Zeugin Erna Krafft
1. Frankfurter Auschwitz-Prozess
»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63
Landgericht Frankfurt am Main
107. Verhandlungstag, 2.11.1964
Vernehmung der Zeugin Erna Krafft
Vorsitzender Richter:
Erna.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Sie sind eine geborene?
Zeugin Erna Krafft:
Kempermann.
Vorsitzender Richter:
Kempermann. Wie alt sind Sie denn?
Zeugin Erna Krafft:
58 Jahre.
Vorsitzender Richter:
58 Jahre alt. Sind Sie von Beruf Verwaltungsangestellte gewesen, jetzt Rentenempfängerin?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, war ich.
Vorsitzender Richter:
Und Sie wohnen wo?
Zeugin Erna Krafft:
In Aurich.
Vorsitzender Richter:
In Aurich. Sind Sie mit den Angeklagten nicht verwandt und nicht verschwägert?
Zeugin Erna Krafft:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Nein. Frau Krafft, Sie sind während des Kriegs verhaftet worden.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Und zwar deshalb, weil Sie einer Aufforderung, in einer Rüstungsfabrik zu arbeiten, nicht Folge geleistet haben.
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Der eigentliche Grund lag aber früher. Ich habe nach der Kristallnacht 1938 jüdischen Bekannten geholfen. Also, ich bin zu ihnen gefahren nach dieser...
Vorsitzender Richter:
Kristallnacht.
Zeugin Erna Krafft:
Kristallnacht und habe ihnen versucht zu helfen. Das ist gesehen worden, und ich wurde von der Gestapo verhaftet, und man hielt mich sechs Wochen in Gestapo-Haft. Seit dieser Zeit hatte ich das Prädikat »politisch unzuverlässig«. Was ich aber nicht wußte, das erfuhr ich erst, als mein Transportbogen zum Ravensbrücker Konzentrationslager 1940 erstellt wurde. Da stand das drin.
Vorsitzender Richter:
Ja. Sie sind also verhaftet worden, und nach Ihrer Verhaftung sind Sie, wie Sie uns eben sagten, zunächst nach Ravensbrück gekommen. Sie haben in Ravensbrück auch einen Winkel bekommen. Und zwar welcher Farbe?
Zeugin Erna Krafft:
Den schwarzen Winkel.
Vorsitzender Richter:
Den schwarzen Winkel. Und sind nach einiger Zeit, und zwar etwa im März 1942, nach Auschwitz transportiert worden.
Zeugin Erna Krafft:
Ganz recht.
Vorsitzender Richter:
Das stimmt so?
Zeugin Erna Krafft:
Zu der Zeit, als ich wegen Arbeitsverweigerung verhaftet wurde, wurde für dieses Delikt noch der schwarze Winkel gegeben, erst seit 41 der rote.
Vorsitzender Richter:
Aha. Und als Sie nun in Auschwitz ankamen, bekamen Sie welche Häftlingsnummer?
Zeugin Erna Krafft:
279.
Vorsitzender Richter:
279. Und bekamen dort welchen Winkel?
Zeugin Erna Krafft:
Auch den schwarzen Winkel.
Vorsitzender Richter:
Auch zunächst den schwarzen.
Zeugin Erna Krafft:
Ja, das blieb. Das blieb, ja. [...]
Vorsitzender Richter:
Und nachher wurde der schwarze Winkel in einen roten umgeändert?
Zeugin Erna Krafft:
Tja, das sollte. Das stand auch überall geschrieben, aber ich habe da wenig Wert drauf gelegt.
Vorsitzender Richter:
Ja. Und der schwarze Winkel bedeutete?
Zeugin Erna Krafft:
Der schwarze Winkel war an sich ja asozial.
Vorsitzender Richter:
Asozial.
Zeugin Erna Krafft:
Also arbeitsscheu.
Vorsitzender Richter:
Arbeitsscheu.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Nun, Sie waren in Auschwitz vom März 42 bis wann?
Zeugin Erna Krafft:
Ich glaube, es war der 26. März.
Vorsitzender Richter:
Sind Sie eingeliefert worden? Und am 6. Dezember 43 entlassen worden?
Zeugin Erna Krafft:
44.
Vorsitzender Richter:
Ja? Sie hatten einmal gesagt bei Ihrer Vernehmung: »Am 6. Dezember 43 wurde mir vom Lagerkommandanten eröffnet, daß ich entlassen werden sollte. Was dann tatsächlich auch nach dem Ablauf eines Quarantänemonats geschah.«[1]
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Ich war ja ein Jahr vor dem Lager dienstverpflichtet, und zwar wegen politischer Unzuverlässigkeit.
Vorsitzender Richter:
Ja, Frau Zeugin, damit wir uns zunächst nicht mißverstehen: Sind Sie nun am 6.12.43 formell von dem Lagerkommandanten entlassen worden und nach einem Monat Quarantäneaufenthalt auch wirklich entlassen worden, oder war das erst 44? War doch wohl 43, denn im Januar 45 ist ja schon das Lager
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Auschwitz evakuiert worden, ja. Also über ein Jahr war ich da.
Vorsitzender Richter:
Über ein Jahr waren Sie da. Von März 42 bis Ende 43?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. [...]
Vorsitzender Richter:
Nun, Frau Zeugin, Sie sind gleich eingesetzt worden. In welcher Tätigkeit?
Zeugin Erna Krafft:
Also, wir waren etwa zwei Stunden in Auschwitz, und zwar war es vom Männerlager abgeteilt worden, unser
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Im Lager I?
Zeugin Erna Krafft:
Block von 1 bis 10.
Vorsitzender Richter:
Ja. Im Stammlager?
