Zeuge Otto Dov Kulka

71. Verhandlungstag 30.07.1964

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

71. Verhandlungstag, 30.7.1964

Vernehmung des Zeugen Otto Dov Kulka

Vorsitzender Richter:

Herr Kulka, sind Sie damit einverstanden, daß wir Ihre Aussage auf ein Tonband nehmen zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ich bin damit einverstanden.

Vorsitzender Richter:

Einverstanden. Sie sind von Theresienstadt nach Auschwitz gekommen, nachdem Sie im Herbst 42 mit Ihrer Mutter zusammen nach Theresienstadt gekommen sind.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das ist wahr.

Vorsitzender Richter:

Das ist wahr. Als Sie nach Auschwitz kamen, die erste Frage, wurde dort auf der Rampe selektiert? Sie wissen, was wir darunter verstehen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Als wir an der Rampe angekommen sind – und ich muß hier sagen, daß 5.000 Deportierte in diesem Transport gewesen sind – ist keiner von uns selektiert worden in dieser Weise, die ich nachträglich dann in Birkenau oder Auschwitz II gekannt habe. Alle zugehörigen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Personen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Personen sind in ein besonderes Lager [+ gekommen], wo keine anderen Häftlinge waren außer einem, der als Lagerältester genannt war. Ich kann dem Gericht eine Deportationsliste der 5.000 Personen vorlegen, wo auch mein Name erscheint. Ich habe sie mitgebracht; ich habe sie in meinem Archiv gefunden. Von dieser Liste habe ich das erste Blatt, das letzte Blatt und das Blatt, wo mein Name erscheint. Wenn Sie es wollen, vielleicht, kann ich es anbieten

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nun, legen Sie mal vor, vielleicht. [...]

Zeuge Otto Dov Kulka:

[Pause] Einen Moment. [Pause] Ja, das ist das Blatt. Und wollen Sie auch die anderen Blätter?

Vorsitzender Richter:

Ja, wenn Sie sie da haben, zeigen Sie uns [unverständlich]

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja, das erste und noch einige. Meinem Namen nach hieß ich damals Deutelbaum. [...] Mein Name Kulka wurde nach dem Krieg zum Gedächtnis meiner Mutter angenommen. Ich kann Ihnen meine Geburtsurkunde mit der Änderung des Namens [...]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Also, hier sehe ich: Schön, Elly. Das war Ihre Mutter, nicht?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Meine Mutter, ja. [...]

Vorsitzender Richter:

Und die hatte die Nummer 4.539. Und da steht da hinten ein weiteres Datum – das ist das Geburtsdatum, 1.6.04.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und dann steht eine weitere Zahl: 642 Bh.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das ist die Transportnummer nach Theresienstadt, weil die Liste aus Theresienstadt stammt.[1]

Vorsitzender Richter:

Und dann kommt: Deutelbaum, Otto.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das bin ich.

Vorsitzender Richter:

Das sind Sie. Schüler, 16.4.33.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Und 643 Bh, das ist also die folgende Nummer nach ihrer Mutter.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und diese anderen Blätter, die Sie mir gegeben haben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Der erste ist Nummer 1, der letzte mit der Nummer 5.000.

Vorsitzender Richter:

Nummer 1: Kurt Frey, Chauffeur, und der letzte, 5.000: Lichtenstern, Ruth Dora.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Auf dem ersten Blatt ist auch einer, der in der Lagerleitung, der Häftlingsleitung und Leiter des Kinderblocks [+ war], auf dem ich war, Alfred Hirsch.

Vorsitzender Richter:

Hirsch?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Hirsch, Alfred, der danach [...] Selbstmord bei der ersten Liquidation des Lagers begangen hat. Das ist die Liste der sogenannten

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Und wo haben Sie diese Originale her?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Es ist dort bestätigt auf der Rückseite, daß diese aus dem Archiv Yad Vashem in Jerusalem stammen, und zwar die Kopien, die sich dort befinden.

Vorsitzender Richter:

Aus einem Mikrofilm?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Aus einem Mikrofilm, ja – die Originale stammen aus dem Theresienstädter Archiv –, der nach dem Kriege gefunden wurde und nachträglich nach Prag ins Zentralarchiv des Ministeriums des Innern gekommen ist.

Vorsitzender Richter:

Was heißt Yad Vashem?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Yad Vashem, das ist das Zentralinstitut für die Erforschung der Geschichte der Juden in [...] nationalsozialistischer Zeit.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Ja. Sie sagen also, Sie sind mit 5.000 Menschen dorthin gekommen, und zwar war das am 9. September 1943. Eine Selektion fand nicht statt, sondern der gesamte Transport mit Frauen und Kindern wurde sofort in dem sogenannten Familienlager nach Birkenau untergebracht. Das ist richtig?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und Sie sind dort bis wann geblieben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

In dem Lager bis zu seiner Liquidation, das war im Juli 1944.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie nicht einmal gesagt, Sie seien bis zum 18. Januar 45 dort

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja, bis 18. Januar 45 bin ich im sogenannten d- Lager oder Stammlager

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ach so, ja, jetzt habe ich Sie verstanden. Also bis Juli 44 waren Sie in dem Theresienstädter Lager, in dem sogenannten Familienlager, und kamen dann noch in das Lager d bis zur Evakuierung am 18.1.45.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ganz genau.

Vorsitzender Richter:

So war es. Sie hatten gesagt, daß die Verhältnisse, die in diesem sogenannten Familienlager waren, noch verhältnismäßig – gerechnet an den übrigen Verhältnissen – erträglich gewesen seien. Auch die Verpflegung sei einigermaßen gewesen, und man habe sogar Kulturveranstaltungen für die Kinder des Familienlagers zugelassen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Dazu muß ich zugeben, daß zwar die Lebensbedingungen besser geworden sind – aus einem Zweck, den niemand von uns damals verstehen konnte –, dagegen aber wurde auch die Vernichtung oder die Liquidation der Zugehörigen dieses Transportes in viel grausamerer Form [+ durchgeführt]. Das heißt, alle diese 5.000 Leute, fast ohne Ausnahmen, auch die Arbeitsfähigen, sind nach sechs Monaten in den Gaskammern vernichtet worden.

Es ist auch etwas nicht ganz genau, was hier vorgelesen worden ist: daß die kulturelle Tätigkeit zugelassen wurde. Sie wurde sogar gefördert

Vorsitzender Richter: [unterbricht]:

Würden Sie ein bißchen mehr zum Mikrofon sprechen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Entschuldigung. Ja. Sie wurde sogar gefördert und zwar hauptsächlich von dem Lagerführer Schwarzhuber, dem Lagerarzt Mengele und noch einem Lagerarzt, der fast immer mit ihm in den Kinderblock gekommen ist. Und diese haben sich sehr interessiert für alles, was dort [...] geschah. Ich kann hier sagen, daß das Besondere in diesem Lager, daß die Leute in dieser Atmosphäre die menschliche Würde behalten haben, sich auswirkte auch auf die SS- Leute, die an diesen Veranstaltungen teilgenommen haben. Es wurde dort Kammermusik gepflegt, es wurde sogar eine Kinderoper einstudiert, und fast alle, sogar die primitivsten von diesen SS-Leuten, kamen dorthin. Sie wurden, ich möchte sagen, wie fasziniert fast angezogen; und nachdem sie an diesen Veranstaltungen teilgenommen haben, haben sie [+ diese Opfer] kaltblütig ermordet. [...]

Erlauben Sie mir bitte noch eine Bemerkung wegen diesem zweiten Lagerarzt, der mit [...] Doktor Mengele zusammen gekommen ist. Sein Name ist mir im Moment – also nicht im Moment, aber ich kann mich nicht mit Sicherheit an ihn erinnern. Seine Gestalt ist mir sehr gut in Erinnerung.

Vorsitzender Richter:

War es Doktor Thilo?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, es war nicht Doktor Thilo.

Vorsitzender Richter:

Entress?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Er war ungefähr des Alters wie Doktor Mengele selbst, etwas stärkerer Körperbau.

Vorsitzender Richter:

Klein?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich kann nicht mit Sicherheit den Namen sagen.

Vorsitzender Richter:

Na ja, Sie wissen es nicht mehr, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Jedoch, den Zeitungen nach habe ich gelesen – und ich will hier ganz scharf zwischen dem [...] trennen, was ich sage meiner Erinnerung nach –, daß es nicht ausgeschlossen ist, daß es der Angeklagte Lucas war. Dem Namen nach ist es möglich, daß er es war. Ich glaube, wenn ich sein Bild aus dieser Zeit sehen könnte oder wenn ich ihn sehen könnte – und er hat sich nicht viel verändert –, ich bin fast sicher, daß ich ihn erkenne. Wenn es Ihrer Meinung nach eine Wichtigkeit für das Gericht hat, kann ich auch ein anderes Detail

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nun, wir werden Ihnen nachher einmal Gelegenheit geben, sich die Angeklagten anzusehen.

Wir wollen zunächst einmal in groben Zügen Ihre damalige Anwesenheit in Auschwitz erörtern. Sie waren also in dem sogenannten Theresienstädter Lager. Würden Sie uns auf dieser Karte einmal zeigen, wo das gewesen ist?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, bitte. [...] Also das war der Abschnitt BI, wo die Frauenlager waren. Das war der Abschnitt BII, wo auch das Theresienstädter Lager war, und das war der unfertige dritte Abschnitt, den wir »Mexiko« genannt haben. Das Lager BIIb, das sogenannte Theresienstädter Lager, war nach dem a-Lager, dem sogenannten Quarantänelager – das war hier. Und hier diese zwei Reihen von Blocks waren das

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Theresienstädter Lager

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Und der Kinderblock war einer der letzten. Hier, an dieser Fläche, pflegten wir zu spielen, wir Kinder, wenn wir frei waren, sogar bei dem Zaun, und beobachteten die Vorgänge an der Rampe. Dasselbe kann ich auch sagen – wenn ich schon hier stehe – daß ich nachher in das sogenannte d-Lager, Stammlager, überwiesen worden bin, wo ich erstens in dem Strafkompanieblock – das war hier oder hier ungefähr – war bei dem Blockältesten Bednarek und dann als Schlosserlehrling in einer sogenannten [...] Schlosserwerkstatt bei einem Holzhof, der an diesem Ort war. Und auch von hier habe ich in freien Stunden sehr oft – hier von diesem Ort – die Vorgänge an der Rampe beobachtet. Das möchte ich in diesem Moment

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ja, dann bitte nehmen Sie wieder Platz. Zunächst, als Sie kamen, wurden Sie vorübergehend in ein Quarantänelager versetzt?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Am Anfang, glauben Sie?

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, wir sind gleich – meinem Gedächtnis nach – nach BIIb, Theresienstädter Lager. Wir durften sogar nicht außerhalb des Lagers arbeiten; und alle Arbeit war der Aufbau dieses Lagers, das noch nicht fertig gebaut war.

Aber die Kinder, die sind in einem besonderen Block, wie schon gesagt, unter der Leitung des Erziehers Fredy Hirsch gewesen. Und dieser Block wurde auch das Zentrum des ganzen Lebens, hauptsächlich geistigen Lebens, und nachträglich auch das Zentrum der Beratungen der jüdischen Blockältesten und der jüdischen Leitung, wo auch die Widerstandsversuche oder Widerstandsvorbereitungen vor der Liquidation vorgenommen wurden.

Ich möchte vielleicht noch eine Sache hier bemerken, die vielleicht wichtig war: Alle Funktionäre sind in diesem Lager, außer dem Lagerältesten, der ein Berufsverbrecher seinem Winkel nach war

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Wissen Sie noch, wie er hieß?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das war der Arno Böhm, einer der Ältesten. Er war ein Deutscher, Nichtjude, und er trug, ich glaube, die Nummer 8, also einer der Ältesten und, seinem Ruf nach, der Grausamsten. Über seine Tätigkeit kann ich sprechen; und wenn es unwichtig [+ ist], möchte ich nicht [+ darüber] sprechen. Ich möchte nur sagen, daß im Gegensatz zum anderen Lager, das ich nachträglich beobachten konnte, wo die Funktionäre immer durch verschiedene Privilegien oder Terror ein Werkzeug der Nazi-, der SS-Leitung gewesen sind, alle diese Funktionäre und die Lagerleitung in diesem Lager ein verhältnismäßig erträgliches Leben ermöglichten und sogar, wie ich schon sagte, den Widerstandsversuch organisierten, bei dem einige auch getötet worden sind. Dazu werde ich noch kommen, wenn [...]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Herr Zeuge, ist es nicht so gewesen, daß Sie zunächst von Ihrem Transport aus in das Lager BIIa gekommen sind, in das Quarantänelager?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Zuletzt oder zuerst?

Vorsitzender Richter:

Zuerst.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich kann mich an dieses Detail nicht erinnern. Es kann sein

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Sie hatten einmal ausgesagt am 6. oder 7. März[2]

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja, ja, aber das war nicht am Anfang, entschuldigen Sie, sondern

Vorsitzender Richter:

Ah so, das war später, nachher.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Ich bin angekommen im September.

Vorsitzender Richter:

Jawohl, ganz recht. [...] Also Sie kamen sofort in das Theresienstädter Lager, im September 1943, und sind dort geblieben bis zur Liquidierung des Lagers. Sagen Sie bitte, hatten Sie vorher schon etwas davon gehört, daß da irgendwas im Gange war?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Bevor ich nach Auschwitz gekommen bin?

Vorsitzender Richter:

Nein, als Sie im Theresienstädter Lager waren, daß da die Leute eventuell vergast werden sollten?

Zeuge Otto Dov Kulka:

In den ersten Tagen, in denen wir in diesem besonderen Lager gelebt haben, sind einige von den älteren Häftlingen in das Lager gekommen, unter denen auch einer aus meiner Familie, also mein Stiefvater, war. Sie haben uns die ganze Wahrheit erzählt, daß sie es nicht verstehen, wieso wir nicht vergast worden sind. Aber sie hatten keinen Zweifel daran, daß uns dasselbe Schicksal bevorsteht wie anderen Häftlingen. Jedoch die Praxis von Auschwitz, der Selektionen und Vergasungen haben sie uns und besonders der Lagerleitung und dem Fredy Hirsch ganz klargestellt. Und ich muß hier wahrhaft sagen, daß wir, und hauptsächlich die älteren Häftlinge oder die Transportierten, es nicht glauben wollten, sogar den vier Krematorien gegenüber nicht, als wir in den ersten Tagen in Auschwitz gelebt haben. Danach, als wir die »Muselmänner« an den Lastkraftwagen – hauptsächlich aus dem Frauenlager – nackt und schreiend gesehen haben und auch die Vorgänge an der Rampe und den Rauch und das alles, was dazugehört, gesehen haben, glaubten wir, daß aus irgendeinem Grund, der uns ganz unverständlich war, wir privilegiert sind auf dieselbe Art wie die Häftlinge im Ghetto Theresienstadt.

Trotzdem, wie ich schon sagte, das alles blieb uns ein Geheimnis, so wie die ganze erste Vernichtung ein Geheimnis geblieben ist. Und ich glaube, daß das ganze Kapitel dieses Lagers bis heute nicht geklärt ist aus den Dokumenten – jedenfalls die ich kenne – oder den Zeugenaussagen, die ich kenne, nicht geklärt

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Werden kann. Herr Zeuge, hatten Sie nicht ein oder zwei Tage vor dieser Vergasung davon Kenntnis bekommen, daß diese Vergasung bevorstand?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Einige Tage vorher, das war Anfang März 1944, wurde uns gesagt – also allen Häftlingen – von dem Lagerführer, dem Schwarzhuber, glaube ich, daß die ersten Deportierten nach einem neuen Arbeitslager, und zwar, ich glaube, Heydebreck sollte es heißen, deportiert [...] werden sollen. Dagegen aber hat uns die Untergrundorganisation der Häftlinge durch eine Häftlingsfrau – ihr Name war Katharina Schlesinger –, die in der Kanzlei des Lagerältesten arbeitete, eine Warnung gegeben, daß der Transport »Sonderbehandlung« heißt. In der Lagersprache heißt das: restlose Vernichtung. Es wurden Beratungen unter den Häftlingen[+ durchgeführt], von denen jeder dort damals wußte, und es wurde sehr heftig diskutiert darüber, ob es wahr ist oder nicht. Einige wollten es glauben und wollten Widerstand [...] leisten. Dagegen hat aber der Lagerführer Schwarzhuber alle Häftlinge von diesem Transport als einen Beweis, daß sie auf Transport gehen, in das sogenannte Quarantänelager nach der Desinfizierung

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Und das war BIIa?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das war BIIa, ja. Und dabei waren fast alle, die es bezweifelten, daß hier eine Vernichtung bevorsteht, sehr geschwächt, und auch der Widerstandswille war geschwächt.

