Zeuge Ernst Martin

149. Verhandlungstag 12.04.1965

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

149. Verhandlungstag, 12.4.1965

Vernehmung des Zeugen Ernst Martin

Vorsitzender Richter:

Das bezieht sich auch auf Ihre Personalien, also die Angaben über Ihre Person, die Sie uns jetzt machen werden.

Sind Sie damit einverstanden, Herr Martin, daß ich Ihre Aussage auf ein Tonband nehme zum Zweck der Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?

Zeuge Ernst Martin:

Bitte.

Vorsitzender Richter:

Herr Martin, Sie heißen mit Vornamen?

Zeuge Ernst Martin:

Ernst.

Vorsitzender Richter:

Sie sind von Beruf?

Zeuge Ernst Martin:

Jetzt pensionierter Gaswerksdirektor.

Vorsitzender Richter:

Sie sind wie alt?

Zeuge Ernst Martin:

68.

Vorsitzender Richter:

Sind Sie verheiratet?

Zeuge Ernst Martin:

Verheiratet.

Vorsitzender Richter:

Sie wohnen in?

Zeuge Ernst Martin:

In Innsbruck.

Vorsitzender Richter:

Und Sie sind mit den Angeklagten nicht verwandt und nicht verschwägert?

Zeuge Ernst Martin:

Nein. [...]

Vorsitzender Richter:

Der erlernte Beruf ist Ingenieur?

Zeuge Ernst Martin:

Ist Ingenieur und Chemiker.

Vorsitzender Richter:

Herr Zeuge, Sie sind hier benannt worden wegen eines Vorfalls, der sich in dem Konzentrationslager Mauthausen abgespielt haben soll. Waren Sie in Mauthausen?

Zeuge Ernst Martin:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Wann waren Sie in Mauthausen?

Zeuge Ernst Martin:

Ich war vom 1./2. September 41 bis zur Befreiung durch die Amerikaner [+ dort]. [...]

Vorsitzender Richter:

41 bis 1945.

Zeuge Ernst Martin:

Ja, am 10. Mai haben die Amerikaner das Lager geräumt.

Vorsitzender Richter:

Herr Martin, haben Sie in dieser Zeit den Standortarzt Doktor Krebsbach kennengelernt?

Zeuge Ernst Martin:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Wissen Sie, ob diesem Krebsbach Ärzte unterstanden haben, die sich geweigert haben, Häftlinge durch Spritzen umzubringen?

Zeuge Ernst Martin:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Wollen Sie uns das mal im einzelnen erzählen?

Zeuge Ernst Martin:

Der erste Arzt, der dafür in Frage kommt, war ein Obersturmführer Konrad, Doktor Konrad. An den Namen kann ich mich insofern genau erinnern, weil er selber Österreicher war. Er kam als Lagerarzt erst in das Lager Gusen. Das war das Nebenlager von Mauthausen, wo, eigentlich ziemlich versteckt in diesem Lager, schon damals alle möglichen mutwilligen Sezierungen vorgenommen worden sind – vielmehr Tötungen, dann Sezierungen –, weil der dortige Chefarzt, ein gewisser Doktor Vetter, damals Versuche für die IG Farben durchgeführt hat.

Doktor Vetter ist übrigens in Dachau bereits zum Tod verurteilt worden und ist dann gehängt worden.

Doktor Konrad war ungefähr drei Tage in Gusen und ließ sich dann beim SS-Standortarzt Doktor Krebsbach heroben melden und erklärte, er sei reiner Arzt, er mache diese Dinge nicht mit. Daraufhin kam seine Versetzung ins Hauptlager Mauthausen als Lagerarzt. Und es wurde neuerdings an ihn herangetreten, daß er – damals gab es noch keine Gaskammern – also mit Herzinjektionen arbeite.

Doktor Konrad hat das strikt abgelehnt. Es kam dann auch zu einem ziemlich lebhaften Auftritt mit Doktor Krebsbach. Und zwei Tage später ging dann Doktor Konrad an irgendeine Feldpostnummer an der Front ab. Dadurch, daß er wußte, daß ich Österreicher bin, hat er sich noch vor seinem Weggehen, selbstverständlich ohne Anwesenheit eines anderen SS-Mannes oder -Offiziers, vor mir empfohlen und hat mir alles Gute gewünscht, und ich habe ihm auch alles Gute gewünscht.

Es ist dann circa ein Jahr vergangen, daß mir seitens des Stabs-SDG – also die Häftlinge, die in dem Revier direkt gearbeitet haben, unterstanden einem alten Stabs-SDG, Sanitätsdienstgrad, und der sagte mir: »Sie können sich doch noch an Doktor Konrad erinnern?« Sage ich: »Ja.« Sagt er: »Der ist tot.« Bei irgendeinem Angriff der Russen auf den Hilfsplatz, wo er eingesetzt worden ist, ist er gestorben. Das ist der eine Fall.

Der zweite Fall war schon etwas später. Bitte, der kann Anfang 42, sagen wir, bis Ende 42 gewesen sein. Diese Zeit kann ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Da kam auch ein neuer Obersturmführer, hat sich gemeldet

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Krebsbach?

Zeuge Ernst Martin:

Bitte?

Vorsitzender Richter:

Wer kam?

Zeuge Ernst Martin:

Ein neuer SS-Obersturmführer als Lagerarzt zu Krebsbach. Und Krebsbach begrüßte ihn und sagt: »Na, Sie haben jetzt einmal zwei Tage frei, dann werde ich Sie schon mit dem ganzen Dienstbetrieb bekanntmachen.«

Am zweiten Tag, nachmittags – ich muß vorausschicken: Wenn Doktor Krebsbach in sein Zimmer ging, so kam er bei mir durch, durch das Vorzimmer. Und jetzt kommt Krebsbach so um halb zwei am Nachmittag her: Ist der Obersturmführer Sowieso da? Er war nicht hier gewesen. Sagt er: »Dann gehen Sie in die Offiziersunterkünfte und verständigen ihn. Er hat um zwei Uhr bei einer Exekution teilzunehmen.«

Ich bin in die Unterkunft [+ gegangen]. Nachdem man mir die Nummer von seinem Zimmer gesagt hatte, das er gehabt hat, bin ich hingegangen und habe ihm das gemeldet, daß Sturmbannführer Krebsbach seine Anwesenheit bei dieser Exekution verlangt. Er war bestimmt nicht begeistert gewesen. Aber er hat umgeschnallt und ist gegangen.

Und nachher habe ich folgendes erfahren: Bei den Exekutionen hat ja nie ein Häftling zusehen können. Die waren ziemlich weit außerhalb des Lagers und so verbaut, sagen wir, daß vom Lager selber nichts zu sehen war. Es hat sich um Erschießungen gehandelt, wobei der Arzt, der anwesende Arzt, bei der Exekution festgestellt hat, daß einer der zu Erschießenden noch gelebt hat.

Bei dieser Exekution war aber auch der Lagerkommandant Ziereis anwesend, dem er als Ranghöchstem gemeldet hat, daß einer dieser Leute noch lebt. Worauf ihm der Ziereis den Befehl gibt: »Ja, dann erschießen eben Sie ihn.« Worauf der Obersturmführer erklärt hat: »Ich denke gar nicht daran. Ich bin hier als Arzt, um den Tod festzustellen, aber mit einer Exekution direkt habe ich nichts zu tun.«

Nun spielte sich nachher – ich bitte, die Situation, ich habe sie ganz kurz jetzt eigentlich noch mir in Wien skizziert zum besseren Verständnis. [Pause] Eine normal große Baracke, hier Gang, Eingang von außen, hier Türe in das Zimmer, wo ich gesessen bin. Das war der Schreibtisch des Stabs-SDG, hier der Raum des Standortarztes. Diese Wand war von Tischhöhe an mit normalen Leitzordnern bis unter die Decke bestellt. Das war mein Schreibmaschinentisch, und das war mein Tisch gewesen, wo ich gearbeitet habe. Ich bin mit der Zeit darauf gekommen, daß ich, wenn ich zwei Ordner herausziehe, natürlich jedes Wort verstehe, was beim Standortarzt gesprochen wurde.

Und es kam also sofort nach diesem Vorfall bei der Exekution der Lagerkommandant Ziereis mit Krebsbach und dem Obersturmführer in sein Standortarztbüro. Da gab es einen fürchterlichen Auftritt. Und die Folge davon war, der hat ihm natürlich gedroht mit allem möglichen. Ich weiß nicht, ob es bekannt ist, das SS-Straflager Stutthof- Matzkau war ja eines der gefürchtetsten Lager. Also man hat ihm mit dem gedroht. Er hat gesagt, das ist ihm ganz gleichgültig, er ist Arzt und sonst nichts. Wenn einem das nicht paßt, dann soll man ihn an die Front schicken. Der Mann war am nächsten Tag bereits verschwunden. An die Front.