Zeugin Erna Krafft:
Stammlager. Und da begann der erste Judentransport. Und dann kam der Grabner, der war von der Politischen Abteilung. Wir wußten ja damals alle nach zwei Stunden
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Nicht, wer es war.
Zeugin Erna Krafft:
Nicht, was eigentlich los war. Nein, Moment, ich möchte mich berichtigen: Die Registrierungen begannen nicht am selben Tage. Die begannen erst einige Tage später, also die Registrierungen der ankommenden jüdischen Häftlinge.
Vorsitzender Richter:
Ja, und da kam damals die Oberaufseherin zu Ihnen, ja, die Frau Langefeld?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, der Grabner kam dann und suchte Häftlinge aus, die in der Politischen Abteilung die Registrierungen vorzunehmen hatten, wovon ich die einzige war mit schwarzem Winkel.
Vorsitzender Richter:
Ja. Ja, und Sie wurden also dann eingeteilt in die Politische Abteilung und wurden dort als Schreiberin verwendet?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. [...]
Vorsitzender Richter:
Und dort sind Sie tätig gewesen bis wann?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, bis wir ins Lager Birkenau[2] kamen.
Vorsitzender Richter:
Und das war wann?
Zeugin Erna Krafft:
Etwa im Juli oder August.
Vorsitzender Richter:
August 42.
Zeugin Erna Krafft:
42.
Vorsitzender Richter:
Ja. Und da wurden Sie dann beschäftigt in der Häftlingsschreibstube Birkenau?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. [...]
Vorsitzender Richter:
Waren Sie auch mal in der Strafkompanie?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Und warum?
Zeugin Erna Krafft:
Wegen Judenbegünstigung.
Vorsitzender Richter:
Wegen Judenbegünstigung. Und zwar im Lager begangen?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, es war nämlich so: Es ist eine sehr schwierige Geschichte zu erklären. Ich hatte nun die Häftlingsschreibstube, und bei mir arbeiteten Jüdinnen. Und es wurden doch jeden Tag Selektionen gemacht, und die Ankommenden wurden auch wieder bei uns registriert. Und ich habe dann sehr viel mehr Häftlingskarteikarten verschwinden lassen. Und so entstand ein ziemliches Durcheinander, weil damals ja noch nicht tätowiert wurde. Und so gab es lebende Tote und tote Lebende im Lager. Das führte dazu, daß der Zählappell nie stimmte. Und zwar weder der Morgen- noch der Abendappell. Und dann kam man dann darauf, daß ich diesen Wirrwarr hervorgerufen haben mußte, um irgendwelchen jüdischen Häftlingen zu helfen. Ich will Ihnen das erläutern: Wenn die Lagerstärke sagen wir, 10.000 war und Selektionen waren gewesen und 1.000 kamen in die Gaskammer, mußten ja beim Zählappell
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
1.000 fehlen.
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Und es waren aber dann täglich
Vorsitzender Richter:
Mehr.
Zeugin Erna Krafft:
17, 20, 25 und 30 mehr da, die wir aus diesem zählenden Haufen herausgeholt hatten und wieder ins Lager hineingebracht hatten.
Vorsitzender Richter:
Ja. Nun, Frau Zeugin, bei der Politischen Abteilung waren Sie in welcher Unterabteilung beschäftigt?
Zeugin Erna Krafft:
Nachdem die Registrierungen in Auschwitz im Stammlager begonnen hatten, waren wir zunächst, ich glaube, auf Block 2 oder 3. Wir kamen jedenfalls nach Block 4. Und da bekam ich den Auftrag von Grabner, ein Hauptbuch zu führen. Es war ein ziemlich dickes Buch, so dick. Mittlerweile waren aber doch täglich, Anfang 42, laufend weiter Häftlinge gekommen, und wir haben ja erstens nur auf Karteikarten registriert, dann aber mußte
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Das umgeschrieben werden auf das Hauptbuch.
Zeugin Erna Krafft:
Das Hauptbuch. Und das
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Das machten Sie?
Zeugin Erna Krafft:
Wurde mir übertragen. Und ich stand also da einem Pult und schrieb. Mußte nun alles nachholen.
Vorsitzender Richter:
Ja. Nun sagen Sie bitte, wie nannte sich diese Unterabteilung von der Politischen Abteilung?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, also ich
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Hieß die Aufnahme?
Zeugin Erna Krafft:
Die Aufnahme. [...]
Vorsitzender Richter:
Und wer war der Leiter dieser Aufnahme?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, an sich war es Grabner.
Vorsitzender Richter:
Na, Grabner war ja der Chef der gesamten Politischen Abteilung.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Wer war der Chef der Aufnahme?
Zeugin Erna Krafft:
Aber dann kam Stark.
Vorsitzender Richter:
Dann kam Stark? Wann war das ungefähr, wie Stark kam?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, nicht sofort, die Zeit kann ich nicht mehr angeben, aber er war nicht sofort da.
Vorsitzender Richter:
Nicht sofort da. War er dann ununterbrochen da, solange Sie dort waren?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Oder war er auch ab und zu mal abwesend?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, also soweit ich das Hauptbuch geführt habe in dieser Zeit, da, meine ich, wäre er immer dagewesen. Also ich bin der festen Überzeugung, daß er immer da war.
Vorsitzender Richter:
Und Sie haben das Hauptbuch geführt bis zum März 42, wo Sie rüberkamen?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Bis zum März 42, ja?
Staatsanwalt Vogel:
Nein.
Zeugin Erna Krafft:
Nein.
Staatsanwalt Vogel [unterbricht]:
Von März 42 bis [unverständlich]
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Von März 42.
Zeugin Erna Krafft:
Bis Juli/August 42
Staatsanwalt Vogel [unterbricht]:
Juli/August 42.