Vorsitzender Richter:

Geschwächt, ja. Da kamen sie allesamt in dieses Quarantänelager – oder Sie persönlich nicht?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich persönlich erkrankte einige Tage vor diesem Datum. Jedoch alles, was damals geschehen ist, konnte ich [...] miterleben, weil es sich herumgesprochen hatte, sogar sehr heftig, auch im Krankenbau.

Vorsitzender Richter:

Wo waren Sie denn im Krankenbau?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Im Krankenbau – der Block? Ich glaube, es war 32 oder so ungefähr

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Im b-Lager?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Es war ein Krankenblock, [...] ja, im b-Lager. Und als Beweis, daß die Leute auf einen Transport, Arbeitstransport gehen, wollte der Lagerarzt – oder die Lagerärzte und der Lagerführer – es bestärken und hat die Kranken [...] zurückgelassen. So hat er es versprochen. Ganz genau war es ja danach nicht, denn ich kam danach trotzdem in das a-Lager, aber wurde dann noch einmal zurückgeschickt. Das kann ich dann ganz genau schildern, [...] weil, es gehört zu der Vernichtungsaktion, an der sich einige der SS und Kapo beteiligten.

Vorsitzender Richter:

Etwa im März 1944 haben Sie durch Häftlinge davon Kenntnis bekommen, daß etwas Derartiges bevorstand, und sind dann am 6. oder 7. März in das Quarantänelager verlegt worden; das heißt, Sie persönlich nicht, aber wohl die anderen, die in dem Lager waren.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nicht alle, sondern nur die Zugehörigen des ersten Transportes, [...] weil dazwischen noch ein Transport gekommen ist, und der ist [...] geblieben.

Vorsitzender Richter:

Und Sie waren im Krankenrevier und sind deshalb zunächst nicht ins Quarantänelager gekommen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Am Tage nicht, nein. [...] An diesem Tage nicht.

Vorsitzender Richter:

Aber einige Tage später.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, es war in dieser Nacht. Wenn Sie wollen, kann ich diese Sache ganz genau erörtern.

Vorsitzender Richter:

Ja, bitte schön, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Es war am Nachmittag dieses Tages, nachdem wir die Postkarten – zu den Postkarten komme ich, wenn Sie wollen, nachher. Wir sind in diesem Revier gelegen und wußten, daß die Zugehörigen unseres Transports schon im a-Lager sind. Nachmittags, so ungefähr um fünf, sechs, kamen einige Boten der SS-Leute, die einige von unseren Kranken, die Zugehörige dieses Transportes waren, ausgerufen und sie in das a-Lager überführt haben, obwohl sich die Häftlingsärzte geweigert haben und auf das Wort des Lagerführers und der Lagerärzte sich gestützt haben. Ungefähr um acht Uhr am Abend haben wir Lastkraftwagen gehört, die in das [...] Quarantänelager fuhren. Es war eine sogenannte Lagersperre, und niemand konnte heraus. Trotzdem kletterten die Häftlinge und das Personal des Reviers zu dem Dach, wo kleine, schmale

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Luken waren.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, und wollten alles, was geschieht

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Vorging, sehen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Ungefähr um neun Uhr könnte es [+ gewesen] sein, wurden auch ich und noch zwei andere Häftlinge ausgerufen. Obwohl wir krank waren, mußten wir uns anziehen und wurden in das a-Lager geführt. Wir gingen heraus aus dem Tor, kehrten rechts und wieder rechts zurück in das Quarantänelager

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Quarantänelager a.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und wir sind entlang der Lagerstraße geführt worden bis zum Ende, wo der Kinderblock gewesen ist.

Vorsitzender Richter:

Das war dann nach der Rampe zu?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das war in Richtung der Rampe. Es war etwas sehr Sonderbares an dieser ganzen Nachtszene. Es wurden einige Lastkraftwagen zu den Blocks [gefahren], und die Leute sollten auf diese Wagen [...] aufsteigen. Ich habe gesehen, daß in einigen Fällen die Leute sich geweigert haben.

Und ein Fall blieb mir ganz scharf in der [...] Erinnerung, und zwar der Fall des Blockältesten namens Bondy: ein großer, starker Mann, der in diesem Moment, in dem wir an dem Block [...] vorübergingen, die Leute angerufen hat, sie sollen nicht aufsteigen. In der tschechischen Sprache hat er sie angerufen, und es war ein großes Geschrei dort und eine Schlägerei, weil er von den Kapos, die dort

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Tätig waren [dazwischen gesprochen]

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Sehr geschlagen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

worden ist.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und dabei standen auch SS-Leute mit

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Stöcken

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, nicht mit Stöcken, sondern mit Revolvern. Aber sie haben ja nicht geschossen, sondern dieser Häftling, den ich gesehen habe, wurde von den zwei oder drei Kapos, unter denen ich nachträglich den Blockältesten Bednarek erkannt habe. Damals habe ich ihn dem Namen nach nicht gekannt, und nur seine Gestalt ist mir in Erinnerung geblieben. Bondy wurde heftig am Kopf geschlagen und dann wahrscheinlich an die Seite dieses Blocks gelegt, denn auf dem Weg zurück habe ich ihn dort liegen gesehen. Einer der SS-Leute, der dem beiwohnte, war der Blockführer Baretzki, dessen Name ich damals – ich bin fast sicher, schon damals – gekannt habe. Denn wir Kinder haben von fast allen, die in unser Lager gekommen sind, den Namen und sogar den Nicknamen gekannt. Es waren die SS-Leute Buntrock, der damals der Rapportführer war, der Blockführer Schenk und noch einige, die ich dem Namen nach hier nennen kann.

Das war an diesem Block. Diese Szene blieb mir sehr scharf in der Erinnerung: Ich muß sagen, daß es etwas – wie soll ich sagen –, etwas Gespenstisches war, weil die Reflektoren von einem der Lastkraftwagen ganz auf den Block gerichtet waren, und der zweite Wagen hat mit der Rückseite bei dem Block gestanden.

Das zweite, ganz Auffällige war dabei, daß von verschiedenen Blocks ein Gesang zu hören war. Ich weiß nicht, ob es aus der Erregung oder ein Widerstandswille war – denn es war doch verboten, und die Kapos schrien, sie sollen aufhören. Die Häftlinge haben fast alle gesungen. Es waren hebräische Lieder und verschiedene tschechische Lieder. Und einige sangen damals sogar die Hymne, die tschechische Hymne und die hebräische Hymne Hatikwa in diesem Lager.

Wir sind die Straße entlang bis zum Ende des Lagers gekommen, und ähnliche Szenen konnten wir noch bei einigen Blocks sehen; jedoch nicht vor allen sind schon die Lastkraftwagen gestanden. Namen kann ich nicht nennen, nicht von den Opfern und nicht von den Mördern.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Tätern, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, Tätern, möchte ich sagen, ja. – Bis wir zum Kinderblock gekommen sind. Dort stand der Lagerführer, der Lagerarzt Mengele und der zweite Lagerarzt und eine Gruppe der Häftlinge, die schon vor uns aus dem Krankenbau gebracht worden sind. Es war eine heftige Diskussion zwischen diesen SS und einigen unserer Lehrer aus dem Block, die herausgelaufen sind und wieder zurückgegangen sind. Den Fredy Hirsch jedoch konnten wir nicht sehen, was mich sehr gewundert...

Vorsitzender Richter:

Das war der Lagerälteste?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, das war der Jugenderzieher, aber er war der Haupt- oder der geistige

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Führer.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Führer, ja – wenn ich den Namen schon hier benützen muß – dieses Transportes.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Die, die sich um die Kinder gekümmert haben, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich kann nicht ganz genau sagen, was hier behandelt wurde, aber demnach, daß sie auf unsere Gruppe gezeigt haben und sehr erregt gesprochen haben, glaube ich, daß es sich um das Versprechen des Lagerarztes

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Die Kranken zurückzulassen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Und tatsächlich, nach ungefähr einer halben Stunde – das kann ich ja nicht ganz genau sagen, weil ich sehr erregt war – machte der Lagerälteste – oder es war der Lagerarzt, das kann ich nicht sagen – eine Bewegung unserer Gruppe gegenüber. Und wir sind zurückgeführt worden, die ganze Gruppe, nicht nur wir drei, in das b-Lager zurück, in den Krankenbau.

Ja, noch eine wichtige Sache: Wir haben die Lastkraftwagen mit den Häftlingen aus dem Lager gesehen, die nicht in die Richtung der Krematorien gefahren sind, sondern rechts und hinter dem a- Lager in Richtung der Rampe gefahren sind. Und dadurch glaubten auch wir, die das beobachteten, daß sie nicht in den Tod gehen.

Vorsitzender Richter:

Würden Sie noch mal sagen: Sie sind gefahren worden von dem a-Lager wohin?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Von dem a-Lager zurück in das b-Lager.

Vorsitzender Richter:

Sie selbst?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich selbst.

Vorsitzender Richter:

Aber die anderen Häftlinge, die vergast

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ah, nein, von dem a-Lager heraus. Dann kehrten sie rechts und hinten an der Straße, in der Richtung der... Kann ich das vielleicht

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ja, wenn Sie es zeigen wollen, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

[Pause] Also das a-Lager war hier.

Vorsitzender Richter:

Ja, ganz recht.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und ich kam von diesem b-Lager hinein und entlang dem Lager bis ungefähr hierher. Nein, hier war die Straße, entschuldigen Sie, das war nur eine Reihe, hierher ungefähr. Die Szene mit der Ermordung war, ich glaube, hier ungefähr – mit Genauigkeit kann ich es jetzt nicht sagen. Die Lastkraftwagen sind heraus aus dem Lager gefahren und nicht in die Richtung der Krematorien, sondern in diese Richtung gefahren, und hier haben wir sie fahren sehen. Erst nachträglich sind wir informiert worden von alten Häftlingen und von den Kapos, die dort teilgenommen haben, und von einem der Heizer des Krematoriums namens Filip Müller, daß diese Leute tatsächlich vergast worden sind und daß die Lastkraftwagen in dieser Richtung in die Krematorien oder wahrscheinlich – das weiß ich nicht, hier war eine Straße – hier zurückkehrten in diese Krematorien. Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen; nur das weiß ich, daß er gesagt hat, daß sie aus der Rampe in die Krematorien gefahren sind. Ich persönlich hörte es von ihm viel später. Aber er hat es dem anderen Häftling, dem Häftling Erich Kulka, meinem Stiefvater, erzählt. Und nach einem Tag hat er uns diese Sache ganz genau erzählt, weil unter den Ermordeten alle meine Kameraden aus dem Block waren und die Mutter, meine Mutter und [ihre ganze] Familie und... Ja, dabei möchte ich [unverständlich] [Pause]

Vorsitzender Richter:

Und Sie kamen dann zunächst wieder in den Krankenbau auf Block B?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich kam in den Krankenbau, und dort sind wir mit Fragen überfallen worden von anderen Häftlingen, und sie fragten uns, was dort [...] geschehen war. Wir erzählten, und sie sagten: »Wenn es Lastkraftwagen sind, dann ist es sicher, daß sie in den Tod gehen.« Wir bestritten das, weil wir die Richtung, eine andere Richtung

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Gesehen hatten.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, jedoch haben wir auch die verzweifelte

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Gestik der Leute gesehen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, gesehen. Nachträglich lernten wir auch andere Sachen; daß zum Beispiel der Jugendleiter und der Erzieher Fredy Hirsch, der auch die Widerstandsvorbereitungen organisierte, im letzten Moment Selbstmord gemacht hat, weil er wollte nicht ein Massaker der Kinder und der Frauen im Lager sehen. Ja, ich glaube, das kann ich über diese Sache hier sagen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Sie kamen dann, nachdem Sie aus dem Krankenbau herauskamen, in welchen Block?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Dann kam ich wieder zurück in den Kinderblock. Im Kinderblock, das ist vielleicht erstaunlich, blieb außer dem Fehlen einiger hundert Kinder dort alles beim alten. Das heißt, die Erzieher – teilweise sind sie geblieben, und auch ein Teil der Kinder ist dort geblieben – haben in derselben Art

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Weitergelebt und gehandelt, wie bisher auch.

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja. Sogar die Kinder haben sie erzogen. Nur mit einem Unterschied: Von hier an wußten sie wie viele Tage ihnen noch geblieben sind, und auch die Kinder, wir alle, weil wir gewußt haben, daß sechs Monate nach der Deportation des ersten Transportes oder des zweiten Transportes wieder ein dritter gehen wird, da es eine Art von periodischen Deportationen aus Theresienstadt [+ gab]. Und nach einer gewisser Zeit oder wenn eine Aufgabe erfüllt war, die wir nicht [...] kannten, sind sie umgebracht worden. Trotzdem – und das kann ich nicht verstehen – wurden die Kinder erzogen.

In dieser Zeit lernte ich erstmals – das ist mir in der Erinnerung geblieben – die Geschichte von Thermopylai [+ kennen] oder die Taten der Makkabäer. Und ich nahm teil an einem Gesangschor sogar, in dem mit uns einer der Häftlinge namens Imre – seinen anderen Namen weiß ich nicht mehr – die Ode aus der Neunten Sinfonie von Beethoven »An die Freude« von Schiller [+ einstudierte]. Ich wußte damals nicht, was es bedeutete und was es war. Und erst lange Zeit danach, als ich schon im anderen Lager war und alles dieses schon vorbei und alle diese vernichtet worden waren, habe ich eine Mundharmonika gefunden und diese Arie gelernt

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Die Melodien nachgespielt.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und einer der Häftlinge erzählte mir, was es bedeutet. Ich weiß nicht, ob es eine Heldentat des [geistigen] Widerstandes seitens der Erzieher damals war oder ob es ein absurder Akt war, der vielleicht nur auf dieser Ebene eine [geistige] Heldentat sein kann, wenn die Leute

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

So viel Kraft hatten, daß sie in dieser Zeit noch das leisten konnten. Das wollten Sie wohl sagen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und vielleicht noch mehr: Daß sie im Ebenbild Gottes die Kinder und die Menschen erziehen, und im Geiste dieser Worte erziehen wollen. Das glaube ich. Ich war ja nicht der Erzieher, ich war das Kind. Und das alles konnte ich mitmachen, aber nicht immer ganz gut verstehen.

Vorsitzender Richter:

Sind Sie dann in das Lager BIId gekommen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, damals noch nicht. Das Familienlager bestand noch einige Monate weiter. Und zwar bis... Wir wußten ganz genau, daß der zweite Transport noch drei Monate hat, bis die Zeit der sechs Monate vorbei ist. Wie ich schon gesagt habe, das Lagerleben ging weiter, und wir mußten sogar Postkarten an unsere Bekannten in Theresienstadt und ins Ausland schreiben. Und sogar vor der ersten Vernichtung mußten wir Postkarten – es war ungefähr um den 6. oder 7. März – mit einem Datum vom 25. März [...] [+ schreiben], das heißt, [+ mit einem] falschen Datum. Und nachdem diese Karten Nachrichten über die Vernichtung dieser Leute ins Ghetto Theresienstadt gekommen sind und diese Karten mit dem Datum des Verstorbenen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Vorgezeigt wurden, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Ich habe einige Originale von diesen Karten, die angekommen sind mit der Adresse: Arbeitslager Birkenau bei Neu-Berun, nach dem Kriege gefunden und hier als beglaubigte Fotokopien mitgebracht. Eine von diesen Karten [trägt] dieses Datum, 25.3. Und ich muß hier sagen, nachdem ich es gelesen habe, daß ein Satz ganz deutlich die bevorstehende Gefahr

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Vergasung.

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Andeutet. Es ist hier geschrieben – wenn ich den Satz lesen kann, aus dem Standardinhalt: »Bin gesund, meine Schwester Kott hat mir auch etwas Nachricht gegeben.« Dann schreibt er: »Besucht öfters meinen Sohn Jirka in Straßnitz.« [3] Das ist im Jahre 44. Sein Sohn – wenn er ein Jude war, ist es schwer anzunehmen, daß er noch im Protektorat war. Aber Straßnitz, das ist der Ort, wo der jüdische Friedhof ist, wie jeder Besucher der Stadt Prag heute weiß, wo auch der Dichter Franz Kafka bestattet ist. Es ist ein klarer Hinweis auf den Tod, wo wahrscheinlich sein Sohn bestattet ist, also: »Denkt an die Toten!« Dann schreibt er: »Ich danke euch nochmals von Herzen und verbleibe«, der und der. Die Leute waren nicht sicher, aber die Angst war damals sehr groß. Ich kann dieses Dokument, das aus Auschwitz stammt, und noch einige Karten vom Dezember vorher dem Gericht vorlegen.

Vorsitzender Richter:

Danke schön. Herr Zeuge, wie lange sind Sie dann noch in diesem b-Lager geblieben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

In diesem b-Lager bin ich bis zu seiner endgültigen Liquidation im Juli, Anfang Juli 1944, geblieben. Dazwischen kam immer der Lagerarzt Mengele in den Kinderblock und in den Krankenbau und auch der zweite Lagerarzt mit ihm. Und außer der besonderen Pflege oder des besonderen Interesses für die Kinder hat er sich auch besonders interessiert für die Zwillinge, die er ausgewählt hat, und verschiedene ärztliche Versuche, die er im Krankenbau gemacht hat. Das konnte ich auch beobachten oder darüber hören von den Ärzten, wenn ich am Krankenbau gewesen bin. Einzelheiten kann ich zugeben, wenn Sie dann Interesse haben.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich kann ihnen jetzt sagen, daß bis Juli, Anfang Juli, wieder die Vernichtung, die uns erschien wie eine regelmäßige schon, unternommen wurde. Es wurden wieder Vorbereitungen mit Hilfe der Häftlinge aus anderen Lagern [+ getroffen], nicht ohne Widerstand in den Tod zu gehen. Und es wurde primitiver Sprengstoff oder Brandstoff dort geliefert. Das Zentrum war wieder im Kinderblock, und darüber wußten wir ganz klar [+ Bescheid]. Und was ich hier bezeichnen kann: Keiner aus diesem Lager hatte Angst, daß ihn jemand verrät. Es wurde ganz öffentlich über diese Sache verhandelt und gesprochen.

Die Liquidation – ich werde es in Kürze sagen – wurde damals aber nicht in dieser Weise durchgeführt, daß alle vernichtet worden sind, sondern es wurde nach dem Versprechen des Lagerführers, dem keiner mehr glauben wollte, die erste Gruppe der Männer, die ausselektiert waren, auf die Waggons aufgeladen und vor den Augen des ganzen Lagers, das sich überzeugen konnte, aus Auschwitz wegtransportiert.

Es wurde damals eine Reihe von Selektionen aller Häftlinge durchgeführt, und die Arbeitsfähigen sind in dieser Weise in andere Lager geschickt worden. Also wir wußten ja, was es bedeutet. Und ich habe mich an den Lagerarzt Mengele damals gewandt und bat ihn, er soll mich in den Transport der Arbeitsfähigen schicken. Damals bekam ich einige Fußtritte und wurde in dieser Weise abgewiesen. Trotzdem habe ich mich in die Reihe der Arbeitsfähigen mit einem meiner Bekannten hineingeschlichen und bin sogar aus dem Lager herausgekommen. Und dort wurde ich von dem SS-Rapportführer Buntrock beobachtet, aus der Reihe herausgezogen und ins Lager zurückgeschickt. Am Ende der Selektionen, an denen sich hauptsächlich der Lagerarzt Mengele, der zweite Lagerarzt und der Lagerführer Schwarzhuber beteiligten und denen einige der SS dort assistierten, wurde noch eine Gruppe von ungefähr 80 Jugendlichen ausgewählt, die in ein anderes Lager kamen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Kommen sollten.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Jedoch, ich war damals erst elf Jahre alt, elf Jahre und drei Monate, und kam nicht durch. Trotzdem schlich ich mich in diese Gruppe und ging mit diesen Jugendlichen zum Tor. Dort wurde ich wieder von diesem Buntrock, den wir mit dem Nicknamen »Bulldog« genannt haben – das war ein riesiger, starker Mann –, angehalten. Und er fragte mich: »Wie alt bist du?« Ich sagte: »zwölf«, obwohl es ja nicht wahr war. Nun, damals sah ich schon, daß es versagt, der letzte Versuch, auch hier. Und dann fragte er mich: »Warum lügst du?« Ich antwortete nicht, weil es mir schon klar war, was sein Urteil ist. Dann, ich weiß nicht, warum – war es etwas Menschliches in ihm oder wollte er keine administrativen Komplikationen dort haben; oder wahrscheinlich war es wie ein Ungeziefer für ihn, es war unwichtig, wo der Häftling seinen Tod findet, auf der Seite oder auf jener Seite –, machte er mit der Hand eine Bewegung, sagte: »Hau ab!« zu der Gruppe der Jugendlichen.

Vorsitzender Richter:

Und Sie waren dabei?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, wegen mir machte er »Hau ab.« Und ich – in seiner Sprache – »haute ab« zu dieser Gruppe, und wir gingen in die Richtung der Krematorien. Aber dann sind wir in die sogenannte Sauna gekommen, dort gebadet worden und ins sogenannte Stammlager BIId gekommen. Dort sind wir in einen Block der Strafkompanie gekommen. Unser Blockältester war der Blockälteste Herr Bednarek.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Entschuldigen Sie, noch einen Satz. Zu meiner Erschütterung erkannte ich in diesem Mann den Mann, den ich in dieser Nachtszene bei der Ermordung und Unterdrückung des Widerstandsversuches im a-Lager gesehen habe. Also es sind verschiedene Einzelheiten, die ich zugeben möchte, wenn Sie Fragen haben.

Vorsitzender Richter:

Ja. Wir möchten jetzt zunächst einmal eine Pause einlegen, es wird auch für Sie nicht unangenehm sein, sich ein bißchen zu erholen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Leider.

Vorsitzender Richter:

Wir können heute nicht Punkt zwei anfangen, sondern erst um Viertel nach zwei, weil ich in der Zwischenzeit hier mich noch wegen dieser einen Zeugenvernehmung besprechen muß. Die Sitzung wird also jetzt unterbrochen und um zwei Uhr 15 hier fortgesetzt.

Vorsitzender Richter:

dieses Vorkommnisses bei der Verladung des ersten Transportes für die Gaskammern. Da hatten Sie doch gesagt, daß einer der Gefangenen gerufen hat, man solle sich widersetzen. Und daraufhin wäre er niedergeschlagen worden. Sie sagten: »Ich habe in der Gruppe derjenigen, die auf ihn eingeschlagen haben, auch erkannt den Mann, den ich später als Bednarek kennenlernte, und außerdem [...] von den SS-Leuten den Baretzki.« Nun wollte ich diese Szene gern noch etwas näher erläutert haben. Haben Sie gesehen, daß Bednarek eingeschlagen hat auf diesen Mann?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das habe ich ganz klar gesehen: Mit einem Stock, den er in seiner Hand hatte, stieß er wütend auf ihn ein und hat ihn auf den Kopf und andere Teile seines Körpers geschlagen. Der Baretzki, der hier beiwohnte, half mit seinem Revolver, wie ich gesehen habe, der Aufladung der Opfer nach, nachdem dieser Widerstandsversuch unterdrückt worden war.

Dazu möchte ich noch sagen, daß der Blockälteste Bednarek zusammen mit anderen Kapos, die zu dieser Aktion berufen waren, aus dem Lager gekommen ist. Ich weiß auch, daß kurze Zeit danach, und noch lange danach, im Lager erzählt wurde, daß einer dieser Kapos namens Hans Röhrig, ein Deutscher, Nichtjude, sich weigerte, an dieser Aktion teilzunehmen. Und als Strafe wurde er seiner Funktion entkleidet und in die Strafkompanie geschickt. Aber einige Tage danach, als ein alter Häftling, ist er davongekommen. Und im Gegenteil: In den Augen der Häftlinge hat er viel gewonnen. Dies weiß ich nur dem Erzählen nach, aber es war sehr verbreitet unter den Häftlingen und hat den Häftlingen auch geistig

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Einen gewissen Auftrieb gegeben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Es war im Zusammenhang mit dieser Aktion, an der der Blockälteste Bednarek teilgenommen hat und sich aktiv beteiligte.

Vorsitzender Richter:

Das haben Sie von Bednarek gesehen, und bei Baretzki habe ich Sie so verstanden: Er hat, nachdem der Widerstand gebrochen war, nachher noch mitgeholfen, daß die Leute auf die Wagen verladen wurden

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja, er hat die Leute bedroht [...] mit seiner Pistole, sie haben aufgeschrien, und sie mußten auf den Lastkraftwagen aufsteigen, und in dieser Richtung hier sind sie gefahren [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Also Baretzki selbst hat nicht geschlagen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Bei dieser Angelegenheit nicht.

Vorsitzender Richter:

Bei dieser Angelegenheit nicht. Und wissen Sie, ob dieser Mann, den Bednarek damals geschlagen hat, nachher gestorben ist?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich weiß nur, daß er, nachdem wir zurückgegangen sind, in der Nähe dieses Blocks gelegen hat, ohne sich zu rühren. Ich nehme an, daß er erschlagen worden war. Eine ärztliche Untersuchung ist wahrscheinlich damals nicht unternommen worden, vor dem, daß alle anderen in den Tod gebracht worden sind. Jedenfalls, ich kann nur bezeugen, was ich gesehen habe.

Vorsitzender Richter:

Ist er denn nicht auf die Wagen geladen worden mit den

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Damals noch nicht, wahrscheinlich [...] nachträglich, als auch die Toten gesammelt worden waren. Ich bin nicht bis zum Ende der Liquidation dort geblieben, sondern zurück ins Lager geführt worden.

Vorsitzender Richter:

Herr Zeuge, Sie haben uns dann weiter gesagt, daß Sie zunächst zurückgekommen wären in das Lager IIb und daß Sie dort noch einige Zeit geblieben sind, bis Sie dann schließlich mit einem Transport von etwa 70 jungen Burschen in das Lager BIId überführt worden sind. [...] Nun sagen Sie bitte folgendes: Sie kamen wann in das Lager BIId?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich kam ins Lager BIId in der ersten Woche des Monats Juli. Es könnte gewesen sein ungefähr am 8. oder 10. oder so ungefähr; nicht später als der 12.

Vorsitzender Richter:

In der ersten Hälfte des Monats Juli 1944?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und blieben dort bis zur Auflösung des Lagers am 18. Januar.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Und – ja bitte.

Vorsitzender Richter:

Und dort lernten Sie auch den Blockältesten Bednarek kennen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, dort sind wir hingekommen, unsere ganze Jugendgruppe, in seinen Block, die sogenannte Strafkompanie.

Vorsitzender Richter:

Ja. Nun, haben Sie dort auch festgestellt, daß Bednarek Menschen mißhandelt oder getötet hat?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Ich muß hier sagen, daß er sich uns gegenüber verhältnismäßig – und ich sage es noch mal: verhältnismäßig – gut [...] verhalten hat. Und zwar: Wir mußten einen Rollwagen anstatt von Pferden ziehen und in verschiedene Lager fahren, und er hat die Aufsicht über uns gehabt. Er hat einige von uns geschlagen; also es war nicht

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Zusammengeschlagen, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, also wenn zum Beispiel der Wagen in der feuchten Erde steckengeblieben war. Aber ich kann es nicht Mißhandlung nennen. Außerdem hat er einem von unseren Burschen einmal drei oder vier – das weiß ich nicht ganz sicher jetzt, aber es war eine geringe Zahl – Hiebe [+ gegeben] ; er hat ihn auf das Gebau der Heizungsanlage hingelegt. Aber es war auch für ihn, obwohl es peinlich war, nicht gefährlich.

Nur eine Sache zwang er uns auf: daß wir anstatt der Lieder im Hebräischen, die für uns Ausdruck unseres Selbstbewußtseins [+ waren], Nazilieder lernten. Und wir mußten sie singen; und zwar war es nicht angenehm, wenn wir Juden oder jüdische Jugend ein Lied über das Judenblut, das aus den Messern tropft, singen mußten. Andererseits kann es sein, daß es Befehle waren, die er bekommen hat. Oder auf diese Weise wollte er als Volksdeutscher den Behörden gegenüber einen guten Eindruck machen. [...] Andererseits muß ich aber zugeben, daß wir gehört haben, daß er in der Vergangenheit in vielen Fällen Häftlinge mißhandelte und sogar tötete. Und wir nahmen es als eine natürliche Sache, weil anders ein Blockältester des sogenannten Strafblocks oder der Strafkompanie nicht sein konnte. Jedoch ich persönlich kann keine solche Tat als Zeuge [...] bestätigen.

Vorsitzender Richter:

Sie haben dann vorhin noch den Namen Baretzki genannt. Was war er, und woher kannten Sie ihn?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Baretzki war ein Blockführer, der auch im Theresienstädter Familienlager war, also ein SS-Mann. Ich sah ihn sehr oft in unserem Lager, und auch im Nebenlager glaube ich, ihn gesehen zu haben, im Nebenlager a – außer in dieser Nacht. Jedenfalls mit Sicherheit habe ich ihn in unserem Lager gesehen. Außerdem habe ich den Baretzki bei der Durchführung der Selektion, der großen Selektion, bei der Liquidation unseres Lagers gesehen. Und zwar nicht selektieren – also ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, daß er nicht selektiert hat, weil die Selektion in einem Block durchgeführt wurde. Und sie wurde durchgeführt hauptsächlich, soviel ich weiß, durch den Lagerarzt Mengele, den zweiten Lagerarzt und den Lagerführer [...] Schwarzhuber. Baretzki und der Rapportführer Buntrock halfen dort; ich weiß aber nicht, in welcher Weise. Es wurde uns gesagt von den Häftlingen, die vor diesen Ärzten defilierten, daß es von diesen Ärzten durchgeführt wurde. Dagegen kann ich ganz mit Sicherheit sagen, daß ich den Angeklagten Baretzki an der Rampe im Frühling 1944 und dann in dem ersten Monat oder den [+ ersten] Monaten, wo ich im d-Lager war – das heißt im Juli oder August – selektieren gesehen habe. Und diese Szene kann ich ganz genau schildern.

Dasselbe habe ich gesehen bei dem Lagerarzt Mengele und bei dem zweiten Lagerarzt, der mit Mengele immer in den Kinderblock gekommen ist und sich interessierte für die Erziehung dort und auch in den Krankenbau gekommen war. Diese drei habe ich hauptsächlich in dieser Zeit der ungarischen Transporte [+ gesehen] – damals war ein, wie ich das vielleicht ironischerweise nennen kann, »Hochbetrieb« an der Rampe, wo bei Tag und Nacht selektiert wurde.

Vorsitzender Richter:

Das war im Sommer 1944?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Frühling und Sommer.