Vorsitzender Richter:

An die Front?

Zeuge Ernst Martin:

An die Front. Wie ich dann auch wieder

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nicht in dieses Straflager?

Zeuge Ernst Martin:

Nicht. Ist nicht hingekommen.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Ernst Martin:

Gefährlich war natürlich eine Befehlsverweigerung, das muß ich auch sagen, für Unterführer.

Vorsitzender Richter:

Warum?

Zeuge Ernst Martin:

Weil Unterführern alle diese Verweigerungen fast jedesmal natürlich als Befehlsverweigerung ausgelegt wurden, natürlich mit Drohungen und teilweise auch, daß man die Leute nach Danzig-Matzkau geschickt hat.

Nun, man konnte, wenn sich einer nicht um diese Dinge gerissen hat, ja ohne weiteres auskommen. Denn ein jeder SDG, der Herzinjektionen gemacht hat oder machen mußte, hat vorher einen Kurs in Berlin mitgemacht. Und zwar war der Kurs im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt beim Chef, dem sogenannten, er hatte den Diensttitel gehabt Chef D III. Das war ein Oberstandartenführer Doktor Lolling. Dort sind diese Kurse, sie haben 14 Tage gedauert, abgehalten worden. Und jeder Mediziner wird mir recht geben, wenn ich sage: Wenn sich die Leute eben nicht dazu

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Geeignet haben.

Zeuge Ernst Martin:

Sagen wir, hergegeben haben, konnten sie doch ohne weiteres auskommen. Denn die Leute mußten bei ihnen die Injektionen lernen natürlich an Leichen. Er hat ja nur zweimal eine lange Herzinjektionsnadel – das sind ja die langen Nadeln – ihnen abbrechen müssen. Natürlich haben sie ihm gesagt, er ist ein Trottel und so weiter, haben ihm zum Teufel gejagt. Also es gab immer Möglichkeiten für die Leute. Nicht natürlich, wenn er direkt den Befehl bekommen hat. Dann war es gefährlich für ihn.

Vorsitzender Richter:

Und was geschah mit den Leuten, die dann nicht getan haben, was man von ihnen verlangt hat?

Zeuge Ernst Martin:

In dieser Zeit dürften ungefähr 80 bis 100 SDGs gewechselt haben. Und von diesen 80 bis 100 SDGs waren es nur sechs oder sieben, die sich dazu hergegeben haben. Die anderen haben von Haus aus schon beim Kurs versagt, mit allen möglichen anderen Ausreden. [+ Sie haben] selbstverständlich auf Beförderung verzichtet, erklärt: »Ich gehe lieber an die Front« und so weiter.

Zum Beispiel gerade dieser alte Stabs-SDG, alter Parteigenosse, war ursprünglich SA-Mann, ist damals bei der Auflösung der SA in die SS übernommen worden. Er war bereits im Ersten Weltkrieg Sanitäter gewesen. Höchster Titel, der Mannschaftstitel: Stabsscharführer. Der Mann hat nie im Leben sich dazu hergegeben, eine Exekution oder eine Herztötung [+ auszuführen] oder auch nur bei einer Vergasung dabeizusein. Nein, er hat gesagt: »Löst mich ab, schickt mich an die Front.«

Vorsitzender Richter:

Sie selbst waren auf der Schreibstube, wie Sie uns eben gesagt haben.

Zeuge Ernst Martin:

Ja. Als ich nach Mauthausen gekommen bin, stand ich damals beim Tor. Und da ging ein Hauptsturmführer an mir vorbei und frug: »Wer sind Sie, und wieso sind Sie hergekommen?« Und da habe ich ihm das erklärt. Ich war

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Warum sind Sie dorthin gekommen?

Zeuge Ernst Martin:

Ich war Stadtkommandant der Tiroler Heimatwehren von Innsbruck, also im Rang eines Oberstbrigadiers, weil ich praktisch eine Gebirgsbrigade – die Tiroler Heimatwehr war besonders stark – unter mir gehabt habe. Am 25. Juli 34, als Dollfuß erschossen worden ist, wurde gleichzeitig, um dieselbe Stunde, der Polizeikommandant von Innsbruck erschossen. Und ich muß sagen, die Innsbrucker Behörden haben damals momentan den Kopf verloren.

Ich habe die mir unterstellten Kompanien einfach aufgerufen – das Recht hatte ich von der Landesregierung –, um sie als Schutzpolizei einzusetzen. Und ich habe damals ungefähr 150 Nazis, und zwar die prominentesten, einfach einsperren lassen. Das ist im Laufe des Nachmittags gewesen, gegen Abend habe ich sie natürlich regelrecht Polizei, Gericht oder Gendarmerie übergeben. Bei dieser Verhaftungsaktion hat ein Nationalsozialist einen Posten angefallen, buchstäblich, auf der Stiege. Der Posten hat von der Waffe Gebrauch gemacht, und der hat unglückseligerweise einen Mundschuß bekommen mit Steckschuß im Kleinhirn, war tot.

Ich habe unterdessen, wie es auch nach dem alten, noch militärischen Reglement vorgeschrieben war, selbstverständlich Stadt und Polizei, Staatsanwaltschaft und so weiter davon verständigt. [+ Dann] kam die Untersuchung: Es ist einwandfrei der Waffengebrauch eines Posten erklärt worden. Das hat nicht nur die Staatsanwaltschaft in Innsbruck, sondern [+ auch das] Sicherheitsministerium erklärt. Damit war die Geschichte erledigt.

Statt daß die Nazis damals froh waren, daß ich sie sozusagen in Schutzhaft genommen habe – denn wir waren ja das einzige Land in Tirol, wo es dadurch zu keinen Kämpfen gekommen ist, weil die Prominenz sofort mit einem Ruck festgesetzt worden ist –, hat man mich sofort am 12. März 38 verhaftet, zuerst in Schutzhaft, und hat mir nach einem Monat die Klage zugestellt auf Mord und Anstiftung zum Mord – wegen diesem Mann.

Der erste Prozeß, Schwurgerichtsprozeß, den ich hatte, war im September 38. Da ist am sechsten Tag der Generalstaatsanwalt aufgestanden und hat erklärt, es langt zu einer Verurteilung nicht, sie werden weitersuchen. Vertagung.

Der Vertagungsprozeß fand dann statt, ganz neu wieder aufgerollt, im Juni 39. Da hat man natürlich mit allen möglichen gestellten falschen Zeugen angefangen und so weiter und hat mich zu zehn Jahren verurteilt. Meinen eigenen Anwalt durfte ich nicht haben, sondern dem hat man angedroht, man schickt ihn nach Dachau, wenn er mich verteidigt. So habe ich ex officio einen Verteidiger gehabt, übrigens einen blendenden Verteidiger, muß ich ehrlich sagen. Trotzdem ein begeisterter Nationalsozialist, er hat bestimmt jederzeit seine Pflicht getan. Hat mir zugeredet, ich soll das Urteil annehmen, denn sie wollen einfach meinen Kopf haben. Und ich war immer ziemlich stur und habe gesagt: Ich lasse mich nicht für etwas verurteilen, wo ich wirklich überhaupt nichts dazu getan habe, nicht das geringste. Nun, dann hat er endlich berufen an das Reichsgericht Leipzig. Und das Reichsgericht Leipzig hat das Urteil zur Gänze aufgehoben und keine neue Verhandlung ausgeschrieben. Das war im November 39.

Ich saß dann weiter im Gefangenenhaus, Einzelhaft, die ganze Zeit, bis im 41er Jahr im Mai der Reichsjustizminister sich das Innsbrucker Gefängnis angeschaut hat. Als Sehenswürdigkeit wollte man mich ihm natürlich vorführen. Da hat sich herausgestellt, er fragt mich: »Warum sind Sie hier?« Sage ich: »Tut mit sehr leid, das weiß ich nicht. Das Reichsgericht Leipzig hat mich freigesprochen. Mein Anwalt kann den Akt überhaupt nicht mehr finden. Ich weiß nicht, was ist. Ich sitze weiter in Haft.«

Er hat vor mir den Generalstaatsanwalt, der diese ganze Sache geführt hat, direkt angeschrieben. Er hat gesagt, er will Bescheid haben. Die Folge davon, daß ich dem das mitgeteilt habe, war, daß ich sofort acht Tage im Keller bei Wasser und Brot in Dunkelhaft gesessen bin. Bitte schön, habe ich auch auf mich genommen. Und dann kam im August der Entscheid des Justizministeriums: Das Urteil ist endgültig rechtskräftig vom Reichsgericht Leipzig, ich bin sofort auf freien Fuß zu setzen, die Kosten trägt der deutsche Staat.