Vorsitzender Richter:
Ach so, Sie kamen erst im März 42 hin, richtig. August 42 bis wann?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, das Hauptbuch ging ja mit nach Birkenau.
Vorsitzender Richter:
Etwa ein Jahr?
Zeugin Erna Krafft:
Das Hauptbuch ging mit, ja.
Vorsitzender Richter:
Was?
Zeugin Erna Krafft:
Mit nach Birkenau. Dann wurden wieder die Karteikarten in Birkenau ausgeschrieben und auch wieder ins Hauptbuch übertragen.
Vorsitzender Richter:
Ja, das müssen wir doch jetzt noch mal feststellen. Also Sie sind im März 42 hingekommen und haben gesagt, im August 42 kamen Sie nach Birkenau?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Das heißt also, Sie haben wie lange nun das Hauptbuch geführt? Sie sind im März hingekommen. Da hatten Sie zunächst diese Karteikarten.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Und dann bekamen Sie das Hauptbuch, und im August 42 kamen Sie nach Birkenau.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Sie können also praktisch dieses Hauptbuch nur geführt haben von frühestens April bis August.
Zeugin Erna Krafft:
Ja, wir nahmen es ja mit nach
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Sie haben es mitgenommen. Nein, ich meine jetzt nur die Zeit in Auschwitz I.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Das waren also ungefähr ein paar Monate, von April bis August.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
42?
Zeugin Erna Krafft:
Hm.
Vorsitzender Richter:
[Pause] Und in dieser Zeit, sagten Sie, war auch Stark dort.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Und Stark war der Leiter dieser sogenannten Aufnahmeabteilung. Hat Stark Ihre Tätigkeit und Ihre Arbeit überwacht?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Wie sah denn Stark damals aus?
Zeugin Erna Krafft:
Er war ein schlanker Bursche.
Vorsitzender Richter:
Wie alt ungefähr?
Zeugin Erna Krafft:
Also dieses Bürschchen war damals vielleicht 20 Jahre.
Vorsitzender Richter:
Ja. Und welche Haare hat er gehabt?
Zeugin Erna Krafft:
Rotblond.
Vorsitzender Richter:
Und welche Augen?
Zeugin Erna Krafft:
Hellblau.
Vorsitzender Richter:
Hellblaue Augen. Und der kam und hatte Ihre Arbeit überwacht?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Ja. Nun, können Sie sich noch entsinnen an eine Jüdin, und zwar eine slowakische Jüdin mit dem Vornamen Flora?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, leider. [...]
Vorsitzender Richter:
Flora, den Nachnamen wissen Sie nicht?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, der ist im Hauptbuch. Die ersten 1.000 waren wir Deutschen, die wir von Ravensbrück kamen. Und die kam dann ziemlich früh. Sie war eine ältliche, sehr bescheidene, sehr
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ängstliche.
Zeugin Erna Krafft:
Ängstliche Frau. Was vorausgegangen war, war doch, daß sie erst mal all ihrer Habe beraubt wurden. Ihre Haare wurden geschoren, und sie kamen in alte Russenanzüge, und in dem sogenannten Bad wurden ihnen die Haare geschoren. Und durch diese entsetzlichen Ereignisse war diese Frau vollkommen verwirrt, also was wir ja täglich immer wieder erlebten. Aber diese Frau war nun besonders, sagen wir, labil, und sie war also wirklich sehr ängstlich. [...]
Vorsitzender Richter:
Ja, und was geschah denn mit dieser Frau?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, also Stark kam nun jeden Tag. Also das erste, was er machte, er kontrollierte mein Hauptbuch. Wie weit ich war mit dem Nachtragen, daß ich up to date wurde. Und dann war es ihm eine sehr liebe Gewohnheit, die ankommenden, so geschundenen Häftlinge zu traktieren, mit Worten, und auch zu schockieren durch sein besonders brutales Verhalten diesen Menschen gegenüber. Und so kam eines Tages auch diese Flora.
[Pause] Darf ich Ihnen das einmal beschreiben? Hier war ein Fenster, hier stand mein Pult. Hinter mir war die Tür. Es ging einige Stufen runter, dann war hier das Fenster. Dort war das Tor, wo Stark jeden Tag erschien, oder Aumeier oder Grabner und so weiter. Und nun war Stark im Raum, wo registriert wurde. Er kam grade von meinem Hauptbuch. Da kam diese Flora an die Reihe. Und da brüllte er sie an: »Wie heißt du?« Und sie nannte ihren Namen. »Lauter!« Sie nannte wieder ihren Namen. »Lauter!« Und: »Lauter!« Die Frau konnte gar nicht mehr, war unmöglich. Sie konnte gar nicht lauter schreien, ihren Namen schreien. Also angeblich verstand er ihren gezeterten Namen nicht, aber dann schrie sie laut und immer wieder. Und dann kam eine Szene, die ich nie vergessen werden. Da sagte er: »Raus!« Er brüllte sie dann an: »Raus!« Also vor mein Fenster. Er trat sie. Da war so ein kleines Flürchen, hier war noch diese Tür, kleine Tür, drei Stufen. Wenn Sie Block 4 sehen, werden Sie das so plastisch erkennen, wie ich es Ihnen jetzt sage. Er trat sie, daß sie
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Die Stufen runterfiel.
Zeugin Erna Krafft:
Also, er trat sie derartig brutal, daß sie fiel. Dann mußte sie sich neben mein Fenster stellen und sollte hundertmal also ihren Namen rufen. Dann kam er zu mir und sagte, ich solle aufpassen, daß sie hundertmal ihren Namen da draußen ruft. Er ging weiter durch den Raum zu den Registriertischen, wo die übrigen Häftlinge saßen, registrierten, Hildegard Schuleit zum Beispiel, Eugenia Schuloff. Und dann kam er plötzlich zu mir an meinen Tisch gesprungen. Also er hatte eine so katzenhafte, sprunghafte Art. »Wie oft hat die da draußen gerufen?« Na, an diesem Tage, es war kalt. Es war also naß, sehr windig vor allen Dingen. Und die Frau stand nun vor meinem Fenster und schrie dauernd ihren Namen. Um die dann draußen zu erlösen... Fragte er mich, wie oft diese Frau, Flora, ihren Namen gerufen hat. Na, da habe ich gesagt, annähernd 96mal. Weil die Zeit aber sehr kurz war, schrie er mich an und sagte: »Was?« Rannte raus, fragte die vor dem Fenster stehende Frau, wie oft sie den Namen nun gerufen hat, und die sagte ihm die richtige Zahl. Das war weit weniger. Da kam er zu mir reingerannt und sagt: »Wie oft hat die da draußen gerufen?« Und dann brüllte er mich an. Er stuckte mich, wie er das so in der Gewohnheit hatte, und sagte, wieso ich ihn belogen hätte. Da habe ich gesagt: »Ich habe eben, sagen wir, 96mal gezählt.« Und da hat er geschrieen: »Raus! Danebenstellen! Ich darf meine Vorgesetzten nicht belügen!«
Da ich nun schon sehr lange im Lager war, doch immerhin schon zwei Jahre Ravensbrück hinter mir hatte und von Stark und Genossen ziemlich viel gewohnt war, war mir alles einerlei, und ich habe gesagt: »Das mache ich nicht!« In dem Moment sah ich – wie ich schon beschrieben habe, man konnte sehen, wer kam – Grabner und Aumeier. Also ich muß sagen, wenn Grabner dabei war, dann war er einigermaßen gemäßigt. Gemäßigter als sonst, wenn er alleine war. Und ich sah Aumeier und Grabner kommen, und ich habe gesagt: »Ich mache das nicht.« Er brüllte, er faßte an seine Pistolentasche, wir wußten damals schon, das Ding ging leicht bei ihm los. Und in dem Moment kamen Grabner und Aumeier rein. »Was ist hier los?« Und dann hat er das gesagt, also: »Die weigert sich, da rauszugehen, was ist das?« Dann hat der Grabner gesagt: »Lassen Sie das, die soll ihr Hauptbuch führen! Die muß das«
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Arbeiten.
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Na, so, nicht? Und der Aumeier, der nannte uns ja nur Mistbienen, der Untersturmführer. Mistbiene war der Lieblings- und Magenausdruck für
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Frauen.
Zeugin Erna Krafft:
Ja, für uns alle. Und dann ging Grabner wieder weg. Und jetzt kommt dieses Niederträchtige dabei: Grabner ging weg mit Aumeier. Und der Stark kam nach kurzer Zeit wieder rein und sagte, nach dem Zählappell soll ich in die Schreibstube gehen und hundertmal aufschreiben: »Ich darf meine Vorgesetzten nicht belügen.« Ich durfte die Häftlingsschreibstube ohne Aufseherin ja nicht betreten. Also ich wäre ja dafür furchtbar bestraft worden. Das war dem Herrn Stark natürlich genau bekannt.
Wir hatte eine Lagerläuferin, Ewa Weigel, die wohnt heute in Leipzig, ist verheiratet mit einem Herrn Laube. Die rannte zur Oberaufseherin Langefeld. Denn die Lagerläuferinnen durften so durchs Tor. Der erzählte ich, was vorgekommen war mit Stark. Und da kam die Oberaufseherin Langefeld mit der Lagerläuferin zurück, ließ sich von mir noch mal sagen, was vorgekommen war. Und daraufhin verbot sie mir diese Strafarbeit. Am andern Morgen kam ganz früh schon Stark: »Strafarbeit?« Sage ich: »Ich habe keine.« Ich habe gedacht, der zerspringt in der Luft. So wütend wurde der. Wie gesagt, die Oberaufseherin hat es mir verboten. Und in dem Moment kam auch die Oberaufseherin Langefeld. Und die hat ihm das bestätigt. Ein paar Tage später – ich kann nur nicht sagen, handelte sich das nun um einen Tag oder um zwei Tage nach diesem Vorfall –, jedenfalls kurz drauf stand ich an meinem Pult und sah den Stark vorbeigehen mit dieser Flora. Die habe ich mir natürlich
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Gemerkt.
Zeugin Erna Krafft:
Durch diese Vorfälle genauestens eingeprägt, währenddem das ja oft bei den ankommenden Häftlingen gar nicht möglich war. Und er ging mit ihr durchs Tor. Es dauerte eine Weile, da kam er wieder, da sagte er mir: »So, die habe ich erledigt. Und du bist die nächste. Ich finde schon einen Grund, verlaß dich drauf.«
Vorsitzender Richter:
Und haben Sie nachher
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Also, er hat mir ganz deutlich erklärt, nicht nur mir, auch alle anderen, die in der Schreibstube tätig waren, wissen, daß er gesagt hat, er hat die Jüdin erledigt.
Vorsitzender Richter:
Ja.
Zeugin Erna Krafft:
Oder höchstpersönlich sogar oder so ähnlich. Also jedenfalls war es unmißverständlich.
Vorsitzender Richter:
Haben Sie denn nachher auch den Tod dieser Frau im Hauptbuch irgendwie vermerkt?
Zeugin Erna Krafft:
Er müßte drinstehen an sich. Ich kann das aber nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber er müßte drinstehen.
Vorsitzender Richter:
Müßte drinstehen.
Zeugin Erna Krafft:
Das Hauptbuch soll, soviel ich weiß, vorhanden sein.
Vorsitzender Richter:
Tja. Nun
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Dann eine andere Sache: Währenddem ich noch am Hauptbuch schrieb und in dieser Abteilung war, kam eines Tages die jüdische Blockälteste von Block 10.
Vorsitzender Richter:
War das damals schon der Versuchsblock? Oder wurden damals noch keine Versuche gemacht?
Zeugin Erna Krafft:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Damals noch nicht.
Zeugin Erna Krafft:
Das waren damals immer noch Ankommende also, und die Blocks nach der Reihe wurden, wie sie kamen, belegt bis 10. Also ich stand, das wußte ja jeder, daß ich da schrieb. Und man sprach ja auch mit den Häftlingen, und wenn man gut zu ihnen war oder wenn auch mal ein gutes Wort oder so kam, das hat sie immer getröstet oder war eben immer gut. Und eines guten Tages – also ich stand an meinem Pult, an dem Fenster –, da kommt die jüdische Blockälteste von Block 10 und sagt zu mir: »Willst du mal was sehen? Dann komm schnell.« Und so ohne weiteres konnte ich ja aus der Schreibstube nicht weg. Ich mußte mir erst eine Karteikarte nehmen von Block 10 und die Aufseherin fragen: »Darf ich mal eben?« »Ja.« Dann hinter der her. Und wir gingen nun, die guckte sich immer um nach mir, also das war so eine Eile. Ich denke, was Wunder, was will sie nur? Was sie wollte, hat sie mir nicht gesagt. Und sie rannte vor mir die Treppen rauf, und da waren die Wände verschalt.
Vorsitzender Richter:
Die Fenster?
Zeugin Erna Krafft:
Die Fenster verschalt. Aber die Häftlinge hatten Astlöcher rausgestoßen. Und da zeigte die Blockälteste, nachdem ich nun hinter ihr angekommen war, da auf so ein Astloch. Und da lag ein Stapel Männerleichen, nackt, welche standen an der Wand, wurden die erschossen. Da war Stark auch bei.
Vorsitzender Richter:
Haben Sie auch gesehen, wie Leute erschossen worden sind?
Zeugin Erna Krafft:
Ich will Ihnen das genau erklären: Ich war ja nun ahnungslos, ich war in Block 10 noch nicht gewesen und wußte nicht, was da eigentlich los war. Denn diese Blocks waren alle fürchterlich...
Vorsitzender Richter:
Überfüllt?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, nein, Ungeziefer, Flöhe, Myriaden von Flöhen. Also möglichst ging man gar nicht in so einen Block. Weil man mit seinem eigenen genug zu tun hatte. Und da zeigte die da auch das Astloch. Und ich gucke da durch und sehe mit dem Blick – das war ein Astloch, man kann schon ganz schön durchgucken – die Männerleichen, da wie die anlegten und da die an der Schwarzen Mauer, ich habe mich vor Entsetzen erbrochen. Da waren aber außer denen, die an der Mauer standen, noch mehrere da.
Vorsitzender Richter:
Was? Häftlinge oder?
Zeugin Erna Krafft:
Häftlinge.
Vorsitzender Richter:
Häftlinge. Und was taten die?
Zeugin Erna Krafft:
In dem Moment, wo ich da durchguckte und das erfaßte, erbrach ich mich. Und dann habe ich doch geguckt. Da waren die schon weg, und da war alles weg. Da lag ja bloß ein riesiger Stapel Männerleichen
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Geschichtet.
Zeugin Erna Krafft:
Geschichtet, na, wie man Festmeter Holz aufschichtet. Dann stand da noch so ein Ackerwagen, und die Häftlinge waren schon dabei, diese
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Leichen da drauf zu werfen.
Zeugin Erna Krafft:
Ein Schwung, und, na rauf und, ach, das war furchtbar. Und da bei dieser Exekution war Herr Stark auch dabei.
Vorsitzender Richter:
Ja, und wie Sie ihn nun gesehen haben, hat er da geschossen? Oder hat er ein Gewehr dabeigehabt?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. [...]
Zeugin Erna Krafft:
Ein Gewehr hatte er dabei. Das haben Sie gesehen? Wie sah denn das Gewehr aus?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, wissen Sie, ich sagte Ihnen doch, ich erbrach mich. Und dann blaffte das immer so komisch. Ich bin technisch vollkommen unbegabt. Also Gewehr, ich denke mir, wie die das alle gehabt haben, aber...
Vorsitzender Richter:
War es klein oder groß? Besonders groß, besonders klein? Ist Ihnen nichts aufgefallen?
Zeugin Erna Krafft:
Das weiß ich nicht. Das kann ich Ihnen nicht sagen. Also besonders groß
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Wie hat es denn der Stark in dem Augenblick, als Sie ihn gesehen haben, gehalten? Hatte er es da auf dem Rücken, oder hatte er es in der Hand oder unterm Arm oder? Können Sie sich an das Bild noch erinnern?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Ich möchte keinem Unrecht tun, aber er legte an.
Vorsitzender Richter:
Er legte an?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, aber nicht alleine, da waren noch mehr.
Vorsitzender Richter:
Und wie weit stand er denn da ungefähr entfernt von denjenigen, die da erschossen worden sind?
Zeugin Erna Krafft:
Oh, Kinder! So riesengroß war dieser Hof nicht.
Vorsitzender Richter:
Ja, stand er direkt hinter ihnen, oder stand er einige Meter davon fort?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, die Todeskandidaten standen hier.
Vorsitzender Richter:
Wenn man mal sagen wollte, daß dieser Tisch da die Wand gewesen wäre, da standen die Todeskandidaten doch unmittelbar da dran?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. [...]
Vorsitzender Richter:
Unmittelbar daran.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Und wo hier im Raum ungefähr stand dann wohl Stark?
Zeugin Erna Krafft:
Na, vielleicht an der Mauer, oder
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Sie dachten also diese Entfernung hier?
Zeugin Erna Krafft:
Also ich kann das nicht genau sagen.
Vorsitzender Richter:
Wissen es nicht mehr genau.
Zeugin Erna Krafft:
Das weiß ich nicht. Ich war nur so wahnsinnig entsetzt, denn kurze Zeit nach dieser Sache ging er pfeifend durchs Lager. Er konnte ja nicht ahnen, was
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Daß Sie das gesehen haben?
Zeugin Erna Krafft:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Aber darüber besteht kein Zweifel?
Zeugin Erna Krafft:
Kein Zweifel.
Vorsitzender Richter:
Uns heute
Nebenklagevertreter Raabe [unterbricht]:
Verzeihen Sie, Herr Direktor, darf ich mir nur die Bitte erlauben, daß ich nun zumindest heute zum Ende der Sitzung die Protokolle bekomme, die auch Grundlage der heutigen Zeugenvernehmungen sind? Denn die Verteidiger haben es mir bisher immer noch nicht weitergegeben. Ich weiß nicht, wo die Sachen sich befinden, Herr Direktor.
Vorsitzender Richter:
Also ich habe hier die Abschrift von Protokollen aus anderen Akten. Die hat mir die Staatsanwaltschaft überlassen. Und das ist die Grundlage der Vernehmung von heute. Und der Herr Berichterstatter sagt mir eben, daß er diese Protokolle zunächst selbst noch benötige. Sie könnten sie eventuell am Mittwoch haben, wenn Sie mir sie am Mittwoch abend wieder zurückstellen könnten.
Nebenklagevertreter Raabe:
Ja. Das sind sämtliche Protokolle zu dem Beweisantrag der Staatsanwaltschaft vom 22.9.[3]
Vorsitzender Richter:
Ja.
Nebenklagevertreter Raabe:
Aha. Danke schön.
Nebenklagevertreter Kaul:
Herr Direktor, ich möchte nur vorsorglich darauf aufmerksam machen, Herr Professor Alexejew befindet sich auf Anweisung des Gerichts im Saal, wenn Sie
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ja, Herr Professor Alexejew, ich habe mir sagen lassen, daß die Ablichtungen noch nicht zu Ende abgelichtet worden sind. Wir können Sie also deshalb heute doch nicht noch weiter befragen. Darf ich Sie bitten, daß Sie am Donnerstag vormittag noch mal hierherkommen? Vielleicht um halb neun, ja? Ja? Da brauchen Sie heute nicht zu warten.
Nebenklagevertreter Kaul:
Wollen Sie die Unterlagen mitnehmen.
Vorsitzender Richter:
Also, Frau Zeugin
Richter Hotz [unterbricht]:
[unverständlich]
Vorsitzender Richter:
Bitte?
Richter Hotz:
[unverständlich]
Vorsitzender Richter:
Ist sie da?
Richter Hotz:
[unverständlich]
Vorsitzender Richter:
Frau Kapkajew?
Dolmetscherin Kapkajew:
Ja?
Vorsitzender Richter:
Darf ich Sie bitten, noch hier zu bleiben, weil wir einen Zeugen nachher noch zu vernehmen haben? Stjenkin, ja. [Pause] Frau Zeugin, Sie hatten uns zuletzt geschildert, was Sie von Block 10 aus gesehen haben an der Schwarzen Wand. So, wir wollen zunächst bei Stark stehenbleiben. Sie haben uns heute vormittag den Vorfall mit der Frau Flora erzählt. Und bei dieser Gelegenheit hat Ihnen ja auch Stark Vorwürfe gemacht?
Sprecher (nicht identifiziert):
[unverständlich]
Vorsitzender Richter:
Nein, das geht nicht. Vorhalt gemacht, da Sie nicht richtig gezählt haben sollen. Hat er Sie bei dieser Gelegenheit auch geschlagen?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Und womit hat er Sie geschlagen?
Zeugin Erna Krafft:
Mit der Hand.
Vorsitzender Richter:
Mit der Hand. Hat er Sie auch einmal mit etwas anderem geschlagen?
Zeugin Erna Krafft:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Oder hat er die Flora mit etwas anderem geschlagen?
Zeugin Erna Krafft:
Die Flora hat er getreten, herausgetreten.
Vorsitzender Richter:
Ja, das sagten Sie. Aber daß er mit einer Peitsche oder mit einem Stock sie geschlagen hat, das haben Sie nicht gesehen?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, das hat nur Boger getan.
Vorsitzender Richter:
Boger? Na, was haben Sie denn von Boger gesehen?
Zeugin Erna Krafft:
Darf ich dazu, um mich verständlich zu machen, etwas weiter ausholen?
Vorsitzender Richter:
Ja, bitte schön.
Zeugin Erna Krafft:
Wir hatten im Lager eine ziemlich rege Widerstandsbewegung. Ich denke, es ist bekannt, daß die Aufseherinnen, die uns im Frauenlager Birkenau bewachten, bei jeder sich bietenden Möglichkeit sehr schlugen. Jetzt waren doch die jüdischen Häftlinge gekommen mit ihrem ganzen Gepäck und so weiter, was zum Teil in Birkenau gelagert wurde. Die Aufseherinnen traten an die Häftlinge heran, sie wollten von diesen Sachen also dies oder jenes gerne haben. Und damit dieses brutale Schlagen aufhörte, haben wir diese Aufseherinnen meistens mit diesen Dingen gekauft. Und zwar verlief das unter einem gewissen Ritual: Also wenn ich einer Aufseherin etwas gab, sie aber dann, wenn sie es genommen hatte und fort damit war, also beispielsweise am nächsten Tag, habe ich ihr gesagt: »Also, falls mir was passiert, wissen davon noch zwei andere, Ihnen nicht bekannte Häftlinge. Also Sie fliegen auf alle Fälle auf.«
Und so war es mit einer Aufseherin. Da war wieder ein Transport gekommen. Und da hatte sich diese Aufseherin einen Persianermantel beiseite gelegt. Und diese Aufseherin wollte ihn gerne haben. Ich habe gesagt: »Ja, also alleine, weiß nicht. Hier sind zu viele dabei. Das ist zu gefährlich.« Und so hat man erst ein bißchen gezögert aus taktischen Gründen. Und dann bin ich wieder zu ihr hingegangen, nachdem ich den anderen Häftlingen Bescheid gesagt hatte, um was es sich handelte. Habe ich ihr gesagt: »Ja, wir binden Ihnen diesen Mantel heute abend unter das Cape.« Also wenn die rausgingen, nicht. Die trugen doch so Hosenröcke und weite Capes. Was auch geschehen ist. Diese Aufseherin war also für uns Häftlinge ausgeschaltet. Sie schlug nicht mehr. Das heißt, sie konnte nicht mehr schlagen, weil
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Weil Sie sie in der Hand hatten.
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Plötzlich, eines Tages wurde ich zu Boger gerufen. Wer Boger im Lager war, das wußten natürlich alle. Er war als Schläger bekannt. Und wir weiblichen Häftlinge hatten ja an sich wenig mit Boger zu tun. Aber in diesem Falle wurde ich zu Boger gerufen. Und zwar war das sein Zimmer im Männerlager I. Das war ein langgestreckter Barackenbau. Und wenn man da ankam – also von Birkenau wurde ich dahingebracht –, da mußte man nun stehen. Die Aufseherin ging mit mir rein zu Boger und sagte: »Draußen stehenbleiben, bis ich Sie rufe.«
Und das Stehen dauerte Stunden. Aber mit mir standen da draußen noch viele Männerhäftlinge. Und jedesmal, wenn ein Häftling zu Boger ins Zimmer gerufen wurde, war bald darauf ein schreckliches, fürchterliches Geschrei und Schlagen zu hören, die Hiebe, die da ausgeteilt wurden. Also ich wartete nun, ich kam zuletzt dran, das war furchtbar. Und nun war Boger – da war eine Tür, links war eine Matte. Wenn man da reinkam, mußte man sich melden und strammstehen. Und dann sagte Herr Boger: »Was weißt du von dem Pelzmantel von der Aufseherin?« Also der Mantel, der da rausgegangen ist. Da habe ich gesagt: »Ich weiß nichts. Von was für einem Pelzmantel sprechen Sie? Ich weiß es nicht.« Und so nahm er mich ins Verhör. Er blieb vorerst am Schreibtisch sitzen. Hier waren die Fenster, der Schreibtisch stand so ein bißchen quer. Und ich stand nun hier neben der Tür. Und er hat mich gelöchert, zu sagen, daß die Aufseherin diesen Pelzmantel bekommen hat. Wie das ja in Wirklichkeit auch wahr war. Aber ich habe gar nicht daran gedacht, dem Boger das einzugestehen, konnte kommen, was wollte. Genauso, wie ich mich geweigert habe, wie der Stark damals zu mir sagte, ich soll mich daneben stellen, hundertmal rufen: »Ich darf meine Vorgesetzten nicht belügen.« Also es gibt Momente, da ist alles einerlei. Und außerdem war es ja auch so: Widerstandsbewegung, Schweigen war Pflicht. Und es wurde auch geschwiegen. Denn wenn ich geredet hätte, die Aufseherin wäre vielleicht bestraft worden, aber ich wäre doch sofort auch weggegangen. Das war mir doch vollkommen klar.
Plötzlich stand Boger auf nach diesem langen Verhör – also, es ging ziemlich lange hin und her – und zog unter seinem Schreibtisch eine Peitsche weg. Er kam ziemlich langsam auf mich zu – ich stand doch, also wie gesagt, an der Tür – und wedelte mir haarscharf immer mit der Peitsche mit wuchtigen Schlägen vor dem Gesicht herum. »Also gestehe! Sage das! Ich weiß genau, du weißt das!« Ich habe gesagt: »Ich weiß es nicht.« Und im nämlichen Moment schlug er mir diese Peitsche zweimal durchs Gesicht, daß ich so ein Gesicht hatte. Ich war zur Unkenntlichkeit entstellt, wie ich nach Birkenau zurückkam. Das können Häftlinge, die sicher noch leben, bestätigen. So habe ich ausgesehen, so hat der mich fertig gemacht.
Wenn der Herr Boger hier im Saal ist und er sollte je frei werden und ich sollte noch leben, diese Peitschenhiebe bekommt er von mir zurück. So wahr mir Gott helfe. [Pause] Das war eine so entsetzliche Strafe und mit einer solchen Wucht geschlagen. Wenn mein Gesicht beleuchtet wird, heute unter starkem Licht sehen Sie noch die Narben. Das war Herr Boger.
Vorsitzender Richter:
Und Sie haben den Boger auch wiedererkannt aufgrund der Lichtbilder, die Ihnen seinerzeit vorgelegt worden sind?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Unbedingt. Wo er jetzt sitzt, weiß ich nicht. Ich habe auch Herrn Stark noch nicht gesehen.
Vorsitzender Richter:
Hm.
Zeugin Erna Krafft:
Herr Stark. [Pause] Er sah aus damals wie ein Orang-Utan. So benahm er sich und so schlug er.
Vorsitzender Richter:
Wer?
Zeugin Erna Krafft:
Der Boger. Also diese Schreie vor meiner Vernehmung. Fragen Sie den Herrn Boger jetzt in meiner Gegenwart – die Sache mit dem Pelzmantel kann ihm unvergessen geblieben sein –, ob er den Mut hat, die Wahrheit einzugestehen. Ich wundere mich überhaupt, daß sie früher den Mut hatten, Frauen derartig zu schlagen, Menschen, hilflose, wehrlose Menschen zu quälen und zu schlagen, und heute nicht für dieses, das, was sie getan haben, einstehen. Das begreife ich einfach nicht.
Vorsitzender Richter:
Haben Sie außer Stark und Boger auch den Angeklagten Bednarek gekannt?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, und zwar gut.
Vorsitzender Richter:
Wieso?
Zeugin Erna Krafft:
Emil Bednarek war ein Häftling. Also ich habe ja im Frauenlager gelebt, und Emil Bednarek war im Männerlager. Aber nach meiner Entlassung, wie ich Ihnen geschildert habe – also die haben ja damals mich verhaftet wegen Arbeitsscheu. Ein Jahr mußte ich auf Bewährung dableiben und wurde dann Verwaltungsangestellte. Und zwar war Auschwitz das einzige KZ, soviel ich weiß, was einen eigenen Amtsbezirk hatte. Und in diesem Amtsbezirk war ich angestellt als Verwaltungsangestellte, und zwar im Einwohnermeldeamt.
Da war auch ein Unterscharführer Damm, der ist heute irgendwie Bürgermeister, er muß aus der Gegend um Kaiserslautern stammen. Das hat er mir nämlich selbst gesagt. Ich kann über ihn nichts sagen, er war anständig. Obschon ich entlassener Häftling war, durfte ich Auschwitz nicht verlassen. Wenn ich mal zum Beispiel Einkäufe machen wollte oder so, mußte ich zur Kommandantur gehen und mußte mir dafür eine Bescheinigung holen. Die Bahnsperre in Auschwitz, das können Ihnen die Herren hier alle sagen, die war besetzt mit SS, mit Waffen-SS. Ich bin
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ja, und bei dieser Gelegenheit haben Sie Bednarek kennengelernt?
Zeugin Erna Krafft:
Nein. Ja, also bei dieser Gelegenheit. Und ich habe gleich, nachdem ich in Auschwitz tätig wurde, mit den Häftlingen im Lager
Vorsitzender Richter:
Kontakt aufgenommen?
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Kontakt aufgenommen. Und zwar habe ich ihnen besorgt Medikamente, die sie dringend benötigten und so weiter und so fort. Die Ewa Weigel, können Sie sich erinnern, die ich Ihnen eben geschildert habe, die Lagerläuferin, die da damals die Oberaufseherin Langefeld
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Gerufen hat?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, wegen der Stark-Sache, die war mit Herrn Emil Bednarek befreundet. Und wie ich nun frei war, also vor dem Draht, und ich hatte Kontakt mit den Häftlingen draußen, da hat in irgendeiner Form mir irgend jemand mal gesagt, der Bednarek wollte gerne Post nach draußen haben. Also Post zu dieser Ewa Weigel. Und da die Ewa Weigel mir damals geholfen hat in dieser Sache, habe ich den Emil Bednarek – ich glaube sogar, furchtlos und mutig, er war in einer Kleiderkammer oder irgend so einer Kammer – besucht. Und da hat er mir Post gegeben, die ich auch besorgt habe für Ewa Weigel. Wenn er hier ist, können Sie ihn fragen.
Vorsitzender Richter:
Ja. Aber sonst wissen Sie von ihm nichts?
Zeugin Erna Krafft:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Wie er sich den Häftlingen gegenüber benommen hat und
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Nein, davon kann ich überhaupt nichts sagen.
Vorsitzender Richter:
Können Sie nichts sagen.
Zeugin Erna Krafft:
Ich weiß nur, daß er mit dieser Ewa Weigel, die heutige Frau Laube, befreundet war. Und er hat mir dann Post gegeben, und ich habe sie auf demselben Wege besorgt wie alle andere Post von Häftlingen nach draußen. Und ich möchte fast sagen, daß durch mich die ersten authentischen Nachrichten nach draußen gegangen sind. Ich kann Ihnen sagen, daß Doktor Ludwig Soswinski, der auch ein Häftling der Widerstandsbewegung war in Auschwitz, der in Wien wohnt, der ist ein Freund von Doktor Dürmayer, und daß auch ich dem von ihm Post
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Besorgt haben.
Zeugin Erna Krafft:
Besorgt habe. Das war natürlich alles. Das spricht sich heute alles sehr leicht aus, aber es war eine lebensgefährliche Arbeit.
Vorsitzender Richter:
Sind von seiten des Gerichts noch Fragen zu stellen? Nein? Herr Staatsanwalt? Herr Rechtsanwalt Raabe.
Nebenklagevertreter Raabe:
Keine Fragen.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Doktor Kaul?
Nebenklagevertreter Kaul:
Keine.
Vorsitzender Richter:
Die Verteidigung?
Verteidiger Staiger:
Frau Zeugin, können Sie heute noch angeben, von welcher Stelle Sie seinerzeit eingewiesen worden sind nach Auschwitz? [Pause] Haben Sie meine Frage verstanden?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, sicher habe ich Ihre Frage verstanden. Das habe ich ja schon erklärt.
Verteidiger Staiger:
Nein.
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
In Dortmund ist sie verhaftet worden
Verteidiