

Zeuge Konrad Morgen:

Ist mir nicht erinnerlich.

Staatsanwalt Kügler:

Ist Ihnen nicht erinnerlich. Soweit sich die Korruption nicht auf die Effekten bezog, ist es richtig, daß – zumindest in Buchenwald, und ich möchte Sie fragen, ob es in Auschwitz ähnlich war – die Kantine ein Feld war, um die Korruption voranzutreiben, für die SS?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Ja, ich möchte sagen, das traf auf die Dachorganisation, auf die sogenannte Kasinogesellschaft, auch zu.

Staatsanwalt Kügler:

Speziell auf Auschwitz abgestellt, war das dort auch so?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, und diese Kantinen, die unterstanden alle Dachau. Das Dachau war in Form, glaube ich, einer GmbH organisiert.

Staatsanwalt Kügler:

In dem Verfahren gegen den Leiter der Politischen Abteilung Grabner sind Sie selbst als Anklagevertreter aufgetreten, ist das richtig?

Zeuge Konrad Morgen:

Das weiß ich nicht mehr.

Staatsanwalt Kügler:

Das wissen Sie nicht mehr. Können Sie sich noch erinnern, ob dieses Verfahren zu Ende geführt wurde?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich glaube nicht, denn Grabner wurde eines Tages durch eine Verfügung von Obergruppenführer Müller in das Gefängnis des Reichssicherheitshauptamtes überführt nach Berlin, wahrscheinlich, um seine eigene Zuständigkeit als Gerichtsherr zu begründen damit. Und bei Ende des Krieges soll er dann solchen Haufen, die letzte Verteidigungskämpfe führten, zugeteilt worden sein.

Staatsanwalt Kügler:

Herr Doktor Morgen, wenn ich Ihnen vorhalte, daß sich entweder der Angeklagte in diesem Verfahren oder einer der Zeugen darauf berufen hat: Was wollt ihr eigentlich wegen dieser Erschießungen? In Auschwitz werden ja täglich Tausende umgebracht, das kommt ja da auf einen mehr oder weniger gar nicht an, daß in diesem Zusammenhang das SS-Gericht von den Vergasungsaktionen in Auschwitz offiziell Kenntnis nehmen mußte und daß aus diesem Grunde der Prozeß vertagt wurde, wenn wir es einmal so nennen wollen. Bedeutet Ihnen das möglicherweise eine Erinnerungsstütze?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Sie meinen, der Prozeß gegen Grabner vertagt wurde deswegen.

Staatsanwalt Kügler:

Ja, daß er vertagt wurde, weil sich entweder der Angeklagte oder einer der Zeugen darauf berief: Was wollt ihr überhaupt uns hier anklagen wegen ein paar Erschießungen, in Auschwitz werden täglich ein paar Tausend Juden umgebracht, das kann ja gar nicht darauf ankommen. Wenn das Recht ist, muß das, was wir gemacht haben, schon lange Recht sein.

Zeuge Konrad Morgen:

Nun eben nicht, denn der feine, aber doch wesentliche Unterschied ist doch der, daß bei angeordneten Exekutionen oder Vergasungen jegliche Initiative ausschied. Es wurde befohlen, und das wurde ausgeführt. Aber bei den anderen Erschießungen, da konnten sich die Angeklagten ja nicht auf einen Befehl berufen, und sie haben es aus eigenem Ermessen und eigenen Stücken oder aus persönlichen Motiven getan.

Staatsanwalt Kügler:

Haben Sie bei Ihren Ermittlungen irgendwelche Feststellungen dahingehend treffen können, daß der Vernichtungsbefehl von Hitler persönlich stammte?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Staatsanwalt Kügler:

Können Sie dazu nähere Angaben machen? [...]

Zeuge Konrad Morgen:

Die gesamte Judenvernichtung wurde zentral geleitet und gesteuert durch die Kanzlei des Führers, Berlin, Tiergartenstraße [4].

Staatsanwalt Kügler:

Die Parteikanzlei?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja. Abgekürzt [ T4 ].[10]

Staatsanwalt Kügler:

Herr Doktor Morgen, können Sie sich erinnern, daß Sie im Zusammenhang mit Ihren Ermittlungen einen Bericht gemacht haben, der unter dem Namen »Bericht des Doktor Morgen« in die Nürnberger Dokumentensammlung unter dem Zeichen NO – 2366 eingegangen ist?

Zeuge Konrad Morgen:

Das weiß ich nicht. Ich möchte den Bericht sehen.

Staatsanwalt Kügler:

Ja, ich habe hier eine Abschrift[11] und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich das vielleicht einmal ansehen würden. [Pause] Das ist nur ein Auszug, Herr Doktor Morgen. [Pause]

Verteidiger Aschenauer:

»Die Zentrale der Judenvernichtung lag in ›[T4]‹.« Auf was stützen Sie Ihre Meinung?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich habe ja nicht nur diese Massentötungen in Auschwitz untersucht, sondern auch in diesen Vernichtungslagern weiter östlich, in Treblinka, Sobibór, noch einem dritten...

Vorsitzender Richter:

Majdanek.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Verteidiger Aschenauer:

Sobibór?

Zeuge Konrad Morgen:

Die von dem Kriminalkommissar [Wirth] aus Stuttgart geleitet worden sind. Und ich habe bei [Wirth] die Akten eingesehen und habe mir berichten lassen. Und es war ganz eindeutig, der Schriftverkehr über die »Endlösung«, in Anführungsstrichen, der Kurierdienst, das ging alles von der Kanzlei des Führers aus.

[Wirth] beklagte sich auch noch bitter über seinen Status, der da ungeklärt war, denn als Beauftragter einer Parteidienststelle war er nicht Soldat im Rechtssinne, und folglich hatte er auch nicht die Vergünstigungen der freien Feldpost und der Wehrmachtsfreifahrtscheine, sondern mußte das aus seiner eigenen Tasche bezahlen. Und gerade weil ihm das sehr lästig war und er das als ungerecht empfand durch seine Abhängigkeit von [ T4 ], da führte er darüber Klage. Und das ist also auch ein Beweis dafür, daß das von [ T4 ] ausging.

Verteidiger Aschenauer:

Eine Frage in diesem Zusammenhang: Unterstand der Kriminalkommissar Wirth nicht dem SS- und Polizeiführer Globocnik, der einen Sonderauftrag in dieser Richtung von Himmler hatte? Und handelte der Mann in der Kanzlei des Führers – ich nehme an, Sie meinen Brack – in einer Doppelfunktion, indem dieser als SS-Oberführer dem Stab des Reichsführers SS gleichzeitig zugeteilt war?

Zeuge Konrad Morgen:

Das ist richtig, Herr Verteidiger. Aber es ist ja oft zu beobachten, dieser Behördenwirrwarr, der sich im Dritten Reich...

Vorsitzender Richter:

Breitmachte.

Zeuge Konrad Morgen:

Breitgemacht hat. Die Zersplitterung der einheitlichen Zuständigkeit, die Einsetzung von Sonderbeauftragten, das war ein heilloses Durcheinander. Ich nehme aber an, daß der Gedanke der gewesen ist, daß hier Globocnik örtlich zentral für das östliche Generalgouvernement diese Tätigkeit dieser Kommandos zu koordinieren hatte und dafür zuständig gewesen ist.

Verteidiger Aschenauer:

Moment. Sie sagen Zentrale. Welches Verhältnis hatte dann Eichmann zu diesem »T3« oder »T4«?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich sprach von dieser Zentrale [ T4 ]. Diese Zentrale war ja verhältnismäßig klein. Und sie mußte ja die praktische Arbeit und die Durchführung anderen anvertrauen. Einer dieser verlängerten Arme, das ist dieser Kriminalkommissar [Wirth] gewesen, ein Mann also, der von seiten der Parteiorganisation sozusagen da entsandt worden war. Auf der anderen Seite war und mußte das Reichssicherheitshauptamt eingeschaltet sein, weil die das gesamte Erfassungswesen hatten. Die veranlaßten zum Beispiel also die Verhaftung der Juden in Belgien, in Holland, in Deutschland. Die stellten die Fahrpläne zusammen. Und diese Funktion, die hatte Eichmann wahrgenommen.

Verteidiger Aschenauer:

Eine weitere Frage. Können

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Verzeihung. P3?

Zeuge Konrad Morgen:

[ T4 ]. [...]

Verteidiger Aschenauer:

T heißt Tiergartenstraße.

Vorsitzender Richter:

Ja, und zwar war das die

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Und das andere ist eine Hausnummer, und zwar Tiergartenstraße 4, das bedeutet die Euthanasiezentrale.

Vorsitzender Richter:

Ja, und wem waren diese Dienststellen untergeordnet?

Verteidiger Aschenauer:

Der Leiter der Dienststelle war Bouhler, seine rechte Hand war Brack. Und Bouhler unterstand direkt Herrn Hitler.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, so ist es.

Vorsitzender Richter:

Also so, daß es eine, möchte ich sagen, Dienststelle der Reichskanzlei war oder Dienststelle des

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Kanzlei des Führers ist die offizielle Bezeichnung. Und »T4« gehörte zu dieser Kanzlei des Führers hinzu. [...]

Vorsitzender Richter:

Bitte weiter.

Verteidiger Aschenauer:

Eine letzte Frage in diesem Zusammenhang: Herr Doktor Morgen, kennen Sie die eidesstattliche Erklärung von Wisliceny – das ist ein Mann von Eichmann –, in der es heißt, daß Himmler erklärt hat, daß diese furchtbare Aufgabe der Judenvernichtung Hitler ihm, Himmler, übertragen hat?

Zeuge Konrad Morgen:

Ist mir nicht bekannt.

Verteidiger Aschenauer:

Dann eine weitere Frage. Sie haben gesprochen in Ihrer Vernehmung von dem Erlaß der »Verschärften Vernehmung«. Der Herr Amtsgerichtsrat Hummerich hat Ihnen einen Erlaß aus dem Jahr 42 vorgehalten. Ich glaube, es ist der vom 12.7. Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang: Herr Doktor Morgen, ist Ihnen bekannt, daß die Ausnahmeregelung und die Verschärfungen der »Verschärften Vernehmung« in der ersten Hälfte des Jahres 1943 weiter und schärfer wurden?