Der Gefangenenhausdirektor hat mir das mitgeteilt, und wie ich vor die Tür komme, steht dort ein Wagen. Zwei Leute kommen herum und sagen: »Sind Sie Herr Martin?« Sage ich: »Ja.« »Steigen Sie ein!« »Was wollen Sie von mir?« »Das werden Sie schon sehen.« Sie bringen mich zur Gestapo, und da waren bereits, vom Heydrich persönlich unterschrieben, der Schutzhaftbefehl und die Einweisung nach Mauthausen, weil ich nach wie vor ein Feind des Dritten Reiches sein werde.

Und als ich nach Mauthausen gekommen bin, wie gesagt, ich stand beim Tor, ging ein Hauptsturmführer an mir vorbei und frug mich, dem ich eben diese Sache in kurzen Worten gesagt habe. »Na«, sagt er, »haben Sie mal Pech gehabt. Aber wer sind Sie denn?« Sage ich: »Gaswerksdirektor.« Sagt er: »Und was haben Sie für ein Studium?« Sage ich: »Maschinenbau und dann Universitätschemie.« Sagt er: »Verstehen Sie auch was von Medizin?« Sage ich: »Die zwei Semester Gerichtsmedizin, die für Chemiker vorgeschrieben waren, die habe ich.« Sagt er: »Ich kann Sie brauchen.«

Ich habe natürlich einen SS-Mann dann, als wir ins Bad herunter sind, gefragt: »Wer war der?« Der hat sofort gesagt: »Halt's Maul, sonst schmier' ich dir eine.« Also habe ich überhaupt nicht mehr daran gedacht. Und nach einem Monat bin ich dann zu dem Doktor [Krebsbach] bestellt worden.

Vorsitzender Richter:

Als Schreiber?

Zeuge Ernst Martin:

Zuerst hat er mich gefragt, er hätte ja etwas vergessen, und zwar, ob ich Maschinenschreiben und Stenographie kann. Bitte schön, das kann ich. Sagt er: »Dann bleiben Sie hier.«

Zur näheren Definition muß ich sagen: Es war doch vom Himmler persönlich ein strenger Befehl da. Es durften keine Ärzte und Pharmazeuten im ärztlichen Dienst in den Lagern verwendet werden. Das ist erst ab 43, als der große Ärztemangel eingetreten war, aufgehoben worden.

Auf diese Art und Weise konnten Sie natürlich »Gaswerksdirektor« schreiben, und die Geschichte war erledigt. Adjutant war ich im Ersten Weltkrieg auch, also militärischer Schriftverkehr war mir nichts Neues. Und damals war Mauthausen klein, da hat Mauthausen erst 3.000 Häftlinge gehabt und stieg aber dann auf 120.000, so daß meine Stelle dann natürlich langsam ein kleines Büro wurde.

Vorsitzender Richter:

Ja. Ist noch eine Frage an den Zeugen zu stellen? Von seiten der Staatsanwaltschaft? Bitte schön.

Staatsanwalt Kügler:

Herr Zeuge, schildern Sie doch bitte mal im einzelnen, wie und auf welchen Wegen Sie erfahren haben, daß die Sanitätsdienstgrade in Berlin einen solchen Kurs mitmachen mußten.

Zeuge Ernst Martin:

Herr Staatsanwalt, ich muß dazu sagen, wenn einer bei der SS, ein Häftling, vertrauenswürdig erschienen ist, wenn er seine Arbeit voll geleistet hat, und zwar die Arbeit höheren SS-Führern abgenommen hat, dann hat man ihm buchstäblich alles in die Hand gegeben. Also man ist sogar so weit gegangen, daß man von mir chiffrierte Fernschreiben dechiffrieren hat lassen. Und dadurch – das ist ja vielleicht heute leider Gottes mein Fluch, darum werde ich immer wieder als Zeuge vernommen – bin ich natürlich einer der wenigen, die, sagen wir mal, übriggeblieben sind, die von Anfang bis Ende bei diesen Standortärzten gesessen sind.

Staatsanwalt Kügler:

Haben Sie noch eine Erinnerung, wie und von wem Sie das erfahren haben, daß dieser Kurs in Berlin war, um das »Abspritzen« zu lernen?

Zeuge Ernst Martin:

Ich habe zum Beispiel die Marschdokumente erstellen müssen.

Staatsanwalt Kügler:

Nach Berlin?

Zeuge Ernst Martin:

Nach Berlin. Und selbstverständlich habe ich natürlich gefragt: »Grund der Reise?« »Kurs.« Und bei Gelegenheit habe ich eben diesen alten Stabs- SDG gefragt: »Ja, was machen denn die schon wieder zum Kurs?« Sagt er: »Ist schon wieder Herzinjektion.«

Staatsanwalt Kügler:

Herzinjektion, ja. Danke.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Ormond.

Nebenklagevertreter Ormond:

Keine Frage. Danke sehr.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Raabe?

Nebenklagevertreter Raabe:

Herr Zeuge, wie viele Ärzte waren durchschnittlich in Mauthausen, also wie viele SS-Ärzte waren in Mauthausen durchschnittlich beschäftigt?

Zeuge Ernst Martin:

Wie viele?

Nebenklagevertreter Raabe:

Ja, wie viele. Die Zahl, etwa. Bitte sprechen Sie ins Mikrofon, Herr Zeuge.

Zeuge Ernst Martin:

An der Spitze stand der SS-Standortarzt. Der Bereich des SS-Standortarzts umfaßte Mauthausen, Linz. Und später, als zu Mauthausen insgesamt 28 Nebenlager gehörten, war er für diese ganzen Lager der SS-Standortarzt gewesen. Die fingen an in den Karawanken und gingen auf der anderen Seite bis nach Ebensee.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ja. Können Sie sagen, wie viele

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

Und zum Standortarzt: Abgesehen von solchen Tötungen war er ja auch der Truppenarzt von der Truppe. Und es waren regelmäßig in Mauthausen allein zwei Lagerärzte.

Nebenklagevertreter Raabe:

Zwei Lagerärzte.

Zeuge Ernst Martin:

Meistens, oft nur einer. Und dann waren in den größeren Nebenlagern wie Ebensee und dann unten beim Bau des Karawanken-Tunnels und so weiter überall noch andere Ärzte.

Nebenklagevertreter Raabe:

Herr Zeuge, erinnern Sie sich an einen SS-Arzt Doktor Lucas in Mauthausen?

Zeuge Ernst Martin:

Ja, der war aber nicht in Mauthausen, sondern in Gusen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ach, der war in Gusen.

Zeuge Ernst Martin:

Der war in Gusen. Ich habe in nie selber gesehen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Bitte sprechen Sie ins Mikrofon.

Zeuge Ernst Martin:

Pardon. Ich habe ihn nie selber gesehen. Ich weiß nur dem Namen nach, daß er in Gusen war.

Nebenklagevertreter Raabe:

Können Sie sich noch daran erinnern, wie lang er dort war, von wann bis wann?

Zeuge Ernst Martin:

Das muß meiner Schätzung nach um die Zeit gewesen sein, als ich gerade ins Revier gekommen bin.

Nebenklagevertreter Raabe:

Und das war?

Zeuge Ernst Martin:

Also ungefähr Herbst 41, Frühjahr 42. Oder doch etwas

Nebenklagevertreter Raabe [unterbricht]:

Ich glaube, da müssen Sie sich irren, Herr Zeuge. Könnte es sein, daß es erst 44 gewesen ist?

Zeuge Ernst Martin:

Bitte, es ist sehr leicht möglich. Ich habe soundso viel Ärzte, die in Nebenlager gekommen sind, persönlich nie gesehen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ja, ja.

Zeuge Ernst Martin:

Ich mußte ja

Nebenklagevertreter Raabe [unterbricht]:

Oder haben Sie von diesem Doktor Lucas noch in Erinnerung, daß der vielleicht zweimal in Mauthausen war, etwa einmal in der früheren Zeit und dann später, 44, noch mal? Aber ich will Sie nicht überfordern. Also wenn Sie keine Erinnerung...

Zeuge Ernst Martin:

Na bitte, wenn es Sie besonders interessiert. Heute abend um sechs Uhr habe ich in Wien an und für sich eine Sitzung des sogenannten Vorstandes der Lagergemeinschaft. Und da sind Leute drin wie zum Beispiel der Polizeirat Marsalek, der Lagerschreiber war und natürlich noch viel mehr Leute gekannt hat als ich, der Direktor im ärztlichen Dienst war. Das könnte ich ohne weiteres Ihnen erheben.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ja, würde mich interessieren.