Vorsitzender Richter:

Frühling und Sommer. Und Sie wollten uns das im einzelnen schildern, was Sie da gesehen haben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Es war fast dasselbe bei jedem, also die Art der Durchführung der Selektion war fast dieselbe bei ihnen, bei dem Baretzki wie bei dem Herrn Doktor [...] Mengele und dem zweiten Lagerarzt, den ich, [...] wie ich schon gesagt habe, mit Namen damals nicht gekannt habe, den ich vielleicht – es kann sein – erkennen kann. Zwar hat Mengele diese Aktion etwas eleganter als üblich in unserem Block durchgeführt, mit schnellen und leichten Gesten. Und man hat ihm viel geholfen, die Leute in die Reihe zu stellen, die Frauen und die Männer zu trennen. Der zweite Lagerarzt, der in etwas schwererer und langsamer Weise reagierte, hat diese Tätigkeit auf ähnliche Weise durchgeführt. Den habe ich wenige Male, aber einige Male trotzdem, gesehen. Und Baretzki mit einer bei ihm ganz gewöhnlichen Roheit und auch mit Geschrei. Jedoch hatte er es auch selbst, ohne daß ihm jemand bei der tatsächlichen Selektion geholfen hat, gemacht. Außerdem kann ich sagen, daß ich den Baretzki an der Rampe einige Male gesehen habe, auch ohne zu selektieren, mit einem Stock, [wenn er Aufsicht gehabt hat über] die Leute aus dem sogenannten Kanada, das heißt das Aufräumungskommando. Das habe ich beobachtet von dem freien Platz – ich kann es nennen Spielplatz, mit dem

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Für die Kinder.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, wir haben es so genannt, [+ weil wir] mit unseren Fingern die Drähte – es war eine Art von Sport – berührt haben. Aber während des Tages war es üblich, daß er nicht geladen war. Und jedenfalls für einen Moment wollten wir [+ es tun], das war eine Heldentat unter den Kindern, ja, am Tage. Und von dort haben wir das beobachtet.

Vorsitzender Richter:

Also Sie haben Baretzki auf der Rampe gesehen bei ankommenden Transporten, wenn auch Mengele und noch ein anderer Lagerarzt dabei waren. Und er hat dort genau wie die Ärzte auch eingeteilt, wer auf die linke und auf die rechte Seite gehen sollte.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, außer ihnen habe ich auch viele andere gesehen, die ich dem Namen nach und sogar der Funktion nach nicht nennen kann.

Vorsitzender Richter:

Ja. Und wodurch kannten Sie nun Baretzki insbesondere?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, also Baretzki kam in unser Lager, BIIb. Und wir kannten alle – ich glaube, daß es alle waren – die Blockältesten oder SS-Leute, die in unserem Lager Dienst gehabt haben. Besonders wir Kinder interessierten uns sehr für die Namen und sogar für die [Spitznamen] der Leute und für verschiedene Eigenartigkeiten, die sie charakterisierten. [Auch über] Baretzki wurde viel erzählt, über seine Roheit. Jedoch in unserem Lager habe ich außer dieser Nachtszene nicht viel davon gesehen. Es [gab einen], der viel roher erschienen ist wegen seiner Funktion. Das war der Rapportführer Buntrock. Aber wie schon gesagt, er war Rapportführer, und dieser war ein Blockführer. Und er kam in unserem Lager nicht viel in Kontakt mit den Leuten. Außerdem ist er in den Kinderblock gekommen und hat teilgenommen an den kulturellen Veranstaltungen wie fast alle anderen SS-Leute.

Vorsitzender Richter:

Wer, der Baretzki?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Der Baretzki und alle anderen.

Vorsitzender Richter:

Und andere SS-Leute. Haben Sie ihn dann wiedergetroffen in dem Lager d?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ich habe ihn getroffen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Und können Sie von dort aus irgend etwas sagen, was charakteristisch wäre?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ja. Eine Szene blieb mir sehr, sehr lebhaft und sehr scharf in Erinnerung. Es könnte wieder im Spätsommer 44 [+ gewesen sein], das heißt ungefähr einen Monat, nachdem wir in das d-Lager gekommen sind. Ungefähr um neun Uhr früh, nachdem die Häftlinge mit ihren Kommandos [+ zur Arbeit] herausgegangen waren, wurde eine Suche nach den aus der Arbeit...

Vorsitzender Richter:

Geflohenen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Geflohenen, ja, oder den Versteckten unternommen. Alle Häftlinge, die im Lager waren, wurden versammelt auf einem breiten Platz. Ich glaube, es war ungefähr in der Nähe des Krankenbaus oder etwas näher zu dem Ausgang.

Vorsitzender Richter:

Das war im Lager d?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Lager d. Und es wurde ein Häftling auf der Latrine gefunden, der nicht zur Arbeit gegangen ist. [...] Also ich werde sie nicht schildern, diese Anstalt. Er wurde dort hingebracht von einer Gruppe von zwei oder drei SS-Leuten, unter denen Baretzki war mit einem Stock. Und er behandelte diesen Häftling fast, ich möchte sagen, wie bei einem Soloauftritt. Es ist mir etwas Unnatürliches dabei in Erinnerung geblieben; wir sind in einer gewissen Entfernung gestanden. Er hat ihn auf den kahlen Kopf geschlagen. Und wir konnten ganz klar sehen immer, wie das Blut von dieser oder jener Seite an dem Kopf...

Vorsitzender Richter:

Herunterlief.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also ich hörte nicht die Schläge, ja. Es war ein gewisser...

Vorsitzender Richter:

Abstand.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Abstand. Und das war etwas so Unnatürliches. Er hat fast nicht geschrien, dieser Häftling. Und deswegen war es etwas...

Vorsitzender Richter:

Unnatürliches.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Dann ist er liegengeblieben. Und er sollte 50 Schläge auf einem besonderen...

Vorsitzender Richter:

Auf dem »Bock«.

Zeuge Otto Dov Kulka:

»Bock«, ja, bekommen. Und er mußte sie zählen. Am Anfang hat er einige gezählt, und dann ist er ganz...

Vorsitzender Richter:

Ruhig geworden.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, und ist dort am Ort liegengeblieben. Ich bin nicht sicher in diesem Moment, ob auch die Schläge von Baretzki gegeben wurden. Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Es ist mir ganz klar, daß [er ihn] mit diesem Gehstock schrecklich auf den Kopf geschlagen hat. Und wie ich schon gesagt habe, ist er dort liegengeblieben. Nachträglich, am Abend, [erfuhr] ich von einem der Häftlinge namens Kohlmann, der auf dem Krankenbau arbeitete, daß dieser Häftling...

Vorsitzender Richter:

Gestorben sei.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Gestorben sei. Dieser Kohlmann kam am Abend immer in die Schlosserwerkstatt, wo sich einige Häftlinge am Abend immer versammelt hatten. Unter denen [+ war] auch der Heizer aus dem Krematorium, Filip Müller, der uns immer Berichte über die Vorgänge im Krematorium gegeben hat. Diese Szene, die mir wegen einiger Einzelheiten – es war ein nebelhafter Morgen – und noch einiger solcher Kleinigkeiten sehr scharf in Erinnerung geblieben ist, kann, glaube ich, auch mein Freund aus der Jugendgruppe bezeugen, der bei mir damals gestanden ist: der Maler Jehuda Bacon aus Jerusalem. Ich glaube, das ist alles, was ich über diese Zeit

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Wann ungefähr hat sich das abgespielt mit diesem Häftling, den Bednarek zunächst auf den Kopf geschlagen hat und der nachher

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Das war der, entschuldigen Sie, Baretzki.

Vorsitzender Richter:

Verzeihung, Baretzki, ja. Ich habe mich versprochen. Wann war das ungefähr?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also Sie fragen nach der Stunde oder dem Tag?

Vorsitzender Richter:

Nein, den Tag, so ungefähr die Zeit.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Es könnte im ersten Monat meines Aufenthaltes im d-Lager, das heißt Ende Juli, gewesen sein. Es kann etwas früher

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ende Juli 44?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, es kann etwas früher oder etwas später gewesen sein. Ich glaube, es war kurze Zeit, nachdem ich angekommen bin. Weil es einer der ersten Eindrücke dieser Art war, die ich dort bekommen habe.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Herr Zeuge, es fällt mir etwas auf. Sie haben bei Ihrer Vernehmung in Jerusalem gesagt, daß diese Selektion der 12.000 Menschen, die in die Gaskammern gebracht wurden, ausgeführt wurde durch Doktor Mengele und den Lagerführer Schwarzhuber.[4] Heute sagen Sie, es sei außer Doktor Mengele noch ein zweiter Arzt dabeigewesen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Wie kommt das?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also dieser zweite Arzt war bei dieser Angelegenheit, und auch bei anderen Angelegenheiten immer, tätig. Es waren auch andere dabei, zum Beispiel, wie ich schon gesagt habe, der Buntrock und der Baretzki, die dort beiwohnten. In meiner Aussage nannte ich nie alle, die ich kannte, nur die, die ich mit dem Namen gekannt habe; und das war das Prinzip damals. Ich kann noch viele andere hier nennen, die sich an verschiedenen Taten beteiligten. Jedoch nicht immer oder fast nie habe ich sie mit Namen genannt. Aber ich kann auch andere Namen [+ nennen], zum Beispiel der Blockführer Schenk, der sich an verschiedenen Angelegenheiten dort beteiligte. Und ich bin nicht sicher, ob ich ihn angegeben habe. Und so [gibt es] auch verschiedene Einzelheiten, die ich noch [angeben] kann.

Vorsitzender Richter:

Nun sagen Sie bitte, dieser zweite Lagerarzt, der sich bei Doktor Mengele aufgehalten hat, hat der auch irgendwelche Anordnungen getroffen oder irgendwelche Maßnahmen getroffen? Oder hat der nur dabeigestanden?

Zeuge Otto Dov Kulka:

[Was meinen] Sie, diese Selektion in dem Theresienstädter Lager oder an der Rampe?

Vorsitzender Richter:

Beides, sowohl als auch.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Also in dem Theresienstädter Lager habe ich ihn nicht gesehen, weil die Selektion in einem Block durchgeführt wurde. Ich ging nicht in die Selektion, weil ich zu klein war; es war mir ganz klar. Und die Kinder gingen auch nicht. Nur am Ende sind einige, ungefähr 80 Kinder, dann ausgewählt worden. Also ich ging nicht. Es waren vielleicht fünf, sechs oder sieben, viele Selektionen, die damals alle Häftlinge oder erwachsenen Häftlinge durchgehen mußten.

Vorsitzender Richter:

Aber doch nicht im Theresienstädter Lager, oder?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Doch, doch. Bei der zweiten Liquidation.

Vorsitzender Richter:

Bei der zweiten Liquidation.[5]

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, in einem Block. Und einige Male war der Lagerführer, der sie selektierte, war es der...

Vorsitzender Richter:

Doktor Mengele.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Doktor Mengele, einige Male war es der zweite Lagerarzt. Das weiß ich, weil also alle diese drei je nachdem in den Block gegangen sind, und dann die Häftlinge, die herausgegangen sind, uns erzählten, daß sie dort selektiert worden sind. Also demnach kann ich es hier angeben, daß sie dorthin gegangen sind und, den Angaben der Häftlinge [+ zufolge], selektierten. [Pause] Was nicht an der Rampe war, wo ich sie mit eigenen Augen selektieren gesehen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ja, und wie war es an der Rampe? Das wollte ich dann auch noch gern wissen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Also an der Rampe, wie ich schon geschildert habe, haben sie die Häftlinge vor sich, den Geschlechtern [+ nach] getrennt, defilieren lassen. Und nach einer ganz oberflächlichen Durchsuchung, manchmal etwas oberflächlicher, manchmal etwas gründlicher, auf die eine oder zweite Seite geschickt. Ich schilderte schon die Art des Lagerarztes Mengele, des zweiten Lagerarztes und des Baretzki, die in einer gewissen Weise ähnlich

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Aber dieser zweite Lagerarzt hat auch, ohne etwa von den anderen abhängig zu sein, selbständig entschieden, wer wohin geht?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ganz in derselben Weise wie die anderen von mir Genannten.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Wie der Doktor Mengele das auch gemacht hat. Ich habe an den Zeugen keine Frage mehr zu stellen.

Richter Hotz:

Das Bild.

Vorsitzender Richter:

Ja, ich habe es nicht da. Ach richtig, ja. Herr Cugini, würden Sie bitte dem Zeugen einmal dieses Bild[6] vorzeigen, und würden Sie ihn fragen, ob er auf diesem Bild einen der dort abgebildeten Leute kennt?

Sprecher (nicht identifiziert):

Ob Sie da jemand kennen drauf.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich glaube, daß ich rechts den Baretzki erkenne.

Vorsitzender Richter:

Derjenige mit dem Stock in der Hand?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Mit dem Stock, an der rechten Seite.

Vorsitzender Richter:

An der rechten Seite.

Zeuge Otto Dov Kulka:

[Pause] So glaube ich. [Pause] Fast mit Sicherheit. Andere stehen mit dem Rücken zu mir, einer mit einer Offiziersmütze, der vielleicht ein Lagerarzt sein konnte.

Vorsitzender Richter:

Nun sagen Sie mal, hat denn Baretzki im Lager diese Mütze da getragen, die dieser Mann da aufhat?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Solch eine Mütze?

Vorsitzender Richter:

Ja, das ist doch an und für sich eine Mütze gewesen, die bei der SS nicht üblich war. Können Sie sich entsinnen, daß Sie ihn sonst mit dieser Mütze gesehen haben, außerhalb dieses Bildes?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ich glaube ja. Ich glaube ja.

Vorsitzender Richter:

Hatten auch andere SS-Leute diese Mütze auf? Oder war er der einzige, der diese Mütze trug?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich glaube, daß andere sie auch hatten.

Vorsitzender Richter:

So. Ja, dann bitte ich Sie, sich einmal den Angeklagten zuzuwenden und uns zu sagen, wen Sie von diesen Angeklagten noch erkennen. Und ich bitte zu diesem Zweck die Angeklagten, einmal aufzustehen.[7]

Vorsitzender Richter:

Das war Kaduk, der damals Rapportführer war, aber von dem Sie nicht genau wußten, wann und unter welchen Umständen Sie ihn gesehen haben. Sind noch Fragen? Bitte schön.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Herr Zeuge, mit welchem Ereignis im Lager verbinden Sie die erste Erinnerung mit Doktor Mengele?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Entschuldigen Sie, kann ich davor noch den Herrn Vorsitzenden fragen?

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Die anderen Angeklagten, die ich meiner Meinung nach erkannte oder genannt habe, wie sind ihre Namen?

Vorsitzender Richter:

Also das in der ersten Reihe, das war Herr Doktor Lucas.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Den ich als Lagerarzt

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Als Arzt zu erkennen glaubten, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das haben Sie mir gesagt, daß der andere der Mulka war, ja.

Vorsitzender Richter:

Mulka, jawohl.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das haben Sie mir gesagt.

Vorsitzender Richter:

Und dann Bednarek haben Sie ja erkannt, Baretzki haben Sie erkannt. Kaduk habe ich Ihnen noch gesagt.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und der andere Herr, den Sie von der Rampe her kannten, das ist der Apotheker Capesius.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Doktor Capesius.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Dem Namen nach habe ich ihn damals nicht gekannt.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie nicht gekannt.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich danke Ihnen.

Vorsitzender Richter:

Es war auch unmöglich wohl. Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ja, also meine Frage: Mit welchem Ereignis im Lager verbinden Sie die erste Erinnerung an Doktor Mengele, und wann war das? [...]

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das waren die ersten Tage, in denen wir ins Lager gekommen sind, ohne Selektion, weil einige Tage danach der Kinderblock gegründet war.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Das war also zeitlich?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das war zeitlich im September 1943.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

43.

Ergänzungsrichter Hummerich:

September 1943.

Zeuge Otto Dov Kulka:

43. Ich glaube, daß die ersten Erinnerungen aus den ersten Tagen sind. Mit Sicherheit kann ich es jedoch nicht feststellen. Mit Sicherheit kann ich sagen, daß er [später immer] in den Kinderblock gekommen ist. Es kann sein zum Beispiel im Februar, im März, im Juni, Juli.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Bitte, das ist

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Also das war zunächst mal September 43, sagen Sie, und

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Dezember 43?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, September 43.

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

September 43. Ja, bitte schön. Und

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Das sage ich nicht mit Sicherheit.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und kam der zweite Lagerarzt damals auch immer mit ihm?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Der zweite Lagerarzt kam nicht am Anfang.

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Den Sie eben erkannt haben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, anfangs nicht, also sicher nicht im September. Ich glaube, ich habe ihn schon vor der ersten Liquidation gesehen, das heißt vor März 1944. Es könnte Februar gewesen sein, es könnte etwas früher gewesen sein. Und auch er interessierte sich sehr für die [+ Kinder] und war auch am Krankenbau. [+ Das weiß ich], weil ich damals krank geworden bin.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und wie lange war denn Doktor Mengele im Lager noch? Sie waren ja bis zum Schluß da, nachher im d-Lager.

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ich war bis zum Schluß, ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

War Mengele da auch immer da, bis zum Schluß?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Bis zum Schluß: Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich ihn gesehen bei der Liquidation des tschechischen Familienlagers und vermutlich auch einige Male, nachdem ich in das d-Lager gekommen bin. Das heißt im Sommer, im Laufe der Deportationen der Juden aus Ungarn. [...]

Ergänzungsrichter Hummerich:

War Mengele im Herbst 44 noch da?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Herbst 44? Es ist ein bißchen schwer zu sagen. Weil hauptsächlich habe ich ihn gesehen am Kinderblock oder bei den Selektionen. Und da der Kinderblock liquidiert war und die Selektionen im Herbst eingestellt wurden, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Ich glaube, ich habe ihn nicht gesehen.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Nicht mehr gesehen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Aber mit Sicherheit kann ich es ja nicht sagen.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und den zweiten Lagerarzt, haben Sie den noch weiter gesehen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, den zweiten Lagerarzt habe ich auch nicht gesehen.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Aber Sie sagten, Sie haben den zuerst schon gesehen im Februar, vielleicht früher?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Vielleicht früher, aber jedenfalls vor der Liquidation und vor dem 8. oder noch einige Tage davor, weil ich als Kind in den Krankenbau gekommen

Staatsanwalt Kügler:

Die Frage ist schon beantwortet. Der Zeuge hat [+ das] bereits geschildert, ich möchte das besonders festhalten hier. Ehe er auf Doktor Lucas gedeutet hatte, hatte er vorher schon eine Schilderung von der Statur des zweiten Lagerarztes abgegeben.

Verteidiger Schallock:

Aber nicht so eingehend, Herr Staatsanwalt. Er hat zwar etwas darüber gesagt, aber es kommt ja hier doch ziemlich auf die Genauigkeit an. Also ich bitte doch, die Frage zuzulassen. Also

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Na also, dann fragen Sie mal.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also scharfe Nase, ja. Aber eine scharfe Nase, wenn es gut deutsch gesagt ist, ich übersetze aus dem Hebräischen.

Verteidiger Schallock:

Eine Adlernase?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, nicht Adlernase. Eine Adlernase hatte der Mulka. Also nicht so eine Nase. [Spitzer], etwas ähnlich wie bei dem Angeklagten Bednarek. Aber ich sagte schon, er war in demselben Alter ungefähr wie Mengele. Es könnte etwas mehr sein, aber sicher nicht viel. [Im Gegensatz zu] Mengele, der immer schlau und elegant erschienen ist, war seine Erscheinung sehr...

Vorsitzender Richter:

Salopp.

Zeuge Otto Dov Kulka:

[+ Gütig] und väterlich oder, wie soll ich es sagen, ja, vaterhaft uns Kindern gegenüber.

Vorsitzender Richter:

Väterlich.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und sogar bei den Selektionen.

Verteidiger Schallock:

Also er war etwas gröber und plumper als Mengele, meinen Sie?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Plumper? Was heißt das, plumper, bitte?

Vorsitzender Richter:

»Väterlicher« hat er gesagt, nicht.

Verteidiger Schallock:

Äußerlich betrachtet. Väterlich ist vielleicht mehr eine...

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also in Anführungszeichen.

Verteidiger Schallock [unterbricht]:

Im Äußerlichen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, also selbstverständlich ironisch gesagt. [...]

Verteidiger Schallock:

Ich will ja nur die äußeren Merkmale von Ihnen wissen. Danke schön, das genügt.

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Also, ich hoffe, daß ich sie gegeben habe.

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Müller.

Verteidiger Müller:

Herr Zeuge, Sie sagten, Sie seien seit September 1943 im Lager gewesen. Habe ich Sie da richtig verstanden?

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Müller:

Seit September 43?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Im Familienlager oder Theresienstädter Familienlager seit September 1943.

Verteidiger Müller:

Ich meine, in Auschwitz überhaupt, seit September 43?

Zeuge Otto Dov Kulka:

In Auschwitz überhaupt, genau: in Birkenau BIIb.

Verteidiger Müller:

Seit September 1943?

Vorsitzender Richter:

Ja, ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Seit September 1943.

Verteidiger Müller:

Ich halte Ihnen vor, daß unstreitig, soweit hier überhaupt etwas unstreitig ist, der Angeklagte Mulka seit März 1943 nicht mehr in Auschwitz war. Nun meinten Sie eben, den Angeklagten Mulka wiedererkannt zu haben. Er war doch nicht mehr da. Was sagen Sie dazu?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich habe gesagt, daß ich meine, ich habe ihn gesehen. Nicht mehr, nicht weniger.

Verteidiger Müller:

Und wenn ich Ihnen jetzt sage, er war nicht da?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Dann muß das das Gericht überprüfen.

Verteidiger Müller:

Nein, das möchte ich von Ihnen überprüft haben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich habe gesagt, was Sie von mir hören wollten.

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

Ich protestiere gegen die weitere Befragung in dieser Art!

Verteidiger Müller:

Wollen Sie damit sagen, im Hinblick jetzt

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

Ich protestiere gegen die weitere Befragung in dieser Art, Herr Vorsitzender!

Verteidiger Müller [unterbricht]:

Herr Kaul, im

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

Ich bitte, zunächst einen Beschluß

Verteidiger Müller [unterbricht]:

Herr Kaul, im Augenblick spreche ich!

Nebenklagevertreter Kaul:

Nein, Sie sprechen nicht

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Also meine Herren, jetzt spreche ich und bitte Sie beide, zunächst einmal zu schweigen. Herr Doktor Müller, wollen Sie bitte Ihre Fragen, die Sie an den [Zeugen] zu stellen haben, zunächst an mich richten. Ich werde dann entscheiden, ob wir die Fragen weitergeben wollen.

Verteidiger Müller:

Im Hinblick darauf, daß der Angeklagte Mulka seit März 43 nicht mehr in Auschwitz war, muß der Zeuge sich irren.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Müller:

Der Zeuge ist ein kluger Mann. Gibt der Zeuge zu, daß er sich geirrt hat?

Staatsanwalt Kügler:

Herr Vorsitzender, ich widerspreche der Frage.

Verteidiger Müller:

Das war eine Frage.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich habe nicht gesagt, daß ich mich geirrt habe.

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Entschuldigen Sie, jetzt sind Sie bitte mal still. Ich widerspreche dieser Frage. Der Zeuge hat überhaupt nicht behauptet, daß er den Angeklagten Mulka auf der Rampe gesehen hat. Sondern der Zeuge hat sich den Angeklagten Mulka angesehen. Er hat gesagt, er kennt ihn dem Namen nach nicht. Und er hat gesagt, es könnte so jemand gewesen sein wie dieser Mann auf der Rampe. Etwas anderes hat er nicht gesagt. Dem Zeugen jetzt...

Verteidiger Müller:

Er hat mehr gesagt.

Staatsanwalt Kügler:

Entschuldigung, im Kinderblock.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das habe ich gesagt.

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Im Kinderblock, ja. Dem Zeugen jetzt vorzuhalten, daß er hier zugeben soll, er habe sich geirrt, dazu besteht überhaupt gar kein Anlaß.

Verteidiger Müller:

Es besteht Anlaß, dem Zeugen zu sagen, daß der Angeklagte Mulka seit März 43 nicht mehr da war und daß er seine Erinnerung

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Ich weiß nicht mal, warum

Verteidiger Müller [unterbricht]:

Jetzt spreche ich, Herr Staatsanwalt.

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Ich weiß nicht mal warum.

Verteidiger Müller:

Herr Staatsanwalt, jetzt spreche ich.

Vorsitzender Richter:

Also Herr Rechtsanwalt Doktor Müller, Sie haben den Zeugen gefragt, ob er bei seiner Aussage bleibt, selbst dann, wenn Sie ihn drauf hinweisen, daß der Angeklagte Mulka im März 1943 nicht mehr im Lager gewesen sei.

Verteidiger Müller:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Und da hat der Zeuge gesagt: »Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe.« Stimmt das? Haben Sie so geantwortet? Herr Zeuge?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Bitte, ich habe gesagt, daß ich den Mann nicht dem Namen nach, sondern dem Gesicht [+ nach], das nicht häufig vorkommt, [glaube zu kennen.] Ja, es scheint mir so, so habe ich es gesagt, ich habe ihn gesehen im Kinderblock und an der Rampe. Nicht mehr und nicht weniger, so glaube ich.

Vorsitzender Richter:

Ja, und nun wird Ihnen gesagt, daß dieser Angeklagte, den Sie da zu erkennen glauben, zu dieser Zeit nicht mehr im Lager gewesen sein soll. Haben Sie dazu etwas zu sagen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nicht mehr, als daß es, wenn es sicher so war, ein Irrtum war.

Verteidiger Müller:

Danke schön.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nicht mehr.

Vorsitzender Richter:

Ja. Herr Rechtsanwalt Doktor Eggert.

Verteidiger Eggert:

Eine Frage zum Komplex Bednarek. Herr Zeuge, sind Sie zu dem Angeklagten Bednarek schon einmal vernommen worden, und haben Sie über diesen Angeklagten eine Erklärung abgegeben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ich habe in Jerusalem in meiner [ersten] Aussage über meine Begegnungen mit Bednarek ausgesagt. Es wurde von einem Beamten der Polizei niedergeschrieben, in einer ein bißchen gekürzten Weise, weil ich ziemlich schnell gesprochen habe. Und ich habe also alles, was ich damals für angebracht

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Wußte.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, glaubte, angegeben.

Verteidiger Eggert:

Haben Sie damals von der Liquidation des Familienlagers und der Mitwirkung des Angeklagten Bednarek bei dieser Liquidation die gleiche Darstellung gegeben wie heute?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Es war sicher viel kürzer, weil die ganze Sache viel kürzer war. Aber im wesentlichen, glaube ich, war es ungefähr so, ja. Also ich sollte es wissen, was er niedergeschrieben hat, der Polizist, weil ich es unterschrieben habe. Und meiner Erinnerung nach war es viel kürzer. Und viele Angelegenheiten, die ich hier gesagt habe, über das Leben im Lager, über das verschiedene Verhalten [einzelner,] sind dort sicher nicht [+ enthalten].

Verteidiger Eggert:

Sie haben heute gesagt, daß Sie selbst gesehen haben, wie der Angeklagte Bednarek mit einem Stock auf diesen Blockältesten – war es, glaube ich – einschlug, ja?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das habe ich gesagt.

Verteidiger Eggert:

Haben Sie bei dieser früheren Vernehmung einmal gesagt: »Einige Menschen, meistens Blockälteste, die probiert haben, Widerstand vor der Vergasung zu stellen, wurden an Ort und Stelle ermordet. Zwischen diesen Opfern befanden sich die mir persönlich bekannten Blockältester Bondy und Jugendältester Fredy Hirsch, der vor der Vergasung Selbstmord begangen hat.« Soweit deckt es sich mit Ihrer heutigen Schilderung. Der nächste Satz heißt: »Es wurde auch gesagt, daß angeblich der Blockälteste der Strafkompanie, Bednarek, bei der Überführung und den Mordtaten an den Opfern beteiligt war.« [8]

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Das habe ich wahrscheinlich gesagt. Also den Bednarek kannte ja ich damals dem Namen nach noch nicht. Und ich sah nur den Mann, der auf den Blockältesten Bondy [einschlug] und ihn wahrscheinlich getötet hat. Nur als ich in den Strafblock der Strafkompanie gekommen bin, habe ich mit Erschrecken diesen selben Mann, dessen Name Bednarek war, [erkannt]. Jedoch wurde schon vorher erzählt, daß auch Bednarek sich an diesen Angelegenheiten beteiligte. Aber ich konnte damals den Namen Bednarek nicht mit dem identifizieren, den ich gesehen habe, sondern [erst], als ich an den Block gekommen bin. Und dies ist mir so klar wegen dem Schrecken dieser Szene, der nächtlichen Szene, geblieben, daß wir gerade zu diesem Mann nun gekommen sind, daß kein Irrtum hier bestehen kann.

Verteidiger Eggert:

Verzeihen Sie, Herr Zeuge, ich habe Sie ja auch nicht gefragt, ob Sie im Jahre 1942/43 oder 44 irgendwelche Unklarheiten gehabt haben. Sondern ich habe Ihnen vorgehalten, daß Sie am 13. Juni 1962, also vor gerade zwei Jahren, [dahingehend] ausgesagt haben, Sie hätten gehört – denn nicht anders kann Ihr Satz verstanden werden –, daß der Bednarek sich an der Liquidierung des Familienlagers beteiligt hätte.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, das habe ich jetzt gerade gesagt, daß ich das gehört habe, weil ich den Namen nennen gehört habe, Bednarek. Weil damals habe ich den Bednarek nicht gekannt. Und ich wiederhole und erkläre Ihnen ganz deutlich, daß nur dann, als ich ins Lager BIId gekommen bin, konnte ich auch selbst feststellen, zu meinem Schrecken, daß es dieser Mann war. Ich habe auch ähnliche Szenen beobachtet, wie andere sich beteiligten an ähnlichen Taten. Ich habe zum Beispiel gesehen, daß eine gewisse Journalistin Novotny

Verteidiger Eggert [unterbricht]:

Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Das brauchen wir hier im Augenblick

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Vielleicht

Verteidiger Eggert [unterbricht]:

Nicht zu besprechen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Herr Vorsitzender, hat der Herr das Recht, mich zu unterbrechen?

Vorsitzender Richter:

Ja, was wollten Sie von Novotny sagen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, also ich habe auch gehört, daß eine Frau, die ich gut gekannt habe, wie wir alle, die Häftlinge, auch in ähnlicher Weise ermordet wurde durch einen [SS-Mann]. Ich habe es nicht gesehen, ich habe es nur gehört. Also es sind verschiedene Szenen, über die ich erzählen kann. Und wenn ich es dann nachher nicht mit meinen eigenen Augen [festgestellt hätte], wer der Bednarek war, wäre ich bei der allgemeinen Schilderung geblieben. Das ist doch klar.

Vorsitzender Richter:

Ja, Herr Zeuge, der Herr Verteidiger möchte etwas anderes Ihnen sagen. Er möchte nämlich sagen, in der Nacht, als damals das Unglück passierte, da kannten Sie Bednarek noch nicht. Da haben Sie bloß einen Menschen gesehen, der geschlagen hat. Diesen selben Bednarek haben Sie später in dem Lager d unter seinem Namen kennengelernt.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Nun sagt der Herr Verteidiger: »Als Sie aber vernommen worden sind«, 1960 oder wann das war, oder 62, »damals wußten Sie ja inzwischen, wer Bednarek war und konnten deshalb auch genau sagen, ob nun dieser Bednarek mitgewirkt hat oder nicht.«

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

»Wenn Sie trotzdem damals gesagt hätten, es sei gesagt worden, das heißt, es sei erzählt worden, Bednarek habe sich daran beteiligt«, so meint der Herr Verteidiger, »hätten Sie doch im Jahr 62 das dann auch aufklären können. «

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja. Ja, ja. Ganz klar, ja. Also ich habe damals die klare Absicht gehabt zu sagen, daß einige Tage danach erklärt wurde oder erzählt davon, daß der Bednarek sich beteiligte. Ich wollte, wenn ich chronologisch zu der Geschichte vom d-Lager komme, feststellen, daß ich ihn erkannte. Wahrscheinlich habe ich es vergessen, wie ich zum Beispiel heute vergessen habe zu sagen, daß ich den Angeklagten Baretzki bei dem Todesmarsch einmal gesehen habe, am ersten Tage, in einem Falle mindestens, einen Häftling...