Zeuge Konrad Morgen:

Durchaus möglich.

Verteidiger Aschenauer:

Eine Frage: Sie haben vorhin gesprochen über illegale Tötungen in dem Konzentrationslager und die Meinung vertreten, daß normalerweise die Zuständigkeit des Herrn Müller, also des Leiters der Abteilung IV im Reichssicherheitshauptamt, notwendig gewesen wäre. Meinen Sie hier dies Gefüge der sogenannten Sonderbehandlung? Können Sie uns erzählen, wie eigentlich im Rahmen dieses Erlasses der »Sonderbehandlung« diese Exekutionsbefehle von oben gekommen sind?

Zeuge Konrad Morgen:

Bin ich überfragt.

Verteidiger Aschenauer:

Eine weitere Frage: Gab es auch eine Lagerordnung, die Exekutionen vorschrieb?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Eine Lagerordnung?

Verteidiger Aschenauer:

Lagerordnung. Nehmen wir mal an, Lagerordnung Neuengamme, Lagerordnung Auschwitz, Lagerordnung für Dachau, für gewisse Handlungen von Häftlingen. Wo also Exekutionen eben angeordnet waren, wobei Sie voraussetzen dürfen, daß meine Frage dahin geht, daß durch von oben genehmigte Lagerordnungen, also vom Inspekteur der KZ genehmigte Lagerordnungen, Exekutionen für bestimmte Fälle angeordnet waren.

Zeuge Konrad Morgen:

Sie meinen, Herr Verteidiger, daß der Kommandant von sich aus Exekutionen anordnen konnte.

Verteidiger Aschenauer:

Richtig. Jawohl. Für bestimmte Handlungen der Häftlinge.

Zeuge Konrad Morgen:

Also das war nur möglich bei offener Widersetzlichkeit eines Häftlings oder einem Angriff eines Häftlings auf einen SS-Mann, wo also auf der Stelle ein Exempel statuiert werden sollte und mußte. Das war vorgesehen. [...]

Verteidiger Aschenauer:

Weitere Fälle in der Lagerordnung haben Sie nicht mehr im Kopf? Dann eine weitere Frage: Ist einmal ein Fall der organisierten Judentötung an die SS-Gerichte herangetragen worden?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Wie

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Daß einmal eine Anzeige gekommen ist, irgendwo aus dem Osten: Hier ist eine Judenaktion vorgenommen worden, bitte verfolgt die. Eine Judentötungsaktion also, die befohlen war.

Zeuge Konrad Morgen:

Ist mir nicht bekannt.

Verteidiger Aschenauer:

Ist Ihnen nicht bekannt. Eine Schlußfrage. Nein, die stelle ich nicht. Danke.

Vorsitzender Richter:

Keine Frage mehr? Bitte schön.

Verteidiger Steinacker:

[Pause] Eine Frage, Herr Doktor Morgen: Sie haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, auf die Frage des Herrn Staatsanwalts Kügler wegen der Vernichtung der Juden erklärt, zunächst klar, der Vernichtungsbefehl stammte von Hitler persönlich, die Zentrale der Judenvernichtung befand sich in der Kanzlei des Führers, »T3«, jetzt »T4«. In diesem Zusammenhang eine Frage: [Pause] Nachdem Sie das hier uns so klar gesagt haben und das erklärt haben – ich nehme das an, daß es Ihr damaliges Wissen ist, was Sie uns gesagt haben über den Vernichtungsbefehl –, haben Sie, als Sie festgestellt hatten, daß in Auschwitz Vergasungen vorkamen, und zwar Massenvergasungen, das in Ihrem Bericht auch erwähnt?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich habe ja viele Berichte geschrieben, und zwar laufend. Und zwar abgestimmt je nach dem Empfänger oder allgemein, und auch Vortrag gehalten. Ich habe gesagt, daß, als ich die Untersuchungen in Auschwitz überhaupt ankurbelte, meiner Erinnerung nach bei meinem Vortrag im Reichskriminalpolizeiamt... Denn ich hatte ja eine Dienstreise da gemacht wegen eines bestimmten Falles und wollte nun veranlassen, daß dort in Auschwitz auch eine Kommission aufgestellt würde. Ich habe also meiner Erinnerung nach mich zunächst nur auf die reinen Korruptionsfälle beschränkt. Aber nachdem diese Ermittlungen sich dann – wie ich gehofft und vorausgesehen hatte – erweiterten, noch auf die Tötungskomplexe übergriffen, da horchten natürlich die anderen Dienststellen, also Kaltenbrunner und der Reichsarzt SS und so weiter, natürlich auf. Und das interessierte die auf das höchste. Denn Dieberei von einem kleinen Mann, das war ja für diese hohen Herrn vollkommen uninteressant. Und in diesem Zusammenhang habe ich natürlich berichtet. Und auch in den Verfahren selbst haben ja zum Beispiel dann Ärzte sich darauf bezogen, es hätte solche Befehle gegeben, und sie hätten also durchaus rechtmäßig gehandelt, so daß also nachher in den SS-Gerichtsverfahren dieser Komplex der Tötungen in vollem Umfang erörtert worden ist. Unter anderem ist auch nach Buchenwald als Sachverständiger damals in einem der Prozesse der Professor Doktor Heyde vernommen worden, der jetzt durch Selbstmord aus dem Leben geschieden ist.

Verteidiger Steinacker:

Herr Doktor Morgen, bezieht sich das auch auf die im großen vorgenommene Vergasung der Juden?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl. [...]

Verteidiger Steinacker:

Und ist über die Erörterung in dem Verfahren in Weimar hinaus irgend etwas geschehen? Hat man von höchster Stelle irgend etwas in dieser Richtung getan? Hat man gesagt, es besteht ein Befehl, oder hat man gesagt, es besteht kein Befehl, das wird ohne Befehl gemacht? Erinnern Sie da irgend etwas?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, also was die Judenvernichtungen anbelangt, das sagte ich ja, da bestand der höchste Befehl der »Endlösung« und eine Organisation. Darüber gab es also gar nichts zu deuteln. Was unklar blieb, das waren diese Euthanasiebefehle, deren Auslegung und die Befugnisse der Ärzte, die sie in Anspruch genommen hatten. Und nachdem sich nun Ärzte auf solche angeblich vorliegenden Befehle berufen hatten, also insbesondere der Doktor Hoven, da ist vom Hauptamt SS-Gericht ein Untersturmführer Kaiser ins Reichssicherheitshauptamt entsandt worden, um diese Befehle festzustellen, also dem Gericht vorzulegen. Der war wochenlang dort, hat die Archive durchgesehen, hat mit jedem gesprochen und hat solche Befehle nicht gefunden.

Verteidiger Steinacker:

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bezieht sich das aber nur auf Euthanasie und ähnliche Dinge.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Verteidiger Steinacker:

Aber nicht auf die Frage der Massentötung der Juden?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Verteidiger Steinacker:

Da war kein Zweifel?

Zeuge Konrad Morgen:

Gar kein Zweifel.

Verteidiger Steinacker:

Danke schön, keine Fragen mehr.

Vorsitzender Richter:

Augenblick mal, Herr Doktor. Hatten Sie nicht einmal früher gesagt, Sie wüßten nicht, ob aufgrund Ihrer Berichte die Massentötungen vorübergehend eingestellt worden seien?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, ich hatte den Eindruck. Denn was das Ziel meiner Untersuchung war, zu zeigen, daß diese Tötungen und damit die Entwertung sämtlicher anderen Rechtsgüter dem folgen müsse, daß dadurch die Menschen, diese SS-Angehörigen, nicht nur verroht und sadistisch und korrupt würden, überhaupt unbrauchbar als Soldaten für ein späteres Leben, alles das, das hat doch nachher , als das als Massenerscheinung aufgedeckt worden ist von mir, einen gewaltigen Eindruck gemacht bei der SS-Generalität. Und ich kann mich also noch lebhaft daran erinnern, wie der Chef des Hauptamtes SS-Gericht, der SS-Obergruppenführer Breithaupt, auf den Tisch schlug. Und er sagte: »Da haben wir diese Sauerei, und ich habe es dem Reichsheini schon damals prophezeit, daß es so kommen wird. Und jetzt ist es eingetreten, und das ist ein Saustall. Das spottet ja jeder Beschreibung, das gehört aufgehört und gestoppt«, und so weiter. Und ich glaube also, daß hier in diesen höchsten Gremien – besser als ich das konnte als kleiner Leutnant –, da schon hinter den Kulissen gearbeitet worden ist. Und tatsächlich kamen ja dann die Befehle, wurde noch mal in Erinnerung gerufen, daß das Leben des Häftlings in der Hand des Führers steht, daß ein Häftling nicht geschlagen werden muß. Das wurde kontrolliert, auch mit dem Essen, und die Behandlung, die besserte sich. Und dann eines Tages, also 44 war es gewesen, dann stoppte das auch mit den Tötungen.

Vorsitzender Richter:

Dann stoppte das auch mit der Vergasung?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Ja? Und wurde aber später wieder eingesetzt, oder?

Zeuge Konrad Morgen:

Hörte ich nach dem Kriege.

Vorsitzender Richter:

Nachher soll es wieder begonnen worden sein.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, ja.

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Aschenauer.

Verteidiger Aschenauer:

Eine Frage im Zusammenhang mit dem OBUS, mit dem Rechtsamt der SS. Herr Doktor Morgen, ist Ihnen ein Urteil des Obersten SS- und Polizeigerichtes vom 24. Mai 1943 bekannt? Und zwar ist es das Urteil gegen den Max Täubner, in dem es heißt: »Wegen der Judenaktion als solcher soll der Angeklagte nicht bestraft werden . Die Juden müssen vernichtet werden. Es ist um keinen der getöteten Juden schade. Es ist nicht deutsche Art allerdings, bei der notwendigen Vernichtung des schlimmsten Feindes unseres Volkes bolschewistische Methoden anzuwenden.« Ist Ihnen dieses Urteil aus dem Jahr 43 bekannt?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, das ist mir bekannt, aber erst nachträglich bekanntgeworden durch ein Ehrengerichtsverfahren gegen den Rechtsanwalt Doktor Reinecke in München, der wegen dieses Urteils aus der Anwaltschaft ausgeschlossen worden ist.