Zeuge Ernst Martin:

Gerne. Und an Herrn Staatsanwalt Doktor Wiese schreiben?

Nebenklagevertreter Raabe:

Wie Sie wollen, oder wir rufen Sie an. Das können wir also noch sehen.

Zeuge Ernst Martin:

Bitte.

Nebenklagevertreter Raabe:

Jetzt eine weitere Frage: Was haben Sie damals gehört über diesen Doktor Lucas?

Zeuge Ernst Martin:

Für mich ist er ein unbeschriebenes Blatt.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ein unbeschriebenes Blatt. Danke schön.

Zeuge Ernst Martin:

Bitte.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Kaul.

Nebenklagevertreter Kaul:

Ich habe keine Frage.

Vorsitzender Richter:

Von seiten der Verteidigung? Herr Rechtsanwalt Doktor Göllner?

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, sind Sie in dem amerikanischen Mauthausen-Prozeß als Zeuge vernommen worden? 1946 oder 47 muß der gewesen sein.

Zeuge Ernst Martin:

Bitte um Entschuldigung. Ich habe den Anfang nicht verstanden.

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, vor einem amerikanischen Militärgericht fand 1946 oder 1947 ein Mauthausen-Prozeß statt. Sind Sie

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

46 der erste, 47 der zweite.

Verteidiger Göllner:

Sind Sie in einem dieser [+ Prozesse] oder in beiden als Zeuge vernommen worden?

Zeuge Ernst Martin:

Ja.

Verteidiger Göllner:

In beiden?

Zeuge Ernst Martin:

In beiden.

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, sind Ihnen die einzelnen Standortärzte von Mauthausen namentlich noch in Erinnerung?

Zeuge Ernst Martin:

Ja.

Verteidiger Göllner:

Erinnern Sie sich an Doktor Friedrich Entress, der von Auschwitz kam?

Zeuge Ernst Martin:

Jawohl. Der hat den Doktor Krebsbach abgelöst.

Verteidiger Göllner:

Und wie lange war er in Mauthausen?

Zeuge Ernst Martin:

Der Doktor Entress dürfte mindestens zwei Jahre dort gewesen sein.

Verteidiger Göllner:

Haben Sie persönlich mit ihm zusammengearbeitet?

Zeuge Ernst Martin:

Ja, denn ein Standortarzt hat mich ehrlich gesagt dem anderen übergeben: »Der Mann weiß Bescheid.« Nur muß ich von Haus aus sagen, ich habe mit Doktor Entress am allerschwersten zusammengearbeitet. Weil der Mann wußte selber nicht, ist er Deutscher oder ist er Polack. Er stammte aus Polen, war seinerzeit in der deutschen Schule, ging dann ins polnische Gymnasium, studierte dann wieder Deutsch [+ an der] Universität. Und er war das Mißtrauischste, was es gibt, und wurde ja nur als verhältnismäßig junger Obersturmführer Standortarzt in Mauthausen, weil er in Auschwitz die ganzen Vergasungsöfen und so weiter, überhaupt, sagen wir mal, die Massenvergasung eingerichtet hat.

Verteidiger Göllner:

Wurde Doktor Entress im ersten oder im zweiten Mauthausen-Prozeß verurteilt?

Zeuge Ernst Martin:

Im ersten.

Verteidiger Göllner:

Als Doktor Entress nach Mauthausen kam, wurden da noch Herzinjektionen in Mauthausen durchgeführt?

Zeuge Ernst Martin:

Ganz wenige.

Verteidiger Göllner:

Endeten die Herzinjektionen gegen Häftlinge bald, nachdem Doktor Entress eingetroffen war?

Zeuge Ernst Martin:

Die Herzinjektionen haben nie ganz aufgehört. In Mauthausen war zum Beispiel prinzipiell eine dreimalige Sputumuntersuchung auf Tb, auf Tuberkulose, gleichbedeutend mit Tod. Und so ein Mann, der wurde mit Herzinjektion erledigt. Da hat man nicht erst gewartet, bis wieder 100 oder 150 beisammen waren, um sie zu vergasen.

Verteidiger Göllner:

Wer befahl die Herzinjektionen in Mauthausen?

Vorsitzender Richter:

Wer?

Verteidiger Göllner:

Der Arzt?

Vorsitzender Richter:

Wer es befohlen hat.

Zeuge Ernst Martin:

Der Arzt, der es befohlen hat, beziehungsweise ein SDG.

Verteidiger Göllner:

Aus sich selbst, der SDG?

Zeuge Ernst Martin:

Nein, »aus sich selbst« würde ich nicht sagen, würde ich nicht behaupten. Wohl sind Herzinjektionen aus eigenem [+ Entschluß] von SDGs erfolgt, und zwar bei Schwerverletzten im Steinbruch, für welche unter normalen Verhältnissen ohne weiteres Rettung möglich war. Unter diesen bescheidenen Mitteln, die man nun da draußen hatte, war sie unmöglich.

Und da ging der SDG hin, das festzustellen. Und der hatte die Tasche mit. Also der konnte bei solchen Sachen ohne weiteres sofort eine Herzinjektion verabreichen. Meistens hat man das nicht als Herzinjektion gemacht, sondern als normale Veneninjektion mit einem Zyan-Bestandteil.

Verteidiger Göllner:

Und in sonstigen Fällen befahl die Injektionen in Mauthausen der Arzt, oder wie soll ich das verstehen?

Zeuge Ernst Martin:

Bitte, darf ich noch einmal [+ hören]?

Verteidiger Göllner:

In sonstigen Fällen – also außerhalb des Steinbruchs –, die sich im Lager, im Krankenbau ereigneten, wurden die Herzinjektionen befohlen von wem?

Zeuge Ernst Martin:

Nein. Nur vom Lagerarzt.

Verteidiger Göllner:

Nur vom Lagerarzt.

Zeuge Ernst Martin:

Oder Standortarzt.

Verteidiger Göllner:

Oder Standortarzt.

Zeuge Ernst Martin:

Ja.

Verteidiger Göllner:

Also mit Ausnahme des Steinbruchs von einem Sanitätsdienstgrad niemals?

Zeuge Ernst Martin:

Niemals.

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, noch eine letzte Frage.

Zeuge Ernst Martin:

Bitte.

Verteidiger Göllner:

Bei dem zweiten Fall, den Sie schilderten – daß der Lagerkommandant Ziereis persönlich anwesend war bei einer Exekution und sich dieser neue Arzt auf Befehl von Ziereis, als er ihm erklärt hatte, ein Häftling sei nach der Exekution nicht tot, und ihm den Befehl gegeben hatte, ihn zu erschießen, und er es dann ablehnte –, sagten Sie, es gab dann einen fürchterlichen Auftritt mit Androhung von Straflager Stutthof-Matzkau, aber am nächsten Tag war dieser Arzt an der Front. Woher wissen Sie das?

Zeuge Ernst Martin:

Ja. Das weiß ich auch wieder aus der Ausstellung der Reisedokumente, nach Feldpostnummer Soundso.

Verteidiger Göllner:

Haben Sie diese Reisedokumente als Häftlingsschreiber getätigt?

Zeuge Ernst Martin:

Auf Befehl habe ich sie ausgestellt. Ich bekam sie natürlich vorgezählt.

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, wissen Sie noch, wie dieser Arzt hieß?

Zeuge Ernst Martin:

Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Vielleicht auch deshalb, weil gar kein persönlicher Kontakt mit dem Mann vorhanden ist, weil ich ihn ja nur einen Tag eigentlich gesehen habe.

Verteidiger Göllner:

Und dann noch eine allerletzte Frage. Ihr persönliches Verhältnis, schilderten Sie, mit dem Standortarzt Doktor Entress war außerordentlich schlecht.

Vorsitzender Richter:

Das hat er nicht gesagt.

Verteidiger Göllner:

Doch, doch, doch.

Vorsitzender Richter:

Er hat gesagt, »schwierig«.

Verteidiger Göllner:

Schwierig.

Zeuge Ernst Martin:

Darf ich dazu vielleicht folgendes [+ sagen].

Verteidiger Göllner:

Ja bitte, erläutern Sie das.

Zeuge Ernst Martin:

Doktor Krebsbach, wenn ich auf ihn zurückgehe, war nicht normal. Er war ein blendender Arzt, zugegeben. Er war ein Spezialist für Seuchenbekämpfung. Denn er kam ja dann auch von Mauthausen als Seucheninspektor hinauf nach Litauen, Lettland und so weiter. Er hatte das reizendste Familienleben, das es gibt, und war auf der anderen Seite die größte Bestie.

Er konnte ohne weiteres zuschauen durch ein Glasfenster, wie die Leute sich gewunden haben bei den ersten Vergasungen. Gerade die ersten Vergasungen waren ja das Fürchterlichste. Denn die Leute sind erst nach acht, zehn, zwölf Stunden gestorben, haben sich verkrampft, so daß die Leichenträger die Leichen damals buchstäblich mit Hacken auseinanderschlagen mußten. Bitte, da sind dann später die Methoden verbessert worden, dann trat der Tod praktisch in drei bis fünf Minuten ein.

Nach meinen bescheidenen medizinischen Kenntnissen habe ich Doktor Krebsbach für einen schweren Schizophreniker gehalten, auch nach dem Schädelbau, den Ohren und so weiter. Und wie das bei Schizophrenikern vorkommt, sind ihnen manche Leute sympathisch und manche überhaupt nicht. Aus welchem Grund ich ihm vom ersten Moment an eigentlich sympathisch war, mich sogar getrauen durfte, ab und zu gegen Entscheide als schlechter Häftling aufzutreten – ich habe mir x-mal überlegt, wie es möglich war. Ich habe die ganzen Berichte, zum Beispiel alle ans Hygieneinstitut, nach Berlin gemacht. Krebsbach hat das alles nur unterschrieben.

Dann kam Entress. Selbstverständlich hat Krebsbach mich dem Entress übergeben und hat gesagt: »Der macht dir alles, da brauchst du dich nicht darum zu scheren.« Ich habe da so weitergearbeitet. Und als ich dann eines Tages wieder mit einem längeren Berlin-Bericht zu ihm hingekommen bin, hat er gesagt: »Das paßt mir nicht.« Ich habe schon das Gefühl gehabt, mit dem Mann ist überhaupt kein Kontakt möglich. Er sagt: »Das paßt mir nicht, was Sie da machen. Sie arbeiten selbstherrlich.«

Und das war natürlich das Gefährlichste, bei irgendeinem Kommando hinausgeschmissen zu werden, weil man dann ja ganz von unten wieder anfangen mußte. Was anderes war es, wenn man selber gebeten hat um die Ablösung. Und schon x-mal vorher hat mir eigentlich der Kommandoführer vom Baubüro gesagt: »Gell, wenn mal was ist beim Standortarzt, kommst du zu uns.« Sie haben damals gerade für Wasser und so weiter, für ihre Großbauten, keinen Konstrukteur gehabt. »Das kannst du bei uns auch machen.«

Ich bitte um meine Ablösung, worauf er fragt: »Ja warum?« Ich habe ehrlich gesagt: »Schauen Sie, Obersturmführer«, da war er noch Obersturmführer, »ich habe das Gefühl, meine Arbeit paßt Ihnen nicht. Es hat doch gar keinen Sinn, wenn ich weiterarbeite. Sie sind mißtrauisch, und es paßt Ihnen nicht. Im übrigen, wenn Sie es unbedingt wollen, diktieren Sie die Berichte persönlich nach Dings.« Selbstverständlich, ich schreibe es Ihnen so, wie Sie es wollen.

Und ich habe dann auch tatsächlich am nächsten Tag oder drei Tage darauf einen längeren, einen genauen [+ Bericht diktiert bekommen]. Für Berlin waren ja alle vier Wochen ungefähr fünf, sechs Seiten Berichte über die ganzen Lagerverhältnisse, Verpflegung und so weiter, fällig. Und ich wußte ja, weil der Krebsbach mich selber einmal dem Doktor Lolling, dem Chef Amt III, vorgestellt hat, in welchem Sinne Berlin die Berichte wollte. Na, er hat da etwas anderes diktiert.

Dann kam am zweiten Tag mit Fernschreiber: »Welcher Trottel hat den Bericht geschrieben?« Worauf er sich zwei Tage nicht hat sehen lassen. Und dann hat er mir über den Stabs-SDG gesagt, es ist doch vielleicht besser, der Martin schreibt die Berichte wieder selber.

Aber dadurch war von Haus aus dieses, sagen wir, gespannte Verhältnis gegeben. Und ich hätte nie im Leben heute zum Entress zum Beispiel gehen können, um [zu bitten] und dem irgendeinen Häftling herauszureißen, der schon für die Vergasung bestimmt war. Das wäre beim Entress unmöglich gewesen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Bitte schön.

Richter Hotz:

Herr Martin, ist Ihnen bekannt, ob Doktor Entress in diesem Mauthausen-Prozeß auch zu seiner Tätigkeit in Auschwitz vernommen worden ist?

Zeuge Ernst Martin:

Ich war bei einigen Zeugenaussagen beziehungsweise Vernehmungen dabei. Aber bei der Entress- Vernehmung war ich nicht dabei. Da habe ich nur ungefähr dasselbe als Zeuge gesagt, was ich jetzt gesagt habe.

Richter Hotz:

Danke sehr.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Raabe.

Nebenklagevertreter Raabe:

Wenn an den Zeugen keine Fragen mehr sind, habe ich an Doktor Lucas noch Fragen.

Vorsitzender Richter:

Moment. Erst an den Zeugen.

Staatsanwalt Kügler:

Keine Frage mehr.

Vorsitzender Richter:

Keine Frage mehr.

Verteidiger Steinacker:

Eine Frage.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Verteidiger Steinacker:

Herr Zeuge, Sie haben berichtet von Vergasungen in Mauthausen.

Zeuge Ernst Martin:

Ja.

Verteidiger Steinacker:

Gab es denn in Mauthausen Vergasungen?

Zeuge Ernst Martin:

Ja, aber viel später. [...]

Verteidiger Steinacker:

Wann?

Zeuge Ernst Martin:

Der erste Ofen ist ungefähr erst 43 gebaut worden, der erste Vergasungsofen.

Verteidiger Steinacker:

Das höre ich heute zum ersten Mal. Deshalb habe ich diese Frage gestellt.

Zeuge Ernst Martin:

Nein, nein. Den hat noch Krebsbach gebaut. Und das war gerade an der Wende, als Krebsbach ersetzt worden ist durch Entress.

Vorsitzender Richter:

Von seiten der Angeklagten? Hantl.

Angeklagter Hantl:

Herr Zeuge, ist Ihnen bekannt, wann Doktor Entress nach Mauthausen gekommen ist?

Zeuge Ernst Martin:

Krebsbach ist 43, wie ich erwähnte, nach [Litauen, Lettland] gekommen. Und unmittelbar, als Interim, war damals ein Obersturmführer Böhmichen, der Lagerarzt war. Der hat ein, zwei Monate den Standortarzt vertreten, und dann kam Entress. Also es dürfte

Angeklagter Hantl [unterbricht]:

In welchem Monat ungefähr kam Doktor Entress nach Mauthausen?

Zeuge Ernst Martin:

Schauen Sie, das sind heute so viele Jahre [+ her], das kann ich Ihnen nicht genau sagen.

Angeklagter Hantl:

Das ist aber merkwürdig. Doktor Entress war im Sommer 44 noch in Monowitz. [Pause] Herr Vorsitzender [unverständlich]

Zeuge Ernst Martin:

Bitte, ich gebe ohne weiteres zu, ich kann mich nach dieser langen Zeit irren vielleicht in den...

Vorsitzender Richter:

In den Daten?

Zeuge Ernst Martin:

In den Daten. Nämlich gerade in Zeitdaten.

Vorsitzender Richter:

Also Sie meinten, es wäre 1943 gewesen?

Zeuge Ernst Martin:

Aber bitte, das ist feststellbar.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Ernst Martin:

Das ist bei uns in Österreich bestimmt feststellbar.

Nebenklagevertreter Kaul:

Herr Präsident, im übrigen moniere ich diesen Vorhalt. Wir haben die eidesstattliche Versicherung von dem Entress verlesen. Und da sagte er selber: »Ich kam in das Stammlager Auschwitz als Lagerarzt. Dort blieb ich bis zum 20. Oktober 43.«[1] Insofern kann man doch nicht hier apodiktisch erklären, Entress war noch bis 44 in Monowitz.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Angeklagter Hantl:

Herr Vorsitzender, ich habe doch angegeben, daß ich 44 – Ende März, April – nach Monowitz gekommen bin. Und da ist Doktor Entress ständig rausgekommen. Dort hat ihn ein paar Tage Fischer vertreten, und zweimal war auch ein Luftwaffenarzt dorten. Und der hat sich dann geäußert, wir sollen uns unseren Dreck selber machen. Und Zeuge ist auch Doktor Buthner, Hannover, der war ja bis zum Schluß in Monowitz. Dann waren noch französische und italienische Ärzte in Monowitz. Und der Max Reimann, der war im SS-Revier, in unserer Baracke hat er Dienst gemacht.

Vorsitzender Richter:

Also der Doktor Entress hat gesagt, »nachdem ich Monowitz im Oktober 1943 verlassen hatte«.

Nebenklagevertreter Kaul:

An anderer Stelle, Herr Präsident, auf Seite 2a in dieser Fotokopie

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Moment, Herr Rechtsanwalt. Ich muß mal nachsehen.

Nebenklagevertreter Kaul:

»Neben dem Stammlager Auschwitz hatte ich als Lagerarzt verschiedene Außenlager von Auschwitz zu betreuen, unter anderem auch Monowitz von März bis Oktober 1943.«[2]

Vorsitzender Richter:

Einen kleinen Augenblick, Herr Rechtsanwalt.

Nebenklagevertreter Kaul:

Das ist Ziffer 3 dieser eidesstattlichen Versicherung. Sie beginnt mit: »Das Konzentrationslager Monowitz der IG Farben wurde Mitte 42«... [...] Wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten, den nächsten Absatz zu lesen: »Neben dem Stammlager Auschwitz«...

Vorsitzender Richter:

»Der erste verantwortliche Lagerarzt in Monowitz, an den ich mich erinnere, ist Doktor Hellmuth Vetter, Angehöriger der SS und früherer Angestellter der IG Farben.«

Nebenklagevertreter Kaul:

Jetzt kommt es.

Vorsitzender Richter:

»Neben dem Stammlager Auschwitz hatte ich als Lagerarzt verschiedene Außenlager von Auschwitz zu betreuen, unter anderem auch Monowitz von etwa März bis Oktober 1943. Ich war in Monowitz als Beauftragter des Standortarztes. Mein Nachfolger in Monowitz war Doktor Fischer.«[3] Und dann ist noch mal

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

Noch eins vorher, ganz zu Anfang, unter Ziffer 1 der letzte Absatz: »Am 11. Dezember 41 wurde ich auf Befehl von Doktor Lolling in das Stammlager Auschwitz versetzt. Ich blieb dort bis zum 20. Oktober 43.«[4]

Vorsitzender Richter:

Ja. Und dasselbe geht nachher noch einmal hervor aus Ziffer 13: »Nachdem ich Monowitz im Oktober 43 verlassen hatte, selektierte mein«, muß das heißen, »Nachfolger Doktor Fischer.«[5]

Nebenklagevertreter Kaul:

Und der nächste Satz: »Am 21. Oktober 43 wurde ich zum Konzentrationslager Mauthausen versetzt.«[6]

Vorsitzender Richter:

Ja.

Angeklagter Hantl:

Doktor Entress war doch bis zum Schluß noch, bis 44, in Auschwitz gewesen. Es war doch kein anderer Arzt dorten.

Vorsitzender Richter:

Aber Sie sehen, daß auch dieser Zeuge, den wir eben hier vernommen haben, sich zu erinnern glaubt – wenn auch natürlich nur unbestimmt, und er kann es heute nicht mehr mit Gewißheit sagen –, daß im Jahr 43 Doktor Entress nach Mauthausen gekommen ist.

Nebenklagevertreter Kaul:

Im übrigen, Herr Präsident, gibt er ja dann genau an, wo er weiter geblieben ist. »Ich war dort in Mauthausen bis zum 25. Juli 44 als Standortarzt. Vom 3. August 44 bis Februar 45 war ich erster Lagerarzt im Konzentrationslager Groß-Rosen. Am 10. Februar wurde ich chirurgischer Assistenzarzt. 8. Mai 45 bei Steyr, Oberösterreich, in Kriegsgefangenschaft. Am 29. März 46: Mauthausen-Prozeß, angeklagt, am 13. Mai 46 zum Tode verurteilt.«[7] Sagt er selber hier.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Angeklagter Hantl:

Diese Angaben kann ja Doktor Buthner machen, Hannover. Herr Vorsitzender, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich damals die Aussage gemacht habe zur Sache, daß, als ich in Monowitz rauskam, mir Doktor Buthner gesagt hat, daß die Häftlinge, die schonungskrank waren, zur Arbeit herangezogen werden. Und ich habe gesagt: »In Auschwitz brauchen sie das auch nicht.« Hat er gesagt: »Was sollen wir machen?«

Ich habe den Dienstweg überschritten, bin nicht zum Lagerführer gegangen und bin zur Direktion gegangen der IG Farben, einem gewissen Doktor Peschel oder Pöschel, ich weiß nicht genau. Und der hat das weitergeleitet. Ich habe gesagt, ob er nicht zwei Leute abstellen könnte, die das Essen holen, weil doch die Körperschwachen, die sich die Hände verbrannt haben, die Finger, und dergleichen, ihre Schonung haben sollten, nicht. Und der hat das nach Auschwitz gemeldet.

Als Doktor Entress am nächsten Tag zur Visite rauskam, sagte er zu mir, weil ihn der Doktor Buthner bis zur Tür begleitet hat, ich solle mal mitkommen, er wird mir was sagen. An der Lagerstraße hat er zu mir gesagt: »Sie waren bei der IG Farben?« Habe ich gesagt: »Ja.« Sagt er: »Man läßt Ihnen in Auschwitz sagen, Sie sollen sich nicht um Sachen kümmern, die Sie nichts angehen.« Und somit hat er mich kaltgestellt.

Vorsitzender Richter:

Klehr.

Angeklagter Klehr:

Herr Präsident, ich habe eine Frage an den Zeugen.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Angeklagter Klehr:

Herr Zeuge, habe ich Sie richtig verstanden, Sie hatten vorhin auf die Frage vom Herrn Staatsanwalt geantwortet: Die SDGs, die die Injektionen durchführten, wurden nach Berlin zum Kursus geschickt. Ist das richtig?

Vorsitzender Richter:

Ja, das hat er gesagt.

Angeklagter Klehr:

Herr Präsident, da muß ich das widerrufen, [weil] das nicht stimmt. Die SDGs, da wurde keiner nach Oranienburg geschickt. Sondern wenn einer zur Sani-Staffel kam, der kein SDG gewesen war, außer im Beruf vorm Krieg, der wurde dann nach Oranienburg geschickt, und der machte einen Sanitätslehrgang mit. Außerdem wurden diejenigen, die die Vergasungen durchführten, die als Desinfektoren galten, nach Oranienburg geschickt und machten einen Lehrgang mit. Aber andere SDGs wurden nicht wegen der Injektion nach Oranienburg geschickt. Das ist unwahr.

Vorsitzender Richter:

Ja. Das mag in Auschwitz so gewesen sein. Herr Martin, wie war es bei Ihnen in Mauthausen?

Zeuge Ernst Martin:

Es sind einige darunter. Das kommt auch im übrigen in den einzelnen Dachauer Prozessen vor. Ich erinnere mich da gerade an einen SDG Kleingünter. Der ist eigens zu einem Injektionskurs nach Dings geschickt worden.

Vorsitzender Richter:

Nach Oranienburg?

Zeuge Ernst Martin:

Nach Oranienburg geschickt worden. Und über den übrigens, den Kleingünter, müssen ziemlich viele Akte vorhanden sein. Die Amerikaner haben ihn auch zum Tod verurteilt, haben ihn dann begnadigt, einmal begnadigt, ein zweites Mal begnadigt. Dann war er irgendwo bei einem deutschen Gericht und soll jetzt immer noch unter Aufsicht sein und als Sanitäter irgendwie mit einem Sanitätswagen in Passau fahren. Also der hat das selber seinerzeit ausgesagt.

Vorsitzender Richter:

Daß er zur Ausbildung nach Oranienburg gekommen ist?

Zeuge Ernst Martin:

Hinausgekommen ist.

Vorsitzender Richter:

Nun ist es möglich, daß vielleicht der eine oder andere

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

Das war nämlich einer unserer gefährlichsten »Spritzer«.

Vorsitzender Richter:

Daß aber vielleicht der eine oder andere nicht besonders ausgebildet worden ist, kann ja vielleicht sein.

Zeuge Ernst Martin:

Das ist ohne weiteres möglich.

Vorsitzender Richter:

Das wissen Sie nicht.

Angeklagter Klehr:

Dann noch eine letzte Frage.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Angeklagter Klehr:

Herr Zeuge, Sie sagten, im Stammlager hätte es einen Stabs-SDG gegeben. Ist das richtig?

Vorsitzender Richter:

In welchem Stammlager? Mauthausen?

Angeklagter Klehr:

Ja. Im Häftlingskrankenbau hätte es einen Stabs- SDG

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Einen Stabs-SDG in Mauthausen?

Angeklagter Klehr:

Ja.

Zeuge Ernst Martin:

Ja, ja. Und zwar hat er Metzler geheißen. Er lebt in der Ostzone heute.

Angeklagter Klehr:

Ich kann es von Mauthausen nicht beurteilen. Ich beurteile es nur von Auschwitz, daß es keinen Stabs-SDG im Lager gegeben hat.

Vorsitzender Richter:

Ja, das mag bei Ihnen so gewesen sein, in Mauthausen anders, nicht. Das ist ja durchaus denkbar.

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

Nein, nein, [unverständlich] Stabs-SDG gehabt [unverständlich] ja.

Vorsitzender Richter:

Wenn keine Fragen mehr an den Zeugen sind – Herr Rechtsanwalt Raabe?

Nebenklagevertreter Raabe:

Ich möchte doch in Gegenwart des Zeugen noch einige Fragen an den Angeklagten Doktor Lucas stellen. Herr Doktor Lucas, ist es richtig, daß Sie im Nebenlager Mauthausen-Gusen waren?

Angeklagter Lucas:

Ich bin nur in dem Hauptlager Mauthausen gewesen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Sie waren im Hauptlager Mauthausen?

Angeklagter Lucas:

Jawohl.

Nebenklagevertreter Raabe:

Und das war noch mal wann? Von Anfang August, sagten Sie, glaube ich, bis wann?

Angeklagter Lucas:

Ich kann da kein genaues Datum angeben. Es war Sommer, und in Mauthausen habe ich von der Vernichtung der Zigeuner gehört.

Nebenklagevertreter Raabe:

Sie sagen, im Sommer war es, ja?

Angeklagter Lucas:

Im Sommer, jawohl.

Nebenklagevertreter Raabe:

Wie viele Ärzte waren denn zu dieser Zeit mit Ihnen in Mauthausen tätig, im Stammlager?

Angeklagter Lucas:

Der Standortarzt, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, und dann noch ein zweiter Lagerarzt in Mauthausen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Es waren also außer Ihnen noch zwei, einschließlich des Standortarztes, ja?

Angeklagter Lucas:

Einschließlich Standortarzt, jawohl.

Nebenklagevertreter Raabe:

Was war denn dort Ihre Beschäftigung? Was hatten Sie dort zu tun?

Angeklagter Lucas:

Ich... Das...

Verteidiger Aschenauer:

Das steht in keinem Zusammenhang mit dem Prozeßgegenstand, Mauthausen. Ich widerspreche.

Nebenklagevertreter Raabe:

Oh ja, das steht sogar in außerordentlich großem Zusammenhang, weil wir dabei sind zu klären, wann der Angeklagte von Auschwitz weg ist und wie lange er dann in Mauthausen war. Sollte er in Mauthausen an Tötungen beteiligt gewesen sein, wäre das für die Beurteilung der Persönlichkeit auch von Interesse.

Aber insbesondere ist es wichtig, daß wir die Zeiten klären. Und da der Angeklagte Doktor Lucas gesagt hat, er war im Stammlager in Mauthausen, und dieser Zeuge hier Schreiber beim Standortarzt war, haben wir doch jetzt die beste Möglichkeit, das zu klären. Und darum wollen wir uns doch alle bemühen.

Verteidiger Aschenauer:

Zwischen Fragen nach den Zeiten und nach dem Handeln oder nach dem Töten ist ein Unterschied. Die Zeitenfrage ist beantwortet.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ja, aber selbstverständlich ist

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Herr Doktor Aschenauer, so klar ist es nicht. Denn wenn der Doktor Lucas uns nunmehr sagt, wo er tätig war in Mauthausen, dann kann sich vielleicht der Zeuge erinnern, ob er ihn von dieser Zeit doch kennt.

Verteidiger Aschenauer:

Der Zeuge hat gesagt, 41 auf 42. Für ihn ist Doktor Lucas ein unbeschriebenes Blatt.

Vorsitzender Richter:

Ja. Das ist ein Doktor Lucas, der 42 dort war und der zweifellos nicht identisch sein kann mit diesem Doktor Lucas.

Verteidiger Aschenauer:

Er hat weiter gesagt, er kann die Zeiten verwechseln.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Wo waren Sie denn tätig in Mauthausen, als Sie im Sommer 44 dorthin kamen?

Angeklagter Lucas:

Ich war oben in der chirurgischen Abteilung mit dem Professor Podlaha zusammen. Wenn der noch lebt, könnte er das ohne weiteres bezeugen.

Vorsitzender Richter:

Wie hieß der Professor?

Angeklagter Lucas:

Professor Podlaha. Das war der Chirurg.

Vorsitzender Richter:

Fossnacker? [...]

Zeuge Ernst Martin:

Nein, Podlaha. Er war der Chef der chirurgischen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Abteilung.

Zeuge Ernst Martin:

In Brünn, Universitätsprofessor. Er war in Brünn und ist wieder nach Brünn gegangen und hat wieder seine alte Chirurgie in Brünn übernommen. Ist seit heuer, glaube ich, 1. Jänner, in Pension.

Vorsitzender Richter:

Können Sie sich noch erinnern an

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

Ja, ich habe mit ihm, dem Podlaha, zusammengewohnt sozusagen, war sogar intim befreundet mit ihm. Und die Ärzte, die mit Podlaha gearbeitet haben – da war ein gewisser Doktor Richter, aber an Doktor Lucas kann ich mich nicht erinnern. Um so mehr macht mich stutzig, daß Sie erklären, es sind zu dieser Zeit Zigeuner vernichtet worden.

Vorsitzender Richter:

Nein, nicht in Mauthausen. Sondern er hat gehört, daß in Auschwitz die Zigeuner [+ umgebracht wurden].

Zeuge Ernst Martin:

Ach so. Bitte um Entschuldigung.

Vorsitzender Richter:

Aber Sie kannten also diesen Doktor Podlaha aus dieser Zeit dort?

Zeuge Ernst Martin:

Sehr gut, ja.

Vorsitzender Richter:

Und wer hat denn mit Ihnen zusammengearbeitet außer dem Doktor Richter?

Zeuge Ernst Martin:

Er hatte natürlich ein Team von Häftlingsärzten, in erster Linie

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nein, ich meine jetzt, von den SS-Ärzten.

Zeuge Ernst Martin:

Von den SS-Ärzten sind ja eigentlich nur die hingekommen, die sich überhaupt für etwas interessiert haben, die etwas lernen wollten. Und das waren damals der Böhmichen, der übrigens noch kein Doktorat hatte, und der Doktor Richter. Das waren eigentlich die zwei SS-Ärzte, die aber interessehalber und sogar dann unter seiner Aufsicht operiert haben.

Vorsitzender Richter:

Und Sie sagen, Doktor Lucas, daß Sie bei ihm tätig waren?

Angeklagter Lucas:

Das SS-Revier in Mauthausen lag ja außerhalb der Mauer, und operiert wurde im SS-Revier.

Zeuge Ernst Martin:

Ja. Aber damals war ja

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Können Sie sich an Doktor Richter oder Doktor Böhmichen erinnern?

Angeklagter Lucas:

Nein, nur an den Professor Podlaha. Ich weiß auch den Standortarzt im Moment nicht.

Vorsitzender Richter:

Wie lange waren Sie denn in Mauthausen?

Angeklagter Lucas:

Die Zeit kann ich auch nicht genau [+ sagen]. Von Mauthausen kam ich nach Stutthof hin. Zwei Monate vielleicht. Zwei Monate, etwas mehr.

Nebenklagevertreter Raabe:

Herr Doktor Lucas, haben Sie gehört von den Tötungen in Mauthausen-Gusen?

Angeklagter Lucas:

[Pause] Ich bin nur dort oben gewesen. In Gusen selbst bin ich überhaupt nie gewesen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Haben Sie gehört davon?

Angeklagter Lucas:

Daß in Mauthausen vergiftet worden sein soll, habe ich neulich erst von dem Untersuchungsrichter Düx gehört. Nein, Verzeihung, es ist verkehrt. Herr Landgerichtsrat Düx hat gesagt, in Mauthausen wäre nicht vergast worden, sondern es wäre außerhalb Mauthausens irgendwo gewesen.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Nebenklagevertreter Raabe:

Also Sie haben gehört von den Tötungen in Mauthausen. Und speziell auch von Tötungen in Gusen?

Angeklagter Lucas:

Nein, von Gusen nicht.