Vorsitzender Richter:

Erschießen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, umbringen. Ich glaube, ich habe es damals...

Vorsitzender Richter:

Nicht gesagt.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nicht gesagt.

Vorsitzender Richter:

Nein.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also zum Beispiel das und viele andere Sachen.

Vorsitzender Richter:

Ja, also um das noch mal festzulegen: Sie haben bei dem Todesmarsch, das heißt bei dem Marsch von Auschwitz nach Groß-Rosen...

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das war in der Richtung der polnischen Stadt Pless und der mährischen Stadt Troppau. Das war der Tag nach der ersten Nacht, nachdem wir aus dem Lager gegangen sind. Damals waren meine Kräfte schon beinahe zu Ende, und ich näherte mich den letzten Reihen der Häftlinge. Und wir wußten ja, daß die letzte immer getötet wurde durch die [SS-Männer], die hinter uns gingen. Weil wir haben ja die Toten, die vor uns gegangen sind, in anderen Gruppen, in den Straßengräben gesehen. Es war, wie ich schon gesagt habe, der erste Tag – es könnte der 19. Januar gewesen sein –, als einer der Häftlinge seinen Fuß gebrochen hat.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und die anderen Häftlinge wollten ihn mitschleppen. Und in der Gruppe der zwei oder drei SS- Wächter, die hinter der letzten Reihe gegangen sind, war der Baretzki, der es verboten hat und befahl, den Häftling mit seinem gebrochenen Fuß [dort liegenzulassen.] Ich bin sicher, daß er ihn gleich danach erschossen hat, weil es anders nicht sein konnte. Wie schon gesagt, war er es also, der das befahl, und er war der, der ihn »behandelte«, diesen Häftling, und wir wollten uns wieder entfernen. Kurze Zeit danach wurde – eine Stunde vielleicht, eine halbe Stunde danach – eine Pause eingelegt. Mehr habe ich den Baretzki nicht gesehen. Das zum Beispiel ist auch eine Einzelheit, die ich wahrscheinlich, wie Sie sagen, damals nicht gesagt habe. Und ich nehme an, daß es viele andere Sachen, die ich heute gesagt habe, [gibt], die dort [stattfanden]. Und auch [andersherum], ja, daß ich damals andere Sachen sagte als heute.

Vorsitzender Richter:

Also Sie wollen heute sagen, Sie haben nicht vom Hörensagen erfahren, daß der Blockälteste Bednarek bei dieser Überführung mit geschlagen hat, sondern Sie haben das mit eigenen Augen gesehen. Sie haben bloß in diesem Augenblick, als Sie es gesehen haben, den Bednarek noch nicht gekannt, sondern seine Person erst später kennengelernt.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ganz genau so.

Vorsitzender Richter:

Ja. Bitte schön.

Verteidiger Eggert:

Darf ich die Aufmerksamkeit des Hohen Gerichts auf Blatt 9 der Originalvernehmung des Zeugen lenken; das ist 858. Unten, direkt über der Unterschrift des Zeugen – und das halte ich Ihnen, Herr Zeuge, jetzt vor – hat der Satz zunächst gelautet: »Es wurde auch gesagt, daß angeblich der Blockälteste der Strafkompanie bei der Überführung mitgewirkt hat.« [9] Dann ist handschriftlich – es ist nicht ausgeschrieben, Strafkompanie, sondern SK steht hier – über SK eingerückt, Bednarek, der Name.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Eggert:

Können Sie sich daran erinnern, wie es zu dieser Einrückung gekommen ist?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ich sagte und erklärte es ja ganz klar, daß meine Absicht damals sicher war, die Ereignisse chronologisch zu schildern. Und als ich zurückkam auf meine Ankunft ins SK, Strafkommando, wollte ich diese Sache sagen. Wahrscheinlich habe ich sie nicht gesagt, wie viele andere Sachen [auch nicht]. Also ich kann nur wiederholen, ich wundere mich, daß Sie es nicht verstehen können.

Vorsitzender Richter:

Ist die Frage beantwortet, Herr Rechtsanwalt?

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Etwas anderes kann ich nicht sagen.

Verteidiger Eggert:

Ich werde zu gegebener Zeit später darauf zurückkommen. Für den Augenblick habe ich in diesem Zusammenhang keine weiteren Fragen.

Vorsitzender Richter:

Also, Herr Zeuge, bei dem Original Ihrer Vernehmung, die ja von Hand geschrieben worden ist

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Nicht mit meiner Hand.

Vorsitzender Richter:

Nein, nein.

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Nur unterschrieben, ja.

Vorsitzender Richter:

Unterschrieben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Aber mit der Hand geschrieben war, nicht mit Maschine geschrieben war.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, von diesem

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Da fällt mir auf, daß da geschrieben stand: »Es wurde auch gesagt, daß angeblich der Blockälteste der SK bei der Überführung und auch an Mordtaten an den Opfern beteiligt war.« Und da hat man später drübergeschrieben: »der Blockälteste der SK, Bednarek«. Und dann hat man diese handschriftliche Vernehmung abgeschrieben mit Schreibmaschine. Und bei dieser Schreibmaschinenabschrift hat man auch zunächst geschrieben: »Es wurde auch gesagt, daß angeblich der Blockälteste der SK bei der Überführung und bei Mordtaten an den Opfern beteiligt war.« Und auch hier hat man dann mit Hand und Druckschrift »Bednarek« [10] darübergeschrieben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und nun meine ich: Diese Schreibmaschinenabschrift, die hat Ihnen ja nicht mehr vorgelegen. [...] Sie haben ja nur die handschriftliche Aufzeichnung unterschrieben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Hat denn damals der Name Bednarek schon da dringestanden, als Sie es unterschrieben haben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Wie kann ich das wissen? Ich habe nicht verstanden. Sie haben gesagt, daß in der handschriftlichen Aussage der Name Bednarek nicht erscheint, also wenn

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Später nachträglich drübergeschrieben.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, also ich habe die Aussage, die mit der Schreibmaschine geschrieben worden ist, nicht gesehen [...] und nicht unterzeichnet.

Vorsitzender Richter:

Ich meine nämlich folgendes: Wenn bei Ihrer Vernehmung der Name Bednarek drübergeschrieben worden wäre, dann hätte er doch bei der Abschrift dieses Dokuments schon dagestanden. Und dann hätte man bei der Abschrift des Dokuments ihn nicht auch noch drüberzuschreiben brauchen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

[Pause] Ich kann es nicht sagen, aber ich sehe nur eine Sache, daß diese Schrift dieselbe Schrift ist wie die des...

Vorsitzender Richter:

Des vernehmenden Beamten.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Des Vernehmenden, ja. Ich glaube, es war eine Frage. Er hat viele Fragen [gestellt,] die hier nicht erschienen sind. Er hat gefragt: »War es der Bednarek, über den gesprochen worden ist?« oder: »Was war sein Name?« Ja, so nehme ich an. Und dann sagte ich ihm sicher: »Bednarek.« So nehme ich an. Mit Sicherheit kann ich es jedenfalls nicht

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Na.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Feststellen, ja. Man muß den Mann fragen.

Vorsitzender Richter:

Ist noch eine Frage zu stellen?

Verteidiger Eggert:

Jawohl. Zum Komplex Doktor Lucas eine Frage: Haben Sie den Mann, den Sie als Doktor Lucas bezeichnen, auch bei der zweiten Liquidation des Theresienstädter Lagers gesehen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich habe es ganz klar gesagt.

Vorsitzender Richter:

Sie haben gesagt, Sie hätten ihn gesehen, erstens bei der ersten Liquidation und zweitens an der Rampe.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, ich habe gesagt, daß die drei, der Lagerführer, der Mengele und der zweite Arzt in dem Block diese Selektionen durchführten. Ich glaube sicher, daß ich es gesagt habe. Ganz sicher.

Verteidiger Eggert:

Ich habe es nicht gehört, aber ich nehme es mit Interesse zur Kenntnis.

Richter Perseke:

Vor der zweiten Liquidierung ist selektiert worden, mehrfach.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Richter Perseke:

Und da war der zweite Arzt dabei

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich glaube, es muß mit in dem Protokoll sein.

Vorsitzender Richter:

Also bei der zweiten Liquidierung soll auch dieser Arzt dabeigewesen sein. Und diese zweite Liquidierung war sechs Monate nach der ersten?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Nein, drei Monate nach der

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Drei Monate nach der ersten.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Drei und etwas, ja, also in den ersten Julitagen.

Vorsitzender Richter:

Ersten Julitagen. Ja, noch eine Frage?

Verteidiger Eggert:

Jawohl. Eine ganz andere Frage, Herr Zeuge. Sie haben vorhin gesagt, Sie sind Universitätsassistent. Und wenn ich es recht in Erinnerung habe, sind Sie für ein Institut tätig, das sich mit Problemen der Zeitgeschichte beschäftigt. Ist das richtig?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich bin, wie Sie schon gesagt haben, ein Assistent der Abteilung für jüdische Geschichte an der Universität. Als Student arbeitete ich auch in diesem Institut von Yad Vashem, und zwar an der Geschichte der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit dem Mittelalter, die im Rahmen dieses Instituts herausgegeben wird. Ich veröffentlichte auch einige dieser Sachen, zum Beispiel über die Geschichte der Juden in Hannover, die Sie hier in deutscher Sprache sehen können. Also sie befaßt sich mit der Geschichte der Juden vom Mittelalter bis zur Deportation, das heißt nicht in den Lagern, sondern alle Jahrhunderte bis zum Jahre 41. Das war und ist teilweise noch meine Arbeit, von der ich lebe, außer dem, daß ich an der Universität lehre.

Verteidiger Eggert:

Gehört zu Ihrem jetzigen Beschäftigungskreis auch die neueste Geschichte des Judentums, also die Geschichte, die uns hier im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Verfahren interessiert?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Also über diese Periode schreibe ich und forsche ich prinzipiell nicht. Die späteste ist die Vorkriegszeit, das Jahr 38. Ganz absichtlich, weil ich glaube, daß jemand, der an diesen Sachen persönlich beteiligt ist, nie ein objektives Urteil oder eine objektive Forschung durchführen kann. Manchmal bin ich gezwungen, auch dieses Material zu behandeln, aber prinzipiell halte ich mich zurück von dieser Sache. An der Universität lehre ich die jüdische Geschichte seit dem 18. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. Hauptsächlich beschäftigte ich mich mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Verteidiger Eggert:

Danke schön. Stehen Sie mit Ihrem Stiefvater noch in Verbindung?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, schriftlich.

Verteidiger Eggert:

Schriftlich. Und wenn Sie sich mit Ihren Forschungen beschäftigen, lesen Sie da auch die Tageszeitungen daraufhin durch, ob dort irgend etwas für ältere oder jüngere Zusammenhänge von Bedeutung sein könnte?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Wie? Ich habe die Frage [mit den Zeitungen nicht ganz verstanden.]

Verteidiger Eggert:

Ich kann es einfacher ausdrücken.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja bitte.

Verteidiger Eggert:

Ist Ihr Interesse als Zeitungsleser an den Ereignissen, die hier verhandelt werden, das des allgemeinen Zeitungslesers, oder interessiert Sie es auch beruflich, da Sie nun mal Historiker sind?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, also beruflich interessierte ich mich jetzt sehr für die Zeitungen aus dem Jahre 1938, und gelegentlich lese ich auch die heutigen Zeitungen. Aber wegen Zeitmangel leider nur am Samstag, das heißt die Samstagsausgabe, wenn es Ihnen ausreicht.

Verteidiger Eggert:

Gut, danke.

Verteidiger Gerhardt:

Ich hätte da noch eine Ergänzungsfrage. Sie sagten, prinzipiell befassen Sie sich nicht mit der Geschichte von Auschwitz. Heißt das denn, daß Sie ausnahmsweise doch mal sich damit befaßt haben?

Staatsanwalt Kügler:

Ich widerspreche dieser Frage. Was soll das überhaupt für einen Sinn haben?

Verteidiger Gerhardt:

Na, darüber mag das Gericht entscheiden. Der Zeuge hat vorhin – ich habe es nicht ganz

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Ich bin der Auffassung, daß die Frage keinen Sinn hat, und ich widerspreche ihr. Das ist eine Unerhörtheit, diesen Zeugen in dieser Art und Weise zu belangen hier.

Nebenklagevertreter Kaul:

Es ist empörend, daß derartige Fragen an einen Menschen gestellt werden, der uns hier an einem ganzen Vormittag sein Lebensschicksal enthüllt. Genauso empörend, Herr Direktor, und Sie haben das nicht unterbunden, ist es, wenn ein Verteidiger hier ankommt, das erste Mal nach sieben Monaten anwesend ist und erklärt, »das einzige, was unstreitig ist, ist, daß Herr Mulka nicht mehr dort und dort gewesen ist«. Unstreitig ist, daß Auschwitz ein Mörderlager war und daß der Zeuge

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Meine Herren, ich bitte um unbedingte Ruhe! Aber sofort!

Nebenklagevertreter Kaul:

Und ich protestiere gegen die Art, in der hier diese Zeugen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Sonst wird der Saal geräumt!

Nebenklagevertreter Kaul:

Die Unendliches erlitten haben, in einer derartigen Weise behandelt werden. Ich habe hier schon bei den vorigen Fragen angehalten. Der Zeuge hat ausdrücklich erklärt, in einer mir allerdings in dieser Art der Objektivität nicht ganz nahen Einstellung, aber zu würdigenden Einstellung, daß er als Betroffener sich mit diesem Gebiet wissenschaftlich und soweit beruflich nicht befaßt. Jetzt kommen diese Art von Fragen, die nichts anderes darstellen, angesichts des unendlichen Leids, das wir hier gehört haben, als einen reinen Hohn. Und ich bitte das Gericht, endgültig und präzise dazu Stellung zu nehmen.

Verteidiger Gerhardt:

Ich halte meine Frage aufrecht. Ich bitte

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Wie lautet die Frage?

Verteidiger Gerhardt:

Der Zeuge hat vorhin auf eine Frage des Herrn Doktor Eggert gesagt: »Prinzipiell befasse ich mich nicht damit.« Er hat diesem noch etwas hinzugefügt, leider habe ich das nicht ganz verstanden. Wenn der Zeuge sagt »prinzipiell«, da wollte ich jetzt fragen, ob er ausnahmsweise irgendeinen Artikel [+ gelesen] oder irgendwie sich mit dem Lager Auschwitz befaßt hat. Diese Frage

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Der Zeuge hat gesagt, von seiten seiner Wissenschaft befaßt er sich nur mit den Teilen der Geschichte des Judentums, die im Jahr 1938 abschließen. Er hat dann weiterhin gesagt: »Selbstverständlich lese ich auch Zeitung, aber meistens nur samstags.«

Verteidiger Gerhardt:

Der Zeuge hat gesagt, daß er sich lediglich bis zur Vorkriegszeit mit der Geschichte des Judentums befaßt hat, »prinzipiell«, und daran schließt meine Frage an. Und meine Frage hat auch einen tieferen Sinn; ich möchte ihn hier vorerst noch nicht darlegen. Denn wir wissen ja alle, daß der Zeuge mit elf Jahren diese Erlebnisse, die er hier heute bekundet hat, erlebt hat. Es ist der erste Zeuge von zahlreichen Zeugen der Staatsanwaltschaft, der in einem Umfange Dinge berichtet hat, die uns noch kein Zeuge bis jetzt berichtet hat, weil diese Zeugen nicht dazu in der Lage waren. Und deswegen bestehen bestimmte Bedenken. Und die auszuräumen soll unter anderem Gegenstand meiner Frage sein.