Vorsitzender Richter:

Ja, also nach dem Krieg.

Zeuge Konrad Morgen:

Also damals wußte ich es nicht.

Vorsitzender Richter:

Und das war ein Urteil des Oberen SS

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Des Obersten SS- und Polizeigerichts, also das höchste SS- und Polizeigericht, das es gibt. Daher also auch hatte ich vorhin die Frage stellen wollen, ob also die SS- und Polizeigerichte rechtswidrige Führerbefehle als rechtens anerkannt haben.

Aber jetzt eine Schlußfrage, hinsichtlich der Einstellung von Vergasungen beziehungsweise Verkleinerungen und so weiter dieser Maßnahmen: Wann waren Ihre Besprechungen in Berlin beziehungsweise Ihre Abschlußberichte? Vor dem 27.4.1943 oder nachher? [...]

Vorsitzender Richter:

Er ist doch erst im Herbst 43 nach Auschwitz gekommen.

Verteidiger Aschenauer:

Ja, dann möchte ich folgendes sagen: daß also hier unterschrieben ist bei einem Befehl, bevor eben Herr Liebehenschel nach Auschwitz gekommen ist, wo diese Einschränkung durch diesen Erlaß, von Liebehenschel unterschrieben, vom 27.4.43 eingetreten ist.

Vorsitzender Richter:

Moment, was ist das für ein Befehl vom 27.4.?

Verteidiger Aschenauer:

Das ist diese Einschränkung der Selektionen mit »Abspritzungen« und so weiter, daß diese Dinge eben nur noch ausgeführt werden dürfen bei nichtarischen Häftlingen. Ich lege die Dokumente vor.

Vorsitzender Richter:

Ja, ich weiß nicht ganz recht im Augenblick, Herr Doktor Aschenauer, welche logische Brücke Sie

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Nein, also die Sachlage ist ja so: Wir haben gehört, daß eben durch Berichte solche Einschränkungen oder solche Stopps in den Massentötungen erfolgt sind. Und daher frage ich: Wann sind diese Besprechungen gewesen?

Vorsitzender Richter:

Ja, die können ja erst nach dem Herbst 43 gewesen

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Gut. Aber ich führe jetzt diesen Befehl an, daß also eben hier die Grundlage dieser Einschränkung bereits durch diesen Befehl gegeben ist.

Vorsitzender Richter:

Sie meinen, daß also Liebehenschel schon vor dieser

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Am 27. April 1943. Ich habe den Befehl wortwörtlich.

Vorsitzender Richter:

Gut.

Zeuge Konrad Morgen:

Es war aber damals keine klare Regelung der Zuständigkeiten da. Liebehenschel war schon da, aber trotzdem mimte der Höß immer noch weiter da rum. Der konnte sich zunächst gar nicht auswirken. Sondern Höß ist auch noch später noch mal zurückgekommen zu dieser »Ungarn-Aktion«. Er betrachtete dieses Auschwitz eigentlich als seine ureigenste...

Vorsitzender Richter:

Domäne.

Zeuge Konrad Morgen:

Domäne.

Verteidiger Aschenauer:

Herr Doktor Morgen, Sie dürfen nicht vergessen, daß Liebehenschel in der Zentrale zunächst gesessen ist, zu diesem Zeitpunkt bei Pohl, und von dort nach Auschwitz kam. Und dieser Befehl, dieser Erlaß, der kam also aus dem Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS heraus. Und zwar war es kein Befehl von Liebehenschel in seiner Funktion als Kommandant von Auschwitz, sondern in seiner vorherigen Stellung.

Vorsitzender Richter:

Ja, im Wirtschaftshauptamt

Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:

Im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS bei Pohl.

Zeuge Konrad Morgen:

Aber leider ist er nicht durchgeführt worden. Jedenfalls nicht sofort.

Verteidiger Schallock:

Herr Zeuge, haben Sie bei Ihren Ermittlungen festgestellt, wie weit diese Befehle – nicht über die Vergasung und die Vernichtung der jüdischen Menschen, sondern über die Behandlung der Häftlinge – in den Instanzen, das heißt also bei den niederen Dienstgraden, bekannt waren? Ich nehme an – das schließt sich an gleich, diese Frage –, daß Sie bei Ihren Vernehmungen das auch geprüft haben.Welche Belehrungen wurden da erteilt über diese Befehle?

Vorsitzender Richter:

Aber Herr Rechtsanwalt, wenn ich Sie recht verstanden habe, wollen Sie den Zeugen fragen, ob diese Befehle durchgedrungen seien bis zu den unteren Dienstgraden. Stimmt das? Wollen Sie das fragen?

Verteidiger Schallock:

Ja, richtig. So habe ich es auch ähnlich ausgedrückt.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Das wollen Sie fragen. Bitte schön, Herr Doktor Morgen.

Zeuge Konrad Morgen:

Jedenfalls habe ich feststellen müssen, daß zum Teil die Kommandanten ja selbst sich nicht an diese Befehle gehalten haben.

Vorsitzender Richter:

Ja, es ist nun ein Unterschied, Herr Doktor Morgen, ob ich einen Befehl kenne und ihn nicht befolge oder ob ich ihn deshalb nicht befolge, weil ich ihn nicht kenne. Und deshalb will der Herr Rechtsanwalt Schallock vermutlich wissen, ob die Befehle überhaupt durchgedrungen sind bis nach unten, ob also Belehrungen darüber stattgefunden haben.

Zeuge Konrad Morgen:

Das ist natürlich schwer zu beantworten, wenn ich

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ich meine, das können Sie uns nur sagen, wenn Sie aufgrund Ihrer Ermittlungen irgendwelche Fakten festgestellt haben, denn Sie sind ja kein Sachverständiger. Sie sollen uns auch hier nicht ein Gutachten erstellen, sondern Sie sollen uns eben nur das sagen, was Sie aufgrund Ihrer Ermittlungen festgestellt haben. Haben Sie etwas darin festgestellt, oder haben Sie es nicht festgestellt? Oder wissen Sie es nicht mehr?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich weiß es nicht mehr. Es hängt auch zu sehr vom Einzelfall ab. Aber ich glaube, gerade die Art der Ausführung bei manchen Mordtaten, die ich da angeklagt habe, die deutete ja auf das schlechte Gewissen des Täters hin, daß er die Spuren eben vernichtete und das heimlich tat und raffiniert und verborgen, nicht offen.

Vorsitzender Richter:

Noch eine Frage, Herr Rechtsanwalt Schallock?

Verteidiger Schallock:

Ja, das ist zwar in etwa eine Wiederholung, aber zur Deutlichmachung: Hat sich denn mal ein Angeklagter, ein Beschuldigter der unteren Dienstgrade, darauf berufen, »davon weiß ich ja gar nichts, von diesen Befehlen«?

Vorsitzender Richter:

Wissen Sie etwas darüber?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, er wußte, daß er Unrecht tat.

Verteidiger Schallock:

Ja, das ist eine andere Sache, ob er wußte, daß er Unrecht tat. Beim Militär wird doch alles mit Befehlen geregelt. Sie werden ihnen doch vorgehalten haben: »Hier liegt dieser Befehl vor, kennen Sie den?« Oder haben Sie das nicht getan, oder können Sie sich nicht erinnern?

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Morgen, der Herr Rechtsanwalt Schallock wollte von Ihnen wissen, ob überhaupt sich ein Untergebener einmal berufen hätte darauf, daß ihm dieser Befehl nicht bekanntgewesen sei. Wissen Sie etwas davon noch?

Zeuge Konrad Morgen:

Ist mir nicht bekannt, daß er sich darauf berufen hätte.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ist Ihnen nicht mehr bekannt. Na, Herr Doktor Naumann, nachher kommen Sie noch dran.

Verteidiger Schallock:

Herr Doktor Morgen, ich möchte noch mal darauf

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Ich darf [...] vielleicht mal einen typischen Fall einer Ermordung schildern, die diese Frage beantwortet, und zwar aus Buchenwald. Weil ich sie persönlich in allen Einzelheiten geprüft habe, ist sie mir noch in Erinnerung, während ich sonst mich ja mehr oder weniger auf das Ermittlungsergebnis der von mir Beauftragten stützen mußte.

Und zwar waren das zwei Fälle, die den Obergruppenführer Fürst zu Waldeck persönlich angingen. Er kannte diese Leute – es waren SPD-Abgeordnete, Krämer und Peix. Und er hatte sich für die Entlassung dieser Leute eingesetzt, und es war ihm zugesagt worden, die werden entlassen. Und ehe sie entlassen werden sollten, bekam das SS- und Polizeigericht Kassel die Mitteilung: »Sie sind auf der Flucht erschossen worden.« Nun sagte sich Waldeck: Leute, denen ich gesagt habe, ihr werdet entlassen, die fliehen doch nicht. Und außerdem konnte der eine gar nicht fliehen, weil er eine schwere Kniegelenkentzündung hatte. Der Mann, der konnte also nur humpeln. Er hat diesen Fall durch das SS-Gericht Kassel genauestens untersuchen lassen. Es wurden sämtliche erreichbaren Häftlinge, die Leute, die die erschossen haben, der Führer des Kommandos, der Gerichtsoffizier, vernommen, tagelang. Die Akten habe ich selber gelesen. Gerichtspathologisch wurden die Leichen seziert, es wurde festgestellt: sind Fernschüsse, von hinten. Der Posten hat unter Eid erklärt: »Ich habe die Häftlinge angerufen. Sie sind nicht stehengeblieben. Ich mußte von der Schußwaffe Gebrauch machen.« Seine Kameraden haben es bestätigt. Waldeck konnte nichts machen.

Ich bin dahintergekommen: Das war alles ein abgekartetes, raffiniert eingefädeltes Spiel, und man hat die Planskizzen, wie die Leichen später liegen sollten, schon vorher angefertigt. Man hat jeden einzelnen darauf vergattert und hat es auswendig sagen lassen, was er dem SS-Gericht zu sagen hat. Das ist ihm tage- und nächtelang eingebleut worden. Und dann hat man das ablaufen lassen, diesen Film, wenn man das bei diesem grausigen Ereignis so nennen darf. Und wenn diese Leute doch das Gefühl gehabt hätten, sie hätten mit Häftlingen machen können, was sie wollten, warum dann dieses Theater? Dann konnten sie doch sagen: »Jawohl, wir haben den erschossen, weil ich das für richtig halte. Mir ist nichts von einem Befehl bekannt, daß das Leben eines Häftlings geschützt ist.« Sie haben sich doch wie die Gangster betragen, von der Lagerführung ab bis zu dem untersten Mann.

Vorsitzender Richter:

Herr Naumann, bitte schön.

Verteidiger Naumann:

Herr Doktor Morgen, ich möchte noch mal auf die erfundenen Krankheitsbezeichnungen zurückkommen. Sie sagten vorher, diese Registrierung der nicht eines natürlichen Todes gestorbenen Häftlinge und die Weitergabe der Bezeichnungen nach oben sei eine Täuschung oder, was militärisch sicher noch schwerer wiegt, eine falsche dienstliche Meldung gewesen. Nun gab es in Auschwitz, so

weit ich unterrichtet bin, ein Standesamt, in dem entsprechende Totenscheine ausgeschrieben wurden mit diesen falschen Bezeichnungen. Soweit ich unterrichtet bin, starben auch in anderen, nicht in KZs, sondern in den Gestapo-Kellern, etwa Prinz- Albrecht-Palais in Berlin, Gefangene, über die auch, soweit ich unterrichtet bin, falsche Bezeichnungen in Totenscheine eingetragen worden sind. Ich kann mir also nicht denken, daß die untersten Instanzen dort in Auschwitz diese falschen Krankheitsbezeichnungen ohne eine Weisung von oben, ohne irgendeinen Befehl – mag es nun ein Befehl der SS-Führung, mag es ein Befehl der Gestapo- Führung gewesen sein – so ausgeführt haben.

Zeuge Konrad Morgen:

Sie haben vollkommen recht, Herr Verteidiger. Ich habe gerade diese falschen Todesberichte zum Anlaß einer eingehenden Besprechung mit dem Reichsarzt SS, dem Professor Doktor von Grawitz, gemacht. Sie werden sich erinnern, daß Müller ganz empört tat und sagte: »Wenn ich mich noch nicht mal auf das Gutachten und den Bericht eines Arztes verlassen kann, wem soll ich denn da überhaupt noch trauen?« Und auf der anderen Seite sagte mir Grawitz: »Es ist zwar vorgekommen, daß da eine Epidemie ausbrach oder sonst ein Massensterben, und nun steht dann da stereotyp darunter, kam dann diese Meldung: gestorben an Fleckfieber oder Kreislaufschwäche.« Und er sagte: »Er machte mich ja direkt damit unmöglich«, sagt er also: »Warum verhindern Sie so etwas nicht?« Und da habe ich den Lagerärzten gesagt: »Meine Herren, also wenn so was eintritt, dann doch bitte ein bißchen Phantasie, nicht, da brauchen Sie nicht alle an derselben Krankheit sterben zu lassen.« Aber er meinte, daß auch damit, was ja oft vorkam oder fast, möchte ich sagen, die Regel war, daß der KL-Arzt den einzelnen Toten gar nicht mehr anschaute, sondern, daß das der Häftlingsschreiber machte und die nun stereotyp da gerade etwas hinschrieben, was ihnen einfiel. Und dann manchmal, dann stimmte das gar nicht. Wenn es hieß also: »Blinddarmdurchbruch«, und es wurde den Angehörigen mitgeteilt. Sagten die: »Der hat ja schon vor Jahren den Blinddarm herausoperiert bekommen.« Er wollte das also damit auch rügen, daß der Arzt sich selber darum kümmern sollte. Aber wenn er schon das nicht machte, dann doch also mit mehr Phantasie.

Verteidiger Naumann:

Na ja, Herr Doktor Morgen, aber gerade weil die Angehörigen doch bei bestimmten Gruppen von Häftlingen zumindest eine Nachricht darüber bekamen, liegt es eigentlich nahe, daß da irgendeine Weisung von oben [+ kam.] Denn von oben hatte man doch ein Interesse daran, auf die Angehörigen irgendwie einzuwirken, irgendwie beruhigend vielleicht einzuwirken. Man wollte nicht schreiben, der Mann

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Ich sagte Ihnen ja, es hat bei einer

Verteidiger Naumann [unterbricht]:

Ist durch eine Injektion getötet worden, sondern man wollte eben schreiben: Er ist an diesem oder jenem eingegangen. Das müßte doch eigentlich auf der Linie liegen, einen Befehl erteilt zu haben.

Zeuge Konrad Morgen:

Das sagte ich Ihnen ja. Diese Anweisungen – wenn man das so nennen will – hat der Reichsarzt SS den KL-Ärzten gegeben.

Vorsitzender Richter:

Ja, Herr Doktor Morgen, ich habe Sie nun so verstanden: Es sollten nicht zum Beispiel dauernd diese Infektionskrankheiten als Todesursache angegeben werden. Aber der Rechtsanwalt Naumann hat meines Erachtens etwas anderes gemeint. Er hat gemeint, ob auch von oben herunter Anweisungen gegeben worden seien, daß zum Beispiel gewaltsame Tötungen nicht als solche erscheinen sollten, sondern eben als natürliche Todesereignisse. Verstehen Sie, was ich meine? Also, man hat doch zum Beispiel durch diese Phenolspritzen unendlich viele Leute getötet.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Sollte das – so ging die Frage des Herrn Rechtsanwalts Naumann – dadurch verhindert werden, daß man gesagt hat: Die wahre Todesursache muß nicht immer genannt werden, sondern ein bißchen mehr Phantasie. Sollte sich darauf dieser Befehl beziehen? Oder sollte sich der Befehl lediglich darauf beziehen, daß zum Beispiel die verheerenden Seuchensterblichkeiten nicht bekannt wurden unter der Zivilbevölkerung?

Verstehen Sie den Unterschied? Im einen Falle wäre etwas gedeckt worden, was zwar auch nicht ganz in Ordnung war, was aber immerhin nicht verhindert werden konnte, vielleicht. Im anderen Fall wären ausgesprochene Verbrechen damit gedeckt worden dadurch, daß man falsche Todesanzeigen schickte. Und das mit den falschen Todesanzeigen, das ist ja schon auch anderwärts bekanntgeworden, auch bei diesen Euthanasieprozessen, die früher geführt worden sind, daß man den Leuten da irgendwelche Todesgründe mitgeteilt hat, die nicht gestimmt haben. Also, die Frage ging meines Erachtens klar dahin: Sollten auch die in Auschwitz begangenen Verbrechen durch Mitteilung falscher Todesursachen verdeckt und verheimlicht werden? Können Sie darauf eine Antwort geben?

Zeuge Konrad Morgen:

Soweit es sich hier um befohlene Tötungen handelt, in verdeckter Weise, da lag es ja nun in der Linie des heimlichen Vorgehens, daß auch nicht die wahre Todesursache angegeben werden konnte. Denn wenn man das nachträglich angeben wollte, dann brauchte man es ja vorher nicht zu tun oder es nicht so heimlich zu tun.

Vorsitzender Richter:

Also das verstehe ich. Aber ich glaube, der Herr Rechtsanwalt Naumann hat gefragt, ob das von oben herunter befohlen worden sei. Er will doch darauf hinaus, daß diese unrechtmäßigen Tötungen gar nicht von den unteren Stellen von sich aus begangen worden seien, sondern daß sie von oben herunter befohlen worden seien. Beweis dafür: Man hat auch behauptet oder verlangt, daß hier falsche Todesursachen angegeben wurden. Ich nehme an, daß das die Beweisführung des Herrn Rechtsanwalts Naumann sein soll, und deshalb fragt er Sie genau: Hat der Herr – ich weiß nicht jetzt, wie dieser Oberarzt geheißen hat –, hat dieser Arzt verlangt, es sollten falsche Todesursachen angegeben werden, um damit die in dem Lager begangenen Verbrechen zu verdecken und nach außen hin abzuschirmen?

Zeuge Konrad Morgen:

Soweit es sich um die »Aktion 14f13« handelt, trifft dies zu. Da durfte nicht die wahre Todesursache genannt werden. Wobei also nun der Umfang und inwieweit nach den damaligen Befehlen und Vorschriften die Euthanasie in Anführungsstrichen gedeckt war, dahinsteht.

Vorsitzender Richter:

Also soweit es sich um »14f13« handelte. Und soweit es sich zum Beispiel um die Toten handelte, die der Herr Grabner nicht erschießen lassen konnte, sondern durch Phenolinjektion umbringen ließ, wie war es denn da?

Zeuge Konrad Morgen:

Sowenig wie für die Tötungen konnte er sich für die Fälschung der Todesursache auf einen Befehl berufen.

Vorsitzender Richter:

Gut.

Verteidiger Naumann:

Ja, dann möchte ich aber doch noch eine Frage anschließen. Es ist Ihnen doch sicher bekannt, daß auch außerhalb der KZs unnatürliche Todesfälle vorkamen. Und es ist Ihnen sicher weiter bekannt, daß auf den Totenscheinen, die die Angehörigen damals bekamen, auch in allen diesen Fällen irgendeine Krankheit draufstand. Das liegt doch sicher nicht im Rahmen dieser »14f13«, sondern weit außerhalb dieses Rahmens. Können Sie eine Erklärung dazu geben, ob dieses Vorgehen der maßgebenden Beamten von oben her gedeckt oder befohlen worden ist?

Zeuge Konrad Morgen:

Also mir sind keine solchen Fälle außerhalb der Konzentrationslager an unnatürlichen Todesursachen bekannt, wo also solche falsche Todesursachen bescheinigt worden sind. Ich hatte in diesen zivilen Sektor keinen Einblick.

Vorsitzender Richter:

Also ist dem Zeugen nicht bekannt. Herr Rechtsanwalt Heymann.