Nebenklagevertreter Raabe:

Von Gusen nicht? Dann eine weitere Frage: Haben Sie dort Häftlinge behandelt, in dieser Abteilung von dem Professor Podlaha, oder SS-Leute?

Angeklagter Lucas:

Häftlinge behandelt. Und nebenbei habe ich noch das Truppenrevier stellvertretend gemacht, wenn der Standortarzt nicht da war.

Nebenklagevertreter Raabe:

Das Truppenrevier haben Sie auch noch betreut?

Angeklagter Lucas:

Jawohl.

Nebenklagevertreter Raabe:

Und waren Sie auch sonst normal als Lagerarzt eingeteilt in Mauthausen? Also so etwa, wie Sie es vorher in Birkenau gemacht haben, im Zigeunerlager?

Angeklagter Lucas:

Wie meine Dienststellung da genau war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich dort die Truppenleute mit versorgt habe.

Nebenklagevertreter Raabe:

Die Truppe, ja. Aber jetzt meine ich die Häftlinge.

Angeklagter Lucas:

Ja. Die chirurgische Abteilung des Lazaretts lag, ich möchte jetzt sagen, im Stammlager, also oben auf dem Berg. Und dann gab es noch eine zweite, die interne Abteilung, die unten irgendwo, am Fuß dieses Hügels, lag, mit der ich dann nichts weiter zu tun hatte.

Vorsitzender Richter:

Die Frage von dem Herrn Rechtsanwalt Raabe geht doch ganz klar dahin: ob Sie außer Ihrer Tätigkeit in der chirurgischen Abteilung und bei der Truppenbetreuung auch noch sonst im Lager Häftlingsbetreuung als Aufgabe hatten.

Angeklagter Lucas:

Nein, im Lager selbst bin ich überhaupt gar nicht gewesen. Wo die Häftlinge wohnten, bin ich nie gewesen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Sagen Sie, Herr Doktor Lucas, ich habe jetzt diese Aufzeichnungen nicht zur Hand, aber ich erinnere mich, Sie haben doch auch für Mauthausen von Kontroversen mit Ihren Vorgesetzten berichtet. War das ein Zusammenstoß mit Krebsbach, oder?

Angeklagter Lucas:

Nein, das war ein Zusammenstoß mit dem Ziereis. Es handelte sich dort um 40 Holländer, die man einen falschen Weg geführt und dann erschossen hatte, angeblich »auf der Flucht« erschossen hatte. Und ich habe mich damals geweigert, die Totenscheine zu unterschreiben.

Nebenklagevertreter Raabe:

Sie sagten uns doch eben, Sie hätten nichts mit den Häftlingen zu tun gehabt. Haben Sie in Mauthausen also doch etwas mit den Häftlingen zu tun gehabt?

Angeklagter Lucas:

Man war an mich herangetreten, die Totenscheine zu unterschreiben, und da habe mich geweigert. Weiter habe ich nichts zu tun gehabt.

Nebenklagevertreter Raabe:

Hatten Sie in der Regel in Mauthausen Totenscheine auszufüllen?

Angeklagter Lucas:

Nein, das war gleich zu Beginn. Das habe ich abgelehnt, und ich habe keine unterschrieben.

Nebenklagevertreter Raabe:

Aha. Und was hatte das dann für Folgen, diese Auseinandersetzung mit dem Ziereis?

Angeklagter Lucas:

Das war ja nur eine der vielen Auseinandersetzungen, die täglich da waren. Die begannen schon damit, wenn man die Strafkompanie mit Steinen dort den Berg raufkraxeln sah, die Verwundungen, mit denen manche Häftlinge eingewiesen wurden, Hundebisse und so weiter. Und die rissen ja praktisch überhaupt nie ab.

Vorsitzender Richter:

Und nun will der Herr Rechtsanwalt Raabe wissen, welche Folgen diese Auseinandersetzungen gehabt haben. Daß sie versetzt worden sind?

Angeklagter Lucas:

Ja. Ziereis ließ mich auf sein Dienstzimmer kommen, schrie mich dort zusammen und brüllte Dinge, die er immer brüllte: »Mit Ihnen und Ihresgleichen werden wir schon fertig!« Und nach kurzer Zeit wurde ich dann ja auch versetzt.

Nebenklagevertreter Raabe:

Nach Stutthof, ja?

Angeklagter Lucas:

Nach Stutthof, jawohl.

Nebenklagevertreter Raabe:

Danke, Herr Doktor Lucas, ich habe keine Fragen mehr.

Herr Zeuge, haben Sie etwas gehört von solchen Auseinandersetzungen zwischen einem Doktor Lucas und dem Lagerkommandanten?

Zeuge Ernst Martin:

Nein.

Nebenklagevertreter Raabe:

Nicht?

Zeuge Ernst Martin:

Nein. Ich möchte nur folgendes noch vielleicht ergänzend dazu sagen: Eine meiner unangenehmsten Arbeiten, die ich zu diktieren hatte – zuerst habe ich sie selber geschrieben, später habe ich sie natürlich einem Mithäftling oder mehreren diktiert – war: Wir haben doch Tage gehabt, wo wir bis zu 70, 80 unnatürliche Todesfälle gehabt haben, erschossen, auf der sogenannten Flucht erschossen, in den Draht gegangen, den elektrischen, und so weiter.

Nun war die Vorschrift, daß jeder unnatürliche Todesfall an das zuständige SS- und Polizeigericht gemeldet werden mußte. Diese Sektionsbefunde, die von mir geschrieben worden sind, hat in erster Linie der Standortarzt abgezeichnet, unterschrieben, dann der Lagerarzt, dann der Schutzhaftlagerführer und als letzter der Chef der Politischen Abteilung, also der Gestapo-Chef. Und von ihm aus ging es weg. Also ich müßte, wenn der Herr Doktor Lucas um die Zeit da war, [+ ihn gesehen haben], weil ich bin ja mit der Mappe gegangen um die Unterschriften. Einmal hätte ich doch mit Ihnen zusammentreffen müssen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Sagen Sie, Herr Zeuge, erinnern Sie sich an den Fall mit diesen 40 Holländern, den der Angeklagte eben berichtet?

Zeuge Ernst Martin:

Mit?

Nebenklagevertreter Raabe:

Mit 40 Holländern, die getötet wurden.

Zeuge Ernst Martin:

Die Holländer. Mauthausen hatte Perioden gehabt. Also die Hauptperiode, Tötungsperiode, eigentlich waren die holländischen Juden. Und zwar in der Zeit von ungefähr September bis November 41, wo damals praktisch alle holländischen Juden innerhalb kürzester Zeit durch den Steinbruch erledigt worden sind. Dann kam um Weihnachten 41 die Vernichtungswelle über die Tschechen. Dann kam wieder eine Vernichtungswelle der Polen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Herr Zeuge, verzeihen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

Aber Holländer sind dann später überhaupt nicht mehr nach Mauthausen gekommen. Es sind nur noch Franzosen und Belgier gekommen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Aha. Dann eine weitere Frage: Sie haben eben geschildert, wie die unnatürlichen Todesfälle bei Ihnen behandelt wurden im Lager Mauthausen. Galt das, was Sie eben geschildert haben, auch für die unnatürlichen Todesfälle im Nebenlager Gusen?

Zeuge Ernst Martin:

Auch. Genauso.

Nebenklagevertreter Raabe:

Das lief auch über Sie?

Zeuge Ernst Martin:

Nur hat Gusen natürlich dort selber die Protokolle feststellen müssen. Sie kamen nur herauf noch zur Unterschrift vom Standortarzt. Der Lagerarzt von Gusen mußte natürlich dort auch unterschreiben, dann der betreffende Schutzhaftlagerführer von Gusen und, immer, dann der Chef der Politischen Abteilung.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ja. Also es hätte so sein können, daß zunächst der Lagerarzt von Gusen unterschrieb und dann später erst

Zeuge Ernst Martin [unterbricht]:

Erst der Standortarzt. Das ist möglich.

Nebenklagevertreter Raabe:

Dann eine letzte Frage: Haben Sie die Personalpapiere der SS-Ärzte des Stammlagers Mauthausen mit geführt, beziehungsweise haben Sie sie mit gesehen, oder hatten Sie in diesen Personalpapieren zu tun?

Zeuge Ernst Martin:

Nein. Die Dokumente der SS-Offiziere waren im Panzerschrank.

  1. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.566.
  2. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.567.
  3. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.567.
  4. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.566.
  5. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.570.
  6. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.566.
  7. Vgl. eidesstattliche Erklärung von Friedrich Entress, Nürnberger Dokument NI-6190, beglaubigte Abschrift, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 22, Bl. 3.566 f.
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