Vorsitzender Richter:

Ja, ich weiß nicht, Herr Rechtsanwalt, ich verstehe nicht recht, was Ihre Frage für einen Sinn haben soll. Sie fragen, ob er sich prinzipiell mit diesen Dingen beschäftigt.

Verteidiger Gerhardt:

Nein. Nein, ob er ausnahmsweise sich auch mit dem Problem in Auschwitz befaßt hat. Er sagt, prinzipiell hat er sich nicht damit befaßt. Die Frage ist richtig, ob er sich ausnahmsweise vielleicht doch mal damit befaßt.

Vorsitzender Richter:

Ja, aber nicht wissenschaftlich, natürlich hat er sich damit befaßt. Er hat aber gesagt: »Ich lehne es ab, als Wissenschaftler und als Teilnehmer dieser Zeit mit dieser Sache mich wissenschaftlich zu befassen, weil das für einen Menschen, der es selbst miterlebt hat, nicht möglich ist.«

Verteidiger Gerhardt:

Damit wäre ja meine Frage beantwortet, wenn der Zeuge zu dem, was Sie eben sagten, steht.

Vorsitzender Richter:

Ja, das hat er uns doch hier gesagt, wortwörtlich.

Verteidiger Gerhardt:

Nicht in dieser Form.

Staatsanwalt Kügler:

Der Sinn dieser Frage des Herrn Rechtsanwalts ist ganz klar. Der Zeuge hat hier gesagt: »Ich werde auseinanderhalten, was ich erlebt habe und was ich gehört habe und was ich gesehen habe und was mir erzählt worden ist.« Wenn er jetzt gefragt wird: »Haben Sie etwas gelesen?«, so geht der Sinn dieser Frage dahin, daß der Zeuge hier etwas als eigenes Erlebnis geschildert haben soll, was er in Wirklichkeit nur gelesen haben soll. Diese Frage beinhaltet nichts weiter als eine Anpöbelung des Zeugen.

Vorsitzender Richter:

Na, also meine Herren

Verteidiger Gerhardt [unterbricht]:

Herr Staatsanwalt, Sie sollten etwas zurückhaltender sein.

Vorsitzender Richter:

Also ich bitte um Ruhe. Die Frage ist beantwortet, wie der Herr Rechtsanwalt Gerhardt sich selbst eben geäußert hat.

Verteidiger Gerhardt:

Jawohl. Und wenn der Herr Staatsanwalt meint, daß in dieser Richtung meine Frage liegt, dann versteht er wenig von Strafprozeßrecht. Denn meine Frage hat folgenden Sinn, um es gleich an dieser Stelle zu sagen: Wenn in einem Mordprozeß ein Elfjähriger gehört wird, dann wird jedes Schwurgericht, jedes verantwortliche Schwurgericht, mit größten Bedenken einer solchen Aussage gegenüberstehen. Und erst recht dann, wenn wir die Bekundung eines Zeugen haben, der vor 20 Jahren diese Ereignisse erlebt hat oder erleben mußte. Und deswegen werde ich zu gegebener Zeit ein psychiatrisches Gutachten in dieser Richtung, wie eben diskutiert worden ist, beantragen. Das ist der Sinn meiner Frage, und nicht, um den Zeugen hier bloßzustellen.

Vorsitzender Richter:

Also die Frage ist beantwortet.

Verteidiger Gerhardt:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Sollen weitere Fragen gestellt werden? [...]

Verteidiger Laternser:

Herr Vorsitzender

Verteidiger Müller [unterbricht]:

Ich verbitte mir das Wort »anpöbeln«, das gilt für die ganze Verteidigung.

Verteidiger Laternser [unterbricht]:

Ich auch. In dieser Verhandlung verbitte ich mir, daß die Staatsanwaltschaft eine Frage eines Verteidigers als Anpöbelung eines Zeugen bezeichnet. Ich bitte, das zurückzuweisen. Diesem Versuch hat sich Herr Kaul angeschlossen. Herr Vorsitzender, ich glaube, daß das zurückgewiesen werden müßte durch den Vorsitzenden dieses Gerichts, wenn solche Ausdrücke durch die Staatsanwaltschaft gebraucht werden. Ich bitte darum und beantrage es.

Vorsitzender Richter:

Meine Herren, wir wollen ganz allgemein derartige Worte hier nicht gebrauchen. Ich hatte Sie schon von Anfang an darum gebeten, und bisher ist das auch immer ganz gut gegangen. Und derartige Worte gehören nicht in einen Schwurgerichtssaal, und ich bitte, sie deshalb auch in Zukunft zu unterlassen. Sind noch Fragen?

Staatsanwalt Kügler:

Herr Vorsitzender, gestatten Sie mir, daß ich dazu doch noch etwas sage. Der Herr Rechtsanwalt Gerhardt gebraucht Ausdrücke hier in diesem Saal, die meines Erachtens zurückgewiesen werden sollten. Und man muß ja auch immer bedenken, von wem eine solche Frage kommt.

Verteidiger Laternser:

Jetzt gehen Sie aber

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Na, also ich verstehe gar nicht, was Sie wollen. Der Herr Rechtsanwalt Gerhardt hat gesagt, ob sich der Zeuge ausnahmsweise prinzipiell mit dieser Frage befasse. Da haben Sie gesagt, er hätte ihn angepöbelt. Hätten Sie gesagt, dieser Ausdruck paßt nicht hierher, wäre darüber zu sprechen gewesen. Aber das Wort »anpöbeln« möchte ich hier nicht hören. Das gehört sich nicht im Schwurgerichtssaal. Bitte schön.

Verteidiger Eggert:

Zumal, da es in dem Zusammenhang

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Jetzt möchte ich darüber keine Kommentare mehr hören. Haben Sie noch Fragen zu stellen?

Verteidiger Gerhardt:

Ja. Herr Zeuge, wie weit ist die Entfernung vom d-Lager zum a-Lager? Können Sie das irgendwie schätzungsweise angeben?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, die Entfernung ist einige Zentimeter oder einige Meter, weil nur ein Drahtzaun zwischen den

Verteidiger Gerhardt [unterbricht]:

Nein, Moment, Herr Zeuge, ich glaube, Sie haben meine Frage nicht ganz verstanden.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Verteidiger Gerhardt:

Die Entfernung vom d-Lager zum Quarantänelager, zum a-Lager.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ah ja, die Entfernung zwischen dem Quarantänelager, a-Lager, fragen Sie, und dem d-Lager, Stammlager, ja? Das fragen Sie?

Verteidiger Gerhardt:

Na, nicht Stammlager. Ja, dem Arbeitslager, richtig.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, dem Birkenau-Stammlager, dem sogenannten. Ich glaube, einige hundert Meter.

Verteidiger Gerhardt:

Einige hundert.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Weil zwischen dem a-Lager war das b-Lager, wo zwei Reihen von Blocks waren. Dann war das c-Lager, wo [nachher] die ungarischen Frauen hauptsächlich hingebracht geworden sind. Dann war ein Weg, wo die Leute in die Krematorien immer gegangen sind und das wir beobachtet haben aus dem Lager d, als wir im d-Lager gewesen sind. Und nach dem Drahtzaun, der den Weg und das Lager getrennt hatte, fing das d-Lager an. Es sind ja sicher einige hundert Meter.

Verteidiger Gerhardt:

Danke. Kann man vom d-Lager Personen im a- Lager erkennen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Vom d-Lager?

Verteidiger Gerhardt:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Wenn man im d-Lager steht, eine Person im a- Lager?

Verteidiger Gerhardt:

Ja.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ich glaube das nicht. Ohne

Verteidiger Gerhardt [unterbricht]:

Danke, das reicht mir. Danke, das reicht mir. Wann haben Sie Baretzki das erste Mal kennengelernt?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Baretzki? Ich glaube, daß es in BIIb war, das heißt im Familienlager.

Verteidiger Gerhardt:

Bei diesen kulturellen Veranstaltungen?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, und dann nachträglich dann in der Nacht der Vernichtung unseres Transportes.

Verteidiger Gerhardt:

Hatte Baretzki im b-Lager eine Funktion?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Ich kann nur sagen, daß ich ihn dort gesehen habe.

Verteidiger Gerhardt:

Ja, wie viele Blockführer gab es im d-Lager?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das kann ich Ihnen nicht sagen.

Verteidiger Gerhardt:

Wie viele Arbeitsführer gab es im d-Lager?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich kann sagen, daß meiner Erinnerung nach ein Rapportführer immer [+ dort] war. Das weiß ich, ein Lagerältester zum Beispiel, ein Lagerkapo. Blockführer waren einige da, das weiß ich, Arbeitsdienst, das weiß ich nicht.

Verteidiger Gerhardt:

Ist der elektrische Drahtzaun ständig unter Strom gewesen? Tag und Nacht?

Vorsitzender Richter:

Hat er schon gesagt, der Zeuge.

Verteidiger Gerhardt:

Das habe ich nicht gehört.

Vorsitzender Richter:

Der Zeuge hat gesagt, sie hätten sich einen Spaß draus gemacht und Mutproben gemacht, da dran zu greifen, und am Tag wäre er meistens nicht geladen gewesen.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja.

Verteidiger Gerhardt:

Danke, keine Fragen mehr.

Vorsitzender Richter:

Herr Joschko.

Verteidiger Joschko:

Herr Zeuge, auf welche Art und Weise haben Sie sich die Ablichtungen verschafft hinsichtlich der Deportationsliste von Theresienstadt und der Postkarten, die geschrieben wurden seinerzeit, vordatiert aus dem Lager?

Vorsitzender Richter:

Das hat der Zeuge uns auch schon gesagt. Aber wenn Sie es noch mal sagen wollen.

Verteidiger Joschko:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Diese Listen, die haben Sie aus?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Die stammen aus dem Archiv, die Ablichtungen. Bei den Transportlisten sind das die Ablichtungen, bei den Karten sind das die Originale, die in das Institut Yad Vashem wahrscheinlich gleich nach dem Kriege durch jemanden...

Vorsitzender Richter:

Eingeliefert worden sind, ja?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, weil man mir gesagt hat, das [könnte] mich vielleicht interessieren, als ich damals angefangen habe, über die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Deutschland zu arbeiten, und manchmal auch in das Institut kam. Man hat mir gesagt, das ist interessantes Material, das auch mich interessieren kann, [wegen] meiner eigenen Geschichte. Dann habe ich es angesehen und als echt erkannt aus meinen eigenen Erinnerungen und hielt es [+ für] zweckmäßig, es dem Gericht vorzulegen als Dokumente, die meine Aussage vielleicht ergänzen können.

Verteidiger Joschko:

Herr Zeuge, ist da nicht irgendein Widerspruch? Sie sagten, Sie befaßten sich nur mit Geschichte bis 1938. Und jetzt sagen Sie, Sie hätten ein Interesse daran gefunden, hinsichtlich dieses Auschwitz-Komplexes.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Also ich sage, das war persönlich. Entschuldigen Sie, ich kann es ganz

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

Nein, ich widerspreche dieser Frage. Ich möchte auf folgendes hinweisen: Dieser Widerspruch, wenn er überhaupt bestanden hätte, ist einmal aufgeklärt. Auch ich habe einmal Yad Vashem besucht. Auch mir hat man meine Karte von Dachau als Andenken übermittelt, weil dort die ganzen Dachauer Unterlagen liegen. Meine Karte, die Registrierkarte als Konzentrationslagerhäftling. Und obwohl ich mich nicht direkt mit den Dingen befasse, war ich natürlich interessiert, es anzunehmen.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Nebenklagevertreter Kaul:

Ich widerspreche dieser Frage.

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Kaul, es dreht sich hier darum, daß der Rechtsanwalt Joschko den Widerspruch aufklären will zwischen der Tatsache, daß der Zeuge sich wissenschaftlich nur mit den Ereignissen bis 1938 beschäftigt, und hier es sich um Ereignisse handelt, die nach 1938 vorgekommen sind.

Verteidiger Joschko:

Es ist eigentlich

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

[unverständlich] wissenschaftlich beschäftigt, daß er nach seiner wissenschaftlichen Tätigkeit diese Dokumente bekommen hat.

Vorsitzender Richter:

Warten Sie doch mal ab. Der Zeuge hat gesagt: »Man hat mir diese Karten gegeben, weil sie mich persönlich betreffen und weil man der Auffassung war, daß ich ein persönliches Interesse daran hatte.« Stimmt es?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ganz genau.

Vorsitzender Richter:

Gut.

Nebenklagevertreter Kaul:

Deswegen habe ich der Frage widersprochen.

Verteidiger Joschko:

So, damit ist die Frage jetzt beantwortet.

Vorsitzender Richter:

So. Ist die Frage beantwortet?

Verteidiger Joschko:

Herr Zeuge, eine allgemeine Frage noch. Sind Ihnen Fälle in Auschwitz bekannt, wonach SS- Wachmannschaften einem Häftling geholfen haben und dafür erschossen wurden?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Also hier möchte ich sagen, daß mir nur ein einziger Fall bekannt ist. Und zwar meiner Meinung nach [kam] es durch die Einwirkung der Lebensverhältnisse in diesem Theresienstädter Familienlager. Weil, wie schon gesagt, es war wie eine Insel von etwas Menschlichem oder menschlichen Beziehungen. Und es ist uns bekannt, daß ein SS-Mann mit einem Häftling aus unserem Lager, das heißt dem Theresienstädter Familienlager, aus dem Lager geflüchtet ist, und das war im Lager sehr gut bekannt. Und [er ist] nachträglich vermutlich nur zurückgekehrt, um noch eine andere Häftlingsfrau mit ihrer Mutter zu retten.[11] Es ging von Mund zu Munde, und den SS-Mann kannte ich ganz genau. Ich habe ihn in unserem Lager gesehen. Ich habe ihn nicht genannt, wie viele andere, aber ich kann ihn dem Namen nach auch nennen. Und ich sagte schon, daß das der einzige Fall war, daß ein SS-Mann einem Häftling geholfen hat. Wenn ich nicht den Fall des [SS-Mannes] Buntrock [+ nenne], der mich einmal mit dieser Bewegung »Hau ab!« auf die Seite der Lebenden geschickt hat, nachdem der mich zweimal zurückgewiesen hat. Aber ich will das in keinem

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ist die Frage beantwortet?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Falle vergleichen, ja, diese...

Vorsitzender Richter:

Keine Frage mehr? Von seiten der Angeklagten? Herr Doktor Lucas.

Angeklagter Lucas:

Ich bin von Januar bis März im Theresienstädter Lager als Arzt gewesen und habe das von mir her so auch bekundet. Der Herr

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Moment, Herr Doktor Lucas. Sie waren von Januar bis März im Theresienstädter Lager?

Angeklagter Lucas:

Im Lager.

Vorsitzender Richter:

Bisher ist mir nur bekannt, daß Sie ab Februar dort waren. Waren Sie im Januar schon da?

Angeklagter Lucas:

Ich will jetzt auf den Termin raus, wo das Lager liquidiert wurde. Da war ich schon abgelöst als Truppenarzt. Ich wollte nur sagen, der Zeuge wird mich sicherlich kennen als Lagerarzt, aber ich bin auf keinen Fall täglich mit Mengele ins Lager gekommen. Ich bin täglich im Lager gewesen, aber nicht mit Mengele. Das war ein Doktor König, der auch, wie hier Zeugen ja schon bekanntgegeben haben, bei der Liquidierung des Lagers dabei war. Bei der zweiten Liquidierung, da brauche ich ja überhaupt nichts dazu zu sagen. Also insofern erliegt der Zeuge, der ja damals elfjährig war, doch einem Irrtum.

Vorsitzender Richter:

Ja, Moment, Herr Doktor Lucas, also im März war die erste Liquidierung des Lagers. Da waren Sie ja

Angeklagter Lucas [unterbricht]:

Da war ich vorher abgelöst und wurde Truppenarzt.

Vorsitzender Richter:

Wo?

Angeklagter Lucas:

In Auschwitz bei der Truppe.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Da weiß ich nichts davon.

Angeklagter Lucas:

Doch.

Vorsitzender Richter:

Und dann waren Sie dort in Auschwitz bis Ende Juli 1944. Und da die zweite Liquidation auch in diese Zeit fällt, wäre es also theoretisch möglich, daß Sie beide Liquidationen mitgemacht hätten.

Angeklagter Lucas:

Ja, also ich war einwandfrei Lagerarzt. Wie das Theresienstädter Lager, das erste Lager, liquidiert wurde, da bin ich nicht gewesen. Das haben mir auch schon Zeugen bekundet, und ich bringe da auch noch Zeugen dafür bei, daß ich da Truppenarzt war und nicht dabei war. Im übrigen waren dort ja zehn oder zwölf Ärzte. Derjenige, der täglich dort mit Mengele zusammengekommen ist, das weiß ich nicht, jedenfalls, das ist König gewesen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Haben Sie sonst noch etwas zu sagen? Nichts mehr? Herr Doktor Lucas.

Angeklagter Lucas:

Nein, ich wollte nichts mehr dazu sagen. Ich wollte nur

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Sie wollten nichts mehr sagen?

Angeklagter Lucas:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Ja, und auf der Rampe hat der Zeuge Sie doch auch gesehen.

Angeklagter Lucas:

Ja, das entfällt ja dann wohl, wenn er sagt, ich wäre täglich mit Mengele im Lager gewesen. Das war der zweite Arzt, das war Lucas. Auf der Rampe bin ich gewesen. Ich bin aber nie, und das bin ich jederzeit gewillt zu beschwören, nie aktiv tätig geworden.

Vorsitzender Richter:

Ja. Herr Landgerichtsrat Hummerich.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ich muß Ihnen da etwas vorhalten. Seinerzeit drüben im »Römer« bei Ihrer Vernehmung zur Sache war der Zeitpunkt, in dem Sie im Lager eingetroffen sind, recht streitig. Und damals waren Sie bemüht, diesen Zeitpunkt später zu verlegen. Sie sprachen von dem Tod Ihrer Mutter. Wir haben dann mit mühseliger Befragung damals festgestellt, daß die Mutter ja schon vorher gestorben war. Und ich habe mir damals notiert, daß Sie im Februar zehn Tage im Urlaub gewesen wären, Ende Februar.

Angeklagter Lucas:

Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und jetzt wollen Sie Ihren ganzen Aufenthalt im Theresienstädter Lager vorverlegen

Angeklagter Lucas [unterbricht]:

Nein, nein

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Und sagen uns eben, von Januar bis März, und zwar bis Anfang März. Was ist denn nun richtig?

Angeklagter Lucas:

Nein, da muß ich widersprechen. Ich habe damals auch gesagt und habe Staatsanwalt Kügler gefragt: »Wann ist denn das Theresienstädter Lager das erste Mal liquidiert worden?« Zu dem Zeitpunkt war ich nicht mehr Lagerarzt.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ja, Herr Doktor Lucas, wir können uns nun nicht so orientieren, daß man den Zeitpunkt, wo man angekommen ist, so weit vorverlegt dann, daß man nicht mehr in Kollision gerät mit der ersten Liquidation des Theresienstädter Lagers. Was ist nun wahr? Was ist nun wahr? Wann kamen Sie an?

Angeklagter Lucas:

Ich war doch Lagerarzt, das habe ich doch jetzt auch wieder gesagt.

Vorsitzender Richter:

Wann kamen Sie an, fragt Sie der Herr Richter?

Angeklagter Lucas:

Ja, ich kann ja keinen genauen Zeitpunkt angeben. Es kann Januar oder Februar gewesen sein. Es geht, ich meine, jetzt doch nur darum, ob ich zur Zeit der Liquidierung des Theresienstädter Lagers dort gewesen bin, und das bin ich nicht.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Herr Doktor Lucas, es war doch eben offensichtlich Ihr Bestreben, als Sie einen gehörigen Zeitpunkt nennen wollten, daß Sie im Theresienstädter Lager waren, daß Sie den Januar griffen, daß wenigstens drei Monate rauskommen, weil der Zeuge Sie ja einige Zeit gesehen hat. Und wenn wir nun davon ausgehen würden, wie Sie es früher gesagt haben, daß der Anfang Ende Februar war, [dann würde] dieser Zeitraum, den der Zeuge uns gezeigt hat, die erste Liquidation mit decken. Das ist doch Ihre Situation. Denken Sie doch mal scharf nach, und sagen Sie uns endlich die Wahrheit.

Angeklagter Lucas:

Es ist doch damals auch so gewesen, daß ich einen genauen Zeitpunkt wirklich nicht angeben kann und daß ich versucht bin, so an Hand von gravierenden Ereignissen im Theresienstädter Lager zu sagen, daß zu dem Zeitpunkt ich nicht mehr Lagerarzt war, sondern Truppenarzt in Auschwitz war, wieder.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Herr Doktor Lucas, nach Ihrer damaligen Aussage, wenn man die Liquidation des Theresienstädter Lagers ausklammert, bleiben Ihnen für Ihren Aufenthalt im Theresienstädter Lager als zweiter Lagerarzt sage und schreibe etwas über drei Wochen nach meinem Zeitplan, den ich hier liegen habe. Diese drei Wochen stimmen aber nicht überein mit der klaren Aussage des Zeugen. Und deshalb ist es mir aufgefallen, daß Sie plötzlich den Anfang Ihrer Tätigkeit eben bei Ihrer Erklärung auf den Januar verlegt haben.

Angeklagter Lucas:

Nein.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und das ist Anlaß, Ihnen das vorzuhalten.

Angeklagter Lucas:

Nein, bei dem Untersuchungsrichter habe ich auch den Januar angegeben, aber ich kann

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Aber in der Hauptverhandlung nicht, und die Hauptverhandlung ist maßgebend.

Angeklagter Lucas:

Aber ich kann keinen genauen Termin angeben. Aber beim Untersuchungsrichter habe ich auch Januar angegeben.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Na schön, danke.

Angeklagter Lucas:

Stimmt das nicht?

Vorsitzender Richter:

Sind keine Fragen mehr zu stellen?

Nebenklagevertreter Ormond:

An Herrn Doktor Lucas.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ja, Augenblick noch, Sie kommen gleich. Bitte schön.

Nebenklagevertreter Ormond:

An Herrn Doktor Lucas. Herr Doktor Lucas, Sie haben doch die Aussagen des Zeugen hier gehört.

Angeklagter Lucas:

Ja.

Nebenklagevertreter Ormond:

Sind Sie regelmäßig, namentlich am Anfang, in Begleitung von Doktor Mengele in den Kinderblock gekommen und haben dort

Angeklagter Lucas [unterbricht]:

Nein.

Nebenklagevertreter Ormond:

Wollen Sie behaupten, daß Sie überhaupt nicht im Kinderblock gewesen sind?

Angeklagter Lucas:

Ich bin im Lager gewesen und habe mich um alle Teile des Lagers intensivst bemüht und sicherlich auch um die Kinder oder bestimmt um die Kinder. Aber nicht mit Mengele zusammen.

Nebenklagevertreter Ormond:

Der Zeuge hat uns hier erklärt, daß Sie im Lager Selektionen gelegentlich vorgenommen haben und auch auf der Rampe. Wollen Sie beides bestreiten?

Angeklagter Lucas:

Ich bestreite beides aufs ganz entschiedenste. Lagerselektionen, das [+ ist] völlig daneben. Auf der Rampe, habe ich gesagt, daß ich da gewesen bin, aber in keinster Weise, daß ich persönlich dort aktiv gewesen bin.

Vorsitzender Richter:

Ist noch eine Frage?

Nebenklagevertreter Ormond:

Danke sehr.

Vorsitzender Richter:

Der Herr

Angeklagter Bednarek [unterbricht]:

Herr Vorsitzender, die mir vorgeworfene Tat habe ich nicht begangen.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie nicht begangen.

Angeklagter Bednarek:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Tja. Er hat Sie aber doch gesehen?

Angeklagter Bednarek:

Nein, ich [unverständlich]

Vorsitzender Richter:

Na, dann nehmen Sie bitte Platz. Wird das Wort sonst noch gewünscht? Baretzki?

Angeklagter Baretzki:

Herr Vorsitzender, ich will nur dazu sagen, beim Fußmarsch war ich nicht dabei. Ich bin vorher mit einem Transport nach Dachau gefahren.

Vorsitzender Richter:

Wie, was? Wo waren Sie nicht dabei?

Angeklagter Baretzki:

Beim Rückmarsch war ich nicht dabei, ich bin ja vorher mit dem Zug nach Dachau gefahren, in einem Güterzug.

Vorsitzender Richter:

Wo war er nicht dabei?

Richter Perseke:

Beim Rückmarsch, beim Evakuierungsmarsch.

Vorsitzender Richter:

Ach so, beim Rückmarsch, bei der Evakuierung.

Angeklagter Baretzki:

Da war der Arbeitsdienstführer Leischow auch dabei.

Verteidiger Gerhardt:

Der Arbeitsdienstführer Leischow, der hier unter Eid ausgesagt hat, er hätte sich in eine Junkerschule gemeldet, ist mit dem Angeklagten Baretzki gemeinsam Anfang Januar nach Dachau gefahren.

Vorsitzender Richter:

Also, Herr Zeuge, der Angeklagte Baretzki sagt, er sei bei dem Rückmarsch gar nicht mehr dort gewesen. Haben Sie das gehört?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja. Also ich habe ganz genau gesagt, daß an dem ersten Tage – das war der erste Tag nach der ersten Nacht, das heißt, es könnte der 19. Januar gewesen sein – ich diese Szene beobachtet habe. Ich kann nichts anderes machen, als meine Worte bestätigen.

Vorsitzender Richter:

Also Sie haben gesehen, daß Baretzki hinter Ihrem Zug herging, und Sie wissen auch, daß ein Mithäftling, der sich den Fuß gebrochen hatte

Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]:

Ja. Oder ich bin nicht sicher, ob den Fuß gebrochen, jedenfalls ist er hingefallen und konnte nicht gehen. Und wahrscheinlich hat [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Konnte nicht gehen, der blieb zurück, und Baretzki hat angeordnet, daß er liegengelassen werden sollte.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Und das war ganz klar, was es bedeutet.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Und das war Baretzki, und da irren Sie sich nicht in der Person?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Meinem Gewissen nach nicht.

Vorsitzender Richter:

Nicht.

Verteidiger Gerhardt:

Ich weiß nicht, ob die Frage schon beantwortet war. Herr Zeuge, waren Sie mit Ihrem Stiefvater[12] gemeinsam auf dem Rückmarsch? [...]

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ja, ich war gemeinsam mit

Verteidiger Gerhardt [unterbricht]:

Bleiben Sie auch jetzt noch dabei, daß es der hier sitzende Angeklagte Baretzki ist, den Sie in Erinnerung haben, wenn ich Ihnen vorhalte, daß Ihr Stiefvater bei seiner Vernehmung hier erklärt hat, mit letzter Sicherheit erklärt hat, daß der Baretzki nach seiner Auffassung, also nach der Auffassung Ihres Stiefvaters, diejenige Person ist, die auf dem Ihnen vorhin gezeigten Bild ist.

Zeuge Otto Dov Kulka:

Bitte? Noch einmal, bitte.

Verteidiger Gerhardt:

Ihr Stiefvater hat bei seiner Vernehmung hier erklärt, nachdem man ihm das Bild vorgelegt hat, das man Ihnen auch gezeigt hat, daß die dort abgebildete Person Baretzki sein soll.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Richter Perseke:

Hat er auch gesagt.

Vorsitzender Richter:

Er hat es doch auch gesagt.

Verteidiger Gerhardt:

Ja. Ja, gut, er hat aber hier nach Zögern dann gemeint, daß hier der Baretzki sitzt. Und ich wollte ihm vielleicht noch mal das vorhalten.

Vorsitzender Richter:

Ich verstehe Sie nicht, Herr Rechtsanwalt. Erstens sitzt dort der Baretzki, das ist ja nun eine Tatsache, die feststeht. Zweitens einmal hat er nach langem Zögern gesagt: »Nicht Broad ist der Baretzki, da habe ich mich geirrt, sondern ich erkenne jetzt Baretzki wieder.« Und drittens hat er gesagt: »Die Person, die hier auf dem Bild abgebildet ist, ist auch Baretzki.« Und dasselbe hat sein Stiefvater gesagt.

Verteidiger Gerhardt:

Na gut.

Vorsitzender Richter:

Ich verstehe jetzt nicht, was Sie ihm für einen Vorhalt machen wollen.

Verteidiger Gerhardt:

Nein, ich lasse die Frage fallen.

Vorsitzender Richter:

So.

Verteidiger Gerhardt:

Ja, die Zuhörer sollten doch etwas ruhig sein. Die Verbrechen, die in Auschwitz passiert sind, die sind unter der damaligen Billigung der Staatsanwaltschaft passiert!

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Verzeihen Sie, Herr Rechtsanwalt Gerhardt, seit wann ist es in der Strafprozeßordnung vorgesehen, daß ein Anwalt mit den Zuhörern sich unterhält?

Verteidiger Gerhardt:

Ich gebe Ihnen recht, aber

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ich danke schön, und bitte nehmen Sie jetzt Platz.

Verteidiger Gerhardt:

Vielleicht könnten Sie dann die Zuhörerschaft noch mal hinweisen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Herr Zeuge, können Sie das, was Sie gesagt haben, mit gutem Gewissen beschwören?

Zeuge Otto Dov Kulka:

Ja, ich kann es beschwören.

  1. Siehe Anlage 2 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 30.07.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 100.
  2. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 13.06.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 69, Bl. 12.871.
  3. Vgl. Anlage 3 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 30.07.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 100.
  4. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 13.06.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 69, Bl. 12.872.
  5. Die sogenannte 2. Liquidation des Theresienstädter Familienlagers fand am 10. u. 11.07.1944 statt. Vgl. Czech, Kalendarium, S. 820.
  6. Foto »Rampe mit SS-Leuten«, Sommer 1944, Lili Meier Album, Anhang. Das Foto wurde aus dem Album entnommen und verblieb in Prag. Vgl. The Auschwitz Album. Lili Jacob's Album. Ed. by Serge Klarsfeld. New York 1980.
  7. Der Zeuge Kulka »erkannte aus den Reihen der Angeklagten: Dr. Lucas, Nr. 2 im Kinderblock gesehen (Mulka), Bednarek, Baretzki und erklärte auf Kaduk zeigend: ›Dieser Angeklagte ist mir sehr bekannt‹, und weiter: ›Diesen Angeklagten habe ich an der Rampe gesehen. Ich kann aber nicht mit Sicherheit sagen, daß er selbständig selektiert hat.‹ (meint Dr. Capesius).« Protokoll der Hauptverhandlung vom 30.07.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 100, Bl. 550.
  8. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 13.06.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 69, Bl. 12.871 f.
  9. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 13.06.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 69, Bl. 12.858.
  10. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 13.06.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 69, Bl. 12.872.
  11. Am 05.04.1944 floh mit Hilfe des SS-Mannes Viktor Pestek der Häftling Siegfried Lederer aus dem Lager. Vgl. Czech, Kalendarium, S. 749 und Auschwitz 1940-1945, Bd. IV, S. 275. Pestek wurde später festgenommen und am 08.10.1944 erschossen. Vgl. Auschwitz 1940-1945, Bd. IV, S. 276.
  12. Gemeint ist der Zeuge Erich Kulka.
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