Verteidiger Heymann:

Herr Zeuge, wir haben vorhin gehört, daß der heute hier sitzende Angeklagte Hofmann der damalige SS-Führer war, der Sie bei Ihrer ersten Ankunft in Auschwitz zur Orientierung im Lager herumgeführt hat. Sie sagen zwar, Sie können sich an den Namen heute nicht mehr erinnern. Es ist ja nun kein fremder Mensch, der irgendwie verschollen ist, sondern er sitzt hier vor Ihnen. Können Sie sich auch dann nicht erinnern, wenn Sie ihn mal gut anschauen? Darf ich Sie bitten, Herr Hofmann? Er ist ja nicht zu übersehen, äußerlich.

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. [...] Verteidiger Heymann:

Können Sie sich wenigstens daran erinnern, wenn Sie sich auch nicht an den Namen erinnern, daß Ihnen der damalige SS-Führer, der Sie herumgeführt hat, rückhaltlos über alle Fragen Aufschluß gegeben hat?

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl, das

Verteidiger Heymann [unterbricht]:

Daß er Ihnen rückhaltlos alle Einrichtungen gezeigt hat, die Sie sehen wollten? Daß er Ihnen auch Bunker 11 und sogar die Stehbunker gezeigt hat.

Vorsitzender Richter:

Das hat der Zeuge alles schon gesagt, Herr Rechtsanwalt, er hat uns sogar noch dazu gesagt

Verteidiger Heymann [unterbricht]:

Rückhaltlos, das wollte ich wissen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Daß der Angeklagte Hofmann sogar ihm gesagt hätte, auf welche Art und Weise man eine Selektion sehr schnell beenden könne. Indem man nämlich den Leuten angeboten habe, mit dem Lastwagen gefahren zu werden, damit sie nicht zu laufen brauchten, worauf sich alles auf die Lastwagen gestürzt habe, um auf diese Art und Weise besser befördert zu werden. Das hat uns der Zeuge alles erzählt.

Verteidiger Heymann:

Jawohl. Gut, ja, danke. Herr Zeuge, können Sie sich noch daran erinnern, daß in dem vielfach zitierten Grabner-Prozeß, 1944 war das, der heutige Angeklagte Hofmann, damals SS-Obersturmführer oder -Hauptsturmführer in Neckarelz bereits, als Hauptbelastungszeuge gegen Grabner in Weimar aufgetreten ist?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Verteidiger Heymann:

Es soll sich eine längere Diskussion während des Verfahrens abgespielt haben zwischen Ihnen und dem Angeklagten Hofmann, dem damaligen Belastungszeugen Hofmann. Ist Ihnen das erinnerlich?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, das ist mir aus meiner Erinnerung.

Verteidiger Heymann:

Darf Ihnen der Herr Hofmann eine kleine Stütze geben vielleicht?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, bitte.

Verteidiger Heymann:

Wo fand das Verfahren statt?

Angeklagter Hofmann:

Herr Doktor Morgen, das Verfahren fand in Weimar statt, und zwar in den ersten Septembertagen des Jahres 1944. Wenn ich das erwähnen darf, die Verhandlung war in einem Raum angesetzt, ich kann jetzt nicht mehr sagen, wo. Kurz vor Beginn oder auch gleich zu Anfang dieser Verhandlung war Fliegeralarm angesagt. Die Verhandlung wurde unterbrochen, und die ganzen Richter, Angeklagten, Zeugen und alles, wir haben uns dann begeben müssen oberhalb des Goethe-Hauses. Das weiß ich aus diesem Grund noch genau, weil ich vorher, 30/31, in Weimar tätig war. Daher kannte ich Weimar. Gut, oberhalb des Goethe-Hauses warteten wir. Es kamen ein Polizeitransportwagen, alle mußten Platz nehmen, und ein Kübelwagen. In dem Kübelwagen saß der damalige SS-Obergruppenführer General Prinz von Waldeck. Wir fuhren außerhalb von München in so ein kleines Schlößchen. [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Außerhalb Weimar wohl.

Angeklagter Hofmann:

Weimar. Da war so ein kleines Schlößchen, und da wurde die Verhandlung dann weiter fortgesetzt. Den Namen kann ich natürlich nicht sagen von dem Schloß. Das war so ein kleines [unverständlich] Dings. Und

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Waren Sie da dabei, Herr Doktor Morgen?

Angeklagter Hofmann:

Herr Doktor Morgen war damals also Staatsanwalt, Vertreter der Anklage. Ich kannte Sie ja daher, weil ich Sie ja in Auschwitz kennengelernt habe, weil ich Sie ja in Auschwitz den ganzen Tag herumführen mußte. Und daher kannte ich Sie auch in Weimar, und Sie fungierten als Staatsanwalt. Anders weiß ich das nicht.

Zeuge Konrad Morgen:

Und was soll ich Sie damals gefragt haben oder beziehungsweise was haben Sie

Angeklagter Hofmann [unterbricht]:

Da handelte es sich um die Anklage gegen Grabner wegen Mordes. Und meine Aussage ging dahin, daß Grabner – ich habe nicht nur Grabner, sondern auch noch den damaligen Schutzhaftlagerführer Aumeier, der wird Ihnen auch bekannt sein, beschuldigt –, daß diese beiden tatsächlich im Bunker, bei der »Bunkerentleerung«, von sich aus Erschießungen durchgeführt haben. Aufgrund meiner Aussage kam es natürlich zu einem großen Wortwechsel zwischen Verteidiger und Zeugen, also meiner Person, worauf Sie sich dann als anklagender Staatsanwalt eingeschaltet haben. Ich weiß nicht, wie das noch gelaufen ist, waren noch verschiedene Zeugen da. Von den Führern, wenn ich noch nennen darf: Schwarz ist Ihnen bekannt, Standortarzt Wirths wird Ihnen auch bekannt sein und ich, wir waren drei Führer und etliche Unterführer. Die Verhandlung wurde vertagt. Und ich habe dann natürlich [unverständlich] 44, habe ich nichts mehr davon gehört. Ob die Verhandlung, ob der Prozeß zu einem Ende gekommen ist oder nicht, ob es ein Urteil gegeben hat, das weiß ich nicht mehr. Also erfahren habe ich nichts mehr davon.

Zeuge Konrad Morgen:

Also der Angeklagte, der bringt derartige Einzelheiten, die er nicht kennen könnte, wenn er nicht dabeigewesen wäre. Und was er da schilderte, so ist das damals gewesen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Also es kann sein, daß er damals noch angegriffen worden ist von der Verteidigung wegen seiner Aussage.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Daran können Sie sich aber im einzelnen nicht mehr erinnern.

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Nein, leider nicht.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Göllner war jetzt zunächst dran, ja?

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, erinnern Sie sich mit Sicherheit, daß Sie den Namen Klehr schon bei Ihrem Aufenthalt in Auschwitz erfahren haben?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Verteidiger Göllner:

Oder haben Sie ihn erst aus der Zeitung jetzt erfahren?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, schon damals.

Verteidiger Göllner:

Haben Sie ein Verfahren auch gegen Klehr eingeleitet?

Zeuge Konrad Morgen:

Ermittelt habe ich sicherlich.

Verteidiger Göllner:

Haben Sie Ärzte vernommen in Auschwitz?

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Möglich.

Verteidiger Göllner:

Haben Sie den Standortarzt kennengelernt bei diesem Rundgang durch das Lager? Oder andere Lagerärzte, mit denen Sie über die Fälle gesprochen haben oder über das Euthanasieprogramm?

Zeuge Konrad Morgen:

Also, an die Einzelheiten kann ich mich nach der Zeit nicht mehr erinnern.

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, können Sie aus Ihrer Erfahrung als Anklagevertreter oder als Richter in den damaligen SS- und Polizeigerichten dem Schwurgericht von Vorgängen berichten, die sich auf Befehlsverweigerung bezogen?

Zeuge Konrad Morgen:

Der Wahlspruch der SS hieß ja »Meine Ehre heißt Treue«. Und derjenige, der Befehlen nicht nachgekommen ist, sie verweigerte, der hatte mit keiner Milde zu rechnen. Und insofern, weil im allgemeinen von der SS-Gerichtsbarkeit harte Urteile gefällt worden sind, wurde der Truppe auch immer wieder mit dem SS-Gericht gedroht. Und das hatte schon eine moralische Wirkung.

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, es haben sicherlich nicht alle SS-Richter eine solche Auffassung an den Tag gelegt wie Sie, in diesen Jahren. Es waren doch, nach Ihrer Erfahrung, Richter in dieser Gerichtsbarkeit, die die schärfsten Methoden anwandten. Berichten Sie über diese Erfahrungen, die Sie gemacht haben.

Zeuge Konrad Morgen:

Zum Richten gehört eine große menschliche Reife und Erfahrung, und die ist natürlich in einer Gerichtsbarkeit, die aus dem Boden gestampft wird, nicht da. Und man macht die Erfahrung, daß Anwälte – und es waren vorzugsweise Anwälte, die später Richter wurden dort – die Aggressivität und diese Schärfe, die sie bei der Ausübung ihres Berufes sich angeeignet haben oder natürlich mitbringen, nachher auch als Richter ausüben. Und dann kommt hinzu, daß es auch sogenannte Wirtschaftsjuristen gewesen sind, die vom Strafrecht wenig Ahnung hatten und auch wenig Truppenerfahrung. Und das alles, das führte dazu, daß zum Teil das doch etwas sehr überspitzt gehandhabt worden ist.

Verteidiger Göllner:

Ich habe noch eine letzte allgemeine Frage, Herr Zeuge: weshalb Sie gegen den damaligen Lagerkommandanten Höß in Ihrer Eigenschaft als Ermittlungsrichter oder Ankläger nicht eingreifen konnten. Der britische Schriftsteller Reitlinger, der Sie ja ungefähr 15mal in seinem Werk »Die Endlösung« zitiert, berichtet, daß Sie in Nürnberg erklärt hätten als Zeuge im SS-Prozeß, daß der Lagerkommandant Höß im Rahmen des Femeprozesses gegen den Lehrer [Kadow] zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, und zwar zusammen mit dem noch verschwundenen Reichsleiter Bormann, und daß Bormann wünschte, daß Höß wie ein rohes Ei behandelt werden sollte. Das sind Ihre Aussagen im Nürnberger Prozeß, ist das richtig?[12]

Zeuge Konrad Morgen:

Jawohl, das ist richtig. Bormann und Höß, die saßen eine Zeitlang im Zuchthaus Rendsburg, soweit es mir erinnerlich ist, und waren seit dieser Zeit gute Freunde. Und es mag dem zuzuschreiben sein, daß gerade Höß mit dieser Aufgabe betraut worden ist. Im übrigen darf ich Ihnen sagen, Herr Verteidiger, diese Ermittlungen, die ich da schildere, die ich geführt habe gegen Höß, die habe ich ja nicht in meinem Privatnotizbuch festgehalten, sondern ich habe sie sämtlichen hohen SS-Stellen mitgeteilt und die Anklageerhebung angeregt. Aber da Höß zum Wirtschafts-Verwaltungshauptamt gehörte und Pohl sein Gerichtsherr gewesen ist, konnte nur Pohl die Anklage verfügen. Und solange ich im Amt gewesen bin, hat er das nicht getan.

Vorsitzender Richter:

Ja. Herr Doktor Morgen, Sie haben vorhin auf eine Frage des Verteidigers gesagt: »Bei der SS hieß der Grundsatz: Die Treue ist das Mark der Ehre« oder so irgend etwas Ähnliches. »Wer einem Befehl nicht nachgekommen ist, hatte auf keine Milde zu rechnen.« Galt bei den SS-Gerichten auch der § 46 des Militärstrafgesetzbuches? Oder 47?

Zeuge Konrad Morgen:

47.

Vorsitzender Richter:

47, ja.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, aber ich darf vielleicht dazu sagen...

Vorsitzender Richter:

Ich darf zunächst erklären, was ich damit fragen will – für die, die nicht hier eingeweiht sind. In § 47 Militärstrafgesetzbuch steht drin, daß jemand einen Befehl, durch den ein Verbrechen befohlen worden ist, nicht durchführen darf.[13] Bitte schön.

Zeuge Konrad Morgen:

Es fragt sich natürlich, was das Militärstrafgesetzbuch unter einem Verbrechen versteht. Die Verbrechen sind im Militärstrafgesetzbuch innumerativ aufgeführt, soweit nicht auf die allgemeinen Strafvorschriften verwiesen worden ist. Und ein Gesetz ist so auszulegen, wie es seinem Sinn entspricht. Es gibt keine Vorschrift des Militärstrafrechtes, die das Militärstrafrecht selbst aus der Angel heben würde. Und das wäre der § 47, wenn man ihn auf Maßnahmen der Kriegsführung und politische Maßnahmen ausdehnen wollte der Staatsführung.

Der Krieg ist eine politische Entscheidung, und es steht dem Soldaten nicht zu, daran Kritik zu üben oder Befehle, die in Ausführung dieser Politik gegeben worden sind, zu verweigern. Ich kenne den gegenteiligen heutigen Standpunkt, aber er ist meines Erachtens nicht konsequent. Denn dann müßten Sie auch logischerweise jeden Soldaten, der an dem Überfall auf Rußland teilgenommen hat, wegen Mordes vor Gericht stellen. Denn mit Rußland bestand ein Nichtangriffspakt, und der ist im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden. Und wir haben angegriffen, und die ersten Soldaten, die haben die ahnungslosen Russen in ihren Kasernen und die Bevölkerung in den Städten zusammenbombardiert, zusammengeschossen wie die Hasen. Bezeichnen Sie das als ein Verbrechen in dieser Definition, wäre es ein Mord. Aber es ist ja nun, weil eben die Erklärung des Krieges, auch des moralisch ungerechtfertigten Krieges, dem entzogen ist, dem Soldaten, der Beurteilung. Sondern sein Metier ist ja das Töten, dazu ist er ja gedrillt worden und dazu, Befehle auszuführen, ohne danach zu fragen. Wenn ein Befehl von der entsprechenden vorgesetzten Dienststelle kommt, und er ist ersichtlich in Dienstsachen oder in Kriegssachen gegeben, dann hat er ihn auszuführen, widerspruchslos. Und so [haben] damals auch die Gerichte geurteilt.

Vorsitzender Richter:

Ja. Nun, Herr Doktor Morgen, darüber ließe sich diskutieren, über das, was Sie eben gesagt haben. Aber nicht diskutieren läßt sich doch wohl über die Frage, ob ein Soldat einen Befehl ausführen darf oder eventuell muß, unschuldige kleine Kinder ins brennende Feuer zu werfen. Ich glaube, daß da kein Soldat auch nur im geringsten zweifeln konnte, daß dieser Befehl ein reines Verbrechen zum Gegenstand hatte, oder nicht?

Zeuge Konrad Morgen:

Da haben Sie vollkommen recht, Herr Direktor. Ich meine, ich habe das gelesen, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Und ich möchte auch hoffen, daß es das nicht gegeben hat, denn das widerspricht jedenfalls der ganzen Richtung.

Vorsitzender Richter:

Ich meine, ich habe das extreme Beispiel gewählt, Herr Doktor Morgen, um das, was Sie gesagt haben, richtigzustellen. Es mag sein, daß der Soldat bei der Kriegsführung im einzelnen nicht nachprüfen konnte und durfte, wer wann welchen Krieg angefangen hat. Das mag dahingestellt bleiben. Aber wenn man sich darauf beruft, bei der SS-Gerichtsbarkeit konnte einer auf Milde nicht rechnen, der einen Befehl verweigert hat, da frage ich Sie: Kam es da nicht auf die Art des Befehles an?

Zeuge Konrad Morgen:

Ganz richtig. Sie haben ja auch vorhin von einem Verteidiger das Urteil Täubner zitiert bekommen. Ein Obersturmführer, der auch bei solchen Aktionen sich Grausamkeiten schuldig gemacht hat und der zu, ich weiß nicht, acht oder zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, aus der SS ausgestoßen, für wehrunwürdig erklärt worden ist. Da steht ja in dem Urteil drin, die Art, wie er das gemacht hat, das ist eines Deutschen nicht würdig. Und es sind nie von seiten der SS – trotz allem, was man ihr nachsagt, trotz allem, was begangen worden ist – sadistische Grausamkeiten gefördert oder gar verlangt worden, im Gegenteil.

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Fertig.

Verteidiger Fertig:

Herr Doktor Morgen, nach der Schilderung Ihres Gesprächs mit dem Obergruppenführer Müller in Berlin damals haben Sie diesem Obergruppenführer Müller gesagt, daß das Recht zur Entscheidung über Leben und Tod von Hitler doch wohl ihm delegiert worden sei. Ich frage Sie: Wußten Sie damals von dieser Delegation oder haben Sie das dem Obergruppenführer Müller nur gesagt, weil Sie damals nach diesem ersten Rausschmiß vielleicht wieder mit ihm ins Gespräch kommen wollten?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein, ich hatte ja bei meiner Prüfung der Fälle und der Abgrenzung zwischen den angeordneten Exekutionen und den privat verübten Morden in einer ganzen Reihe von Akten die Exekutionsanweisungen gesehen, und die kamen per Fernschreiber oder per Kurierpost, von dem damaligen SS-Gruppenführer Müller unterzeichnet.

Verteidiger Fertig:

Bitte? Ich habe das letzte nicht verstanden.

Zeuge Konrad Morgen:

Diese legalen Exekutionsanordnungen waren von SS-Gruppenführer Müller unterzeichnet. Und da er dies nun offiziell angeordnet hat, konnte es sich hier also nur um eine Delegation der Befugnisse Hitlers auf Müller handeln. Und das habe ich ihn gefragt und bestätigt bekommen. [...]

Verteidiger Fertig:

Ist es möglich, daß der Obergruppenführer Müller oder vielleicht auch Hitler oder Himmler dieses Recht weiter delegiert haben? Also zunächst denke ich an das [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Darüber hat der Zeuge gesprochen, Herr Rechtsanwalt. Der Zeuge hat den Obergruppenführer gefragt, worauf der ihm zur Antwort gegeben hat, nein, er hätte es nicht weiter delegiert.

Verteidiger Fertig:

Herr Vorsitzender, ich glaube, ich habe das etwas anders verstanden. Sie haben damals diese Frage gestellt. Diese Frage wurde von Herrn Kollegen Doktor Laternser beanstandet. Daraufhin haben Sie festgestellt, daß also Obergruppenführer Müller dieses Recht nicht weiter delegiert hat. Die Frage ist also nicht beantwortet. Nicht von dem Zeugen.

Zeuge Konrad Morgen:

Nein. Der Verteidiger hat das überhört, glaube ich.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Konrad Morgen:

Denn mir kam es doch darauf an, nachdem ich mir schon den Unwillen zugezogen hatte, mich irgendwie dem Verständnis Müllers zu nähern. Und Müller, das hatte ich erkannt, war ein Autokrat und auf seine Machtfülle stolz und eifersüchtig darauf bedacht, diese zu wahren. Und deshalb hatte ich mich vergewissert durch die Frage: Hat er das Recht weiter delegiert? Das hat er abgelehnt. Er hätte also gefragt werden müssen, das hat er bejaht. Grabner durfte nicht selbständig handeln. Er hat mir nicht gesagt: »Ich habe dem Grabner Blankovollmacht gegeben« oder »die Konzentrationslagerkommandanten haben das«. Nein, er hat sich empört dagegen, daß so was, ohne ihn zu fragen, hinter seinem Rücken, gemacht wurde. Er hat mir Beispiele genannt, wo er selber das Opfer geworden ist und dann nachher nach außen als wortbrüchig anstand, man ihm selber diese bösen Streiche gespielt hatte.

Vorsitzender Richter:

Ist die Frage beantwortet?

Verteidiger Fertig:

Ja. Herr Doktor Morgen, im Laufe Ihrer Vernehmung sagten Sie mal wörtlich: »Befehlsmäßig angeordnete Exekutionen brauchten ja nicht das Licht des Tages zu scheuen.« Habe ich Sie da richtig verstanden, daß nach der damaligen Rechtsauffassung dann diese befehlsmäßig angeordneten Exekutionen rechtmäßig waren und Sie als SS- und Polizeirichter also auch keine Veranlassung hatten einzuschreiten?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich meine natürlich nicht in der breiten Öffentlichkeit, denn Todesurteile sind in Deutschland nie öffentlich vollzogen worden, im Gegensatz zu Frankreich und England, sondern immer in Gefängnismauern. Aber daß man hier den offiziell förmlichen Weg gewählt hat und hatte da eine Hinrichtungsstätte und eine bestimmte Hinrichtungsart, und es wurden gewisse Formalitäten beobachtet, daß ein Arzt dabei ist, daß ein Protokoll geführt worden ist, daß die Identität festgestellt wurde, das sprach also dafür, daß es sich hier um eine legale Exekution handelt. Also zum Beispiel Vollstreckung des Urteils eines Kriegs- oder Standgerichtes, nachdem vom Gnadenrecht kein Gebrauch gemacht worden ist. Aber das schließt natürlich nicht aus, was ich im Augenblick nicht weiß, daß trotzdem auch private Willkür und Morde auf diese Weise ausgeübt worden sind.

Verteidiger Fertig:

Sie wollten aber grundsätzlich meine Frage bejahen?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja.

Verteidiger Fertig:

Eine weitere Frage, eine letzte Frage: Herr Doktor Morgen, Sie sagten, daß es die SS- und Polizeigerichte erst seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab. Vorher war die allgemeine Justiz zuständig. Bedeutet das, daß also die Handlungen der SS- Leute der Zuständigkeit der allgemeinen Justiz, und ich denke jetzt besonders, der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit entzogen waren?

Zeuge Konrad Morgen:

Wie? Wieso der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit entzogen? Im Gegenteil, die war zuständig bis Ausbruch des Krieges.

Vorsitzender Richter:

Ja, der Herr Verteidiger meint etwas anderes. Es ist eine Verordnung vom 17. Oktober 1939 im Reichsgesetzblatt abgedruckt worden, wonach die SS-Gerichtsbarkeit geschaffen worden ist. Und diese SS-Gerichtsbarkeit trat nun an die Stelle der sonst üblichen Gerichtsbarkeit, sei es eben der ordentlichen Gerichtsbarkeit oder sei es der Militärgerichtsbarkeit. Stimmt es?

Zeuge Konrad Morgen:

Ja. Ich sagte eingangs, daß die SS- und Polizeigerichtsbarkeit ja die Kriegsgerichtsbarkeit des vierten Wehrmachtsteiles geworden ist.

Vorsitzender Richter:

Eben.

Verteidiger Fertig:

Ist also diese Frage ebenfalls zu bejahen?

Vorsitzender Richter:

Was für eine Frage ist zu bejahen?

Verteidiger Fertig:

Daß diese Handlungen der Zuständigkeit also der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen waren. Daß sie eben der [unverständlich] Polizeigerichtsbarkeit

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Herr Rechtsanwalt, der Zeuge stört sich daran, daß Sie die SS-Gerichtsbarkeit nicht als ordentliche Gerichtsbarkeit hier erwähnt wissen wollen. Die SS unterstand seit dieser Verordnung der SS-Gerichtsbarkeit, nicht mehr der Staatsanwaltschaft, nicht mehr der Militärgerichtsbarkeit.

Verteidiger Fertig:

Danke schön, keine Fragen.

Vorsitzender Richter:

Ja. So.

Verteidiger Erhard:

[unverständlich] zwei kurze Fragen, Herr Direktor. Tut mir leid, daß es schon so spät ist. Habe ich Sie richtig verstanden

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Der Militärgerichtsbarkeit hat sie ja nie unterstanden, denn diese SS-Verbände, die es vorher gab – sagen wir mal die Leibstandarte oder die Wachmannschaften –, das war ja Polizei- oder Parteitruppe.

Vorsitzender Richter:

Die unterstanden früher der Staatsanwaltschaft und sind auch im Anfang sogar noch verfolgt worden von der Staatsanwaltschaft.

Verteidiger Erhard:

Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Doktor Morgen, daß, als sie im Oktober 1943 das Lager Birkenau zum ersten Mal gesehen haben, diese hier eingezeichnete Rampe noch nicht vorhanden war?

Vorsitzender Richter:

Ja. So hat es der Zeuge gesagt. [...]

Zeuge Konrad Morgen:

Ich habe nicht von Oktober gesprochen. Ich sagte, im Herbst 1943.

Verteidiger Erhard:

Ja, etwa Oktober. Sind Sie dessen ganz sicher?

Vorsitzender Richter:

Er sagt, sie war noch nicht fertiggestellt.

Verteidiger Erhard:

Ich habe deswegen Anlaß zu fragen, weil uns der Herr Zeuge Doktor Wolken sowohl am 24. wie am 27.2. – zum ersten Mal bei seiner Schilderung, beim zweiten auf ausdrückliche Befragung – gesagt hat, als er im August 1943 nach Birkenau kam, wohlgemerkt nicht ins Stammlager, da sei die neue Rampe bereits fertig und in Betrieb gewesen.

Zeuge Konrad Morgen:

[Pause] Ich habe keine gesehen.

Vorsitzender Richter:

Also Sie sagen jedenfalls, als Sie im Herbst 43 hinkamen, war die Rampe noch nicht fertiggestellt.

Zeuge Konrad Morgen:

Nein.

Verteidiger Erhard:

Danke. Noch eine weitere Frage: Sie haben uns, ich möchte sagen, einen Zustand

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Ich habe sie nicht gesehen [...] und hätte sie eigentlich sehen müssen. Aber ob sie wirklich nicht fertiggestellt war, weiß ich nicht.

Verteidiger Erhard:

Sie haben uns einen Zustand geschildert, den man als eine gewisse Disziplinlosigkeit wohl nur werten könnte. Können Sie irgend etwas darüber sagen, ob diese Art von Zustand, wie Sie ihn bei der Wachmannschaft angetroffen haben, schon längere Zeit bestanden haben mußte, eventuell auch schon im Jahr 42?

Zeuge Konrad Morgen:

Nein. Darüber kann ich nichts sagen.

Verteidiger Erhard:

Danke.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Laternser:

Ganz kurz, Herr Vorsitzender. Übrigens, Herr Zeuge, das in Ihrer Erörterung über den Befehl und die mögliche Verweigerung gebrauchte Beispiel des Herrn Vorsitzenden, daß Kinder ins Feuer geworfen worden sind, ist keine Anschuldigung in diesem Verfahren, und es ist auch keineswegs bis jetzt bewiesen worden. Ich habe daran keine Fragen.

Vorsitzender Richter:

Sonst noch eine Frage zu stellen? Ich glaube, Herr Rechtsanwalt Doktor Laternser, man hat hier zweifelsfrei erkannt, daß das ein Beispiel war, um bei dem Zeugen eine klare Aussage herbeizuführen, ob jeder Befehl, der nicht befolgt worden ist, zu einer strengen Bestrafung führte oder ob es Befehle gab, die auch bei dem SS-Gericht nicht als ausführbar und zumutbar bezeichnet worden wären. Und deshalb habe ich dieses extreme Beispiel genannt. Ich habe nicht gesagt, daß einer der Angeklagten hier Kinder ins Feuer geworfen hätte, und ich habe nicht behauptet, daß das bewiesen sei. Und ich weiß überhaupt nicht, was Ihre Erklärung sein soll. Sie haben keine Frage an den Zeugen. Ich glaubte, Sie hätten eine Frage an den Zeugen gehabt. Denn nur dann, wenn Sie Fragen an den Zeugen gehabt hätten, wären Sie berechtigt gewesen, das Wort zu ergreifen. Und nun bitte ich Sie

Verteidiger Laternser [unterbricht]:

Aber dann werten Sie bitte dann meine Erklärung als einen Protest gegen den Vorhalt, den Sie dem Zeugen gemacht haben.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Also. Herr Doktor Morgen.

Zeuge Konrad Morgen [unterbricht]:

Ich darf aber folgendes dazu fragen. Vielleicht meinte das der Verteidiger, ob ich in der Hinsicht Feststellungen getroffen habe, ob so etwas vorgekommen ist. Der Untersturmführer Wiebeck berichtete mir einmal von einer Untersuchung, die er in Auschwitz durchgeführt hat und wobei Leichen in Gruben und auf Stößen im Freien verbrannt worden sind. Es ist mir deshalb noch besonders in Erinnerung, weil der betreffende SS-Angehörige, der da nachts dabeistand und das Feuer unterhielt, ihn fragte, und zwar mit Angst in der Stimme, und sagte: »Wenn diese Aktion abgeschlossen ist, dann wandern wir wohl selber in die Grube als Mitwisser und Täter.« Aber er hätte mir bestimmt erzählt und eingegriffen an Ort und Stelle, wenn so etwas, wie Sie es da andeuten mit den Kindern, vorgekommen wäre.

Vorsitzender Richter:

Ja. In Ihrer Gegenwart wird es bestimmt nicht passiert sein, nehme ich an. So, Herr Zeuge. Nun hätten wir also noch über die beiden Fragen zu entscheiden, die der Herr Nebenkläger gestellt hat und gegen die der Herr Rechtsanwalt Laternser sich verwahrt hat. Nämlich das eine war die Frage, ob der Standortälteste bei dienstlichen Unkorrektheiten nach den Erfahrungen des Zeugen bei der Politischen Abteilung eingreifen konnte, und die zweite Frage, ob auch bei Lublin es zu Massentötungen gekommen sei und ob er ermittelt habe. Die zweite Frage hat nach meinem Dafürhalten der Zeuge bereits beantwortet, Herr Rechtsanwalt. Denn er hat uns ja erzählt von seinen Ermittlungen, die er in

Sprecher (nicht identifiziert) [unterbricht]:

[unverständlich] Vorhalt gemacht [unverständlich]

Vorsitzender Richter:

Ja, jedenfalls hat nach meinem Dafürhalten der Zeuge diese Frage schon beantwortet.

Verteidiger Gerhardt:

Hat er doch geschildert mit dem Herrn Kriminalrat Wirth. Der war doch in Lublin [unverständlich]

Vorsitzender Richter:

Eben. Mit dem Herrn Kriminalrat Wirth hat er das ja geschildert. Also, wir werden dann noch über die Zulässigkeit dieser beiden Fragen entscheiden. Das Gericht muß sich zu diesem Zweck zur Beratung zurückziehen.

Vorsitzender Richter:

Es wird folgender Beschluß verkündet: Die Frage des Vertreters der Nebenklage, ob der Standortälteste bei dienstlichen Unkorrektheiten der Politischen Abteilung nach den Erfahrungen des Zeugen eingreifen konnte, wird zugelassen. Die weitere Frage, ob der Zeuge auch in Lublin festgestellt habe, daß es dort zu Massentötungen gekommen sei, wird nicht zugelassen, da sie bereits beantwortet ist.[14]

So, und nun, Herr Doktor Morgen, bitte ich Sie, die Frage zu beantworten, ob nach Ihren Erfahrungen der Standortälteste befugt war einzugreifen, wenn er bei der Politischen Abteilung dienstliche Unkorrektheiten feststellen mußte.

Zeuge Konrad Morgen:

Die Frage läßt sich nicht eindeutig beantworten, sondern es kommt auf den einzelnen Fall an. Ich darf vielleicht Beispiele bilden. Angenommen, der Leiter der Politischen Abteilung wäre in der Öffentlichkeit wegen schlechten Anzuges oder auffälligen Benehmens aufgefallen, dann konnte der Standortälteste ihn selbstverständlich zur Rede stellen und ihn rügen. Zweite Möglichkeit: Der Standortälteste veranstaltet eine Luftschutzübung, zu der auch der Leiter der Politischen Abteilung befohlen ist. Dann kann er ihm Befehle geben, und die mangelhafte Ausführung dieser Befehle kann er ebenfalls rügen und bei seinem Disziplinarvorgesetzten melden. Aber in den internen staatspolizeilichen Dienstbetrieb konnte er sich nicht einschalten und da hineinregieren, denn das war nicht seine Zuständigkeit. Seine Zuständigkeit war die Verwaltung des Lagers, aber nicht der staatspolizeiliche Polizeidienst.

Vorsitzender Richter:

Ist die Frage beantwortet? Sonst sind Fragen? Herr Rechtsanwalt Fertig.

Verteidiger Fertig:

Herr Doktor Morgen, vorhin, als Sie zu dem Angeklagten Klehr Ihre Angaben machten, sagten Sie: »Ermittelt habe ich gegen ihn sicher.« Ich habe jetzt die Pause dazu benutzt und den Angeklagten Klehr gefragt, was er dazu zu sagen habe. Er sagte mir – er kann es vielleicht dann selbst noch mal wiederholen –, daß er nie von Ihnen vernommen worden sei, daß er Sie überhaupt nicht kenne. Wenn Sie gegen ihn ermittelt haben, dann müßte er Sie doch wenigstens kennen?

Vorsitzender Richter:

Wieso? [Pause] Sie wissen doch, Herr Rechtsanwalt, daß zum Beispiel ein Staatsanwalt gegen viele Leute ermittelt, die er nie zu Gesicht bekommt, sondern die Ermittlungen durch die Polizei vornehmen läßt. Und genauso könnte ich mir vorstellen, daß auch der Zeuge irgendeinen Stab von Leuten gehabt hat. Er hat ja von einem Kriminalkommissar sogar geredet, der dort war, der die Ermittlung durchgeführt hat. Ich weiß nicht. Aber er kann ja die Frage selbst beantworten.

Zeuge Konrad Morgen:

Ja, genau so ist das gewesen. Außerdem ist das ja Kriminaltaktik, daß man in den meisten Fällen nicht auf den Beschuldigten direkt zukommt, sondern erst mal die Frage auf Nebengleisen klärt. Und erst dann, wenn sich der Verdacht bestimmt verdichtet hat, macht man eine Vernehmung selbst mit dem Beschuldigten.

Vorsitzender Richter:

Noch eine Frage?

Verteidiger Fertig:

Dann ist die Frage beantwortet. Es ist also dann durchaus möglich, daß der Angeklagte Klehr von dieser Angelegenheit nie etwas erfahren hat.

Vorsitzender Richter:

Möglich. Was wollten Sie noch sagen?

Angeklagter Klehr:

Herr Vorsitzender, ich wollte noch was sagen. Wenn ich in dieser Sache nicht von Doktor Morgen vernommen worden bin, dann müßte ich ja dann schließlich von einem anderen Kommissar, von einer Person, vernommen worden sein. Ich bin in der Angelegenheit überhaupt nicht einmal vernommen worden.

Vorsitzender Richter:

Der Herr Doktor Morgen hat eben gesagt, es ist durchaus möglich, daß man zunächst bei den Ermittlungen einmal Zeugen hört und andere Umstände aufklärt, bis man zu dem eigentlichen Beschuldigten vordringt. Also wenn er ermittelt hat oder Ermittlungen hat durchführen lassen, ist durchaus möglich, daß Sie selbst davon damals gar nichts gehört haben. So hat es uns wenigstens der Zeuge gesagt.

Zeuge Konrad Morgen:

Dasselbe ist ja zum Beispiel der Fall hinsichtlich des Standartenführers Höß. Den habe ich auch nie vernommen, gar nicht vernehmen können, wegen des Dienstgradunterschiedes. Vielleicht hat der von meinen Ermittlungen über ihn und deren Ergebnis überhaupt nichts erfahren.

Angeklagter Klehr:

Eine zweite Frage. Schließlich war ja Doktor Morgen kein Häftling X, sondern der Doktor Morgen war ja dazumal eine Persönlichkeit als SS-Richter. Wenn ich mir hätte etwas zuschulden kommen lassen und er das ermittelt hätte, dann hätte er mir ja den Hals zudrehen können.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Angeklagter Klehr:

Ja, und warum ist da nichts unternommen worden [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ja. Also. Haben Sie noch etwas zu sagen, Herr [Doktor] Morgen?

Zeuge Konrad Morgen:

Ich sagte Ihnen ja, wie ausgedehnt diese Untersuchungen gewesen sind. Und gerade die Abgrenzung der Ereignisse in dem Krankenbau, ob Euthanasie oder willkürliche Tötungen, die war ja recht schwierig. Und diese Verfahren haben sich eben hingezogen.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie noch eine Frage zu stellen an den Zeugen?

Angeklagter Klehr:

Eine letzte Frage habe ich.

Vorsitzender Richter:

Ja, bitte.

Angeklagter Klehr:

Ich habe keine selbständige Handlung gemacht, und ich habe auch keine Handlung von Herrn Grabner durchgeführt, sondern ich hatte von meiner Dienststelle, das war der Standortarzt und der Lagerarzt, von dem habe ich die Befehle durchgeführt und von keinem anderen Vorgesetzten. Weiter habe ich nichts mehr zu sagen.

Vorsitzender Richter:

Gut. Werden sonst noch Fragen zu stellen sein oder Erklärungen abzugeben sein? Nein. Herr Doktor Morgen, können Sie das, was Sie uns gesagt haben, mit gutem Gewissen beschwören?

Zeuge Konrad Morgen:

[unverständlich]

Vorsitzender Richter:

Also der Zeuge sagt – wollen Sie das ins Protokoll nehmen –, daß er seiner gesamten Aussage ein »Soviel ich mich erinnere« vorausschicken wolle.[15]

Herr Zeuge, ich spreche Ihnen den Eid vor: Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben. Sprechen Sie mir bitte nach: Ich schwöre es.

Zeuge Konrad Morgen:

Ich schwöre es.

Vorsitzender Richter:

So wahr mir Gott helfe.

Zeuge Konrad Morgen:

So wahr mir Gott helfe.

Vorsitzender Richter:

Ich danke schön. Gegen die Entlassung des Zeugen ist wohl nichts einzuwenden. Dann wird der Zeuge auch entlassen. Ich danke schön. Herr Staatsanwalt. Bitte schön.

Verteidiger Ivens:

Herr Vorsitzender, bevor die Verhandlung geschlossen wird, bitte ich, mir Gelegenheit zu geben, noch einen Beweisantrag[16] zu stellen für den Angeklagten Doktor Lucas.

Vorsitzender Richter:

Ja. Einen kleinen Moment, Herr Rechtsanwalt Ivens, ich werde das tun. Zunächst Herr Staatsanwalt. Sie hatten heute vormittag eine Erklärung abgegeben, daß sie auf welche Zeugen verzichten wollen?

Sprecher (nicht identifiziert):

Auf alle

  1. Reichskriminalpolizeiamt, Amt V des Reichssicherheitshauptamtes.
  2. Karl Koch war von 1937 bis 1941 Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald.
  3. Höß war zu der Zeit SS-Obersturmbannführer.
  4. Der Zeuge Morgen war zu der Zeit SS-Hauptsturmführer.
  5. Vgl. richterliche Vernehmung vom 08.03.1962 in Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 63, Bl. 11.714-11.722.
  6. Vgl. richterliche Vernehmung vom 08.03.1962 in Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 63, Bl. 11.716.
  7. Vgl. richterliche Vernehmung vom 08.03.1962 in Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 63, Bl. 11.716.
  8. Verfahren gegen die Ärzte Gerhard Bohne und Hans Hefelmann vor dem Landgericht Limburg. Vgl. Hoffmann, Verfolgung, S. 68 f.
  9. Vgl. richterliche Vernehmung vom 08.03.1962 in Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 63, Bl. 11.721.
  10. Der Zeuge Morgen sagt fortlaufend »T3«.
  11. Vgl. 4 Ks 2/63, Sonderheft Morgen.
  12. Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939 – 1945. Berlin: Colloquium Verlag, 1956, S. 119. Vgl. die Aussage von Morgen im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, 7. und 8. August 1946, 197. und 198. Verhandlungstag, in: IMT, Bd. XX, S. 531-563.
  13. MStGB § 47: »(1) Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers: 1. wenn er den erteilten Befehl überschritten hat, oder 2. wenn ihm bekannt gewesen ist, dass der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte. (2) Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von seiner Bestrafung abgesehen werden.« Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Erläutert von Erich Schwinge. 6. Aufl., Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag, 1944, S. 100.
  14. Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung vom 09.03.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 96, Bl. 200.
  15. Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung vom 09.03.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 96, Bl. 201.
  16. Vgl. Beweisantrag der Rechtsanwälte Wilms und Ivens vom 07.03.1964, Anlage 1 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 09.03.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 96.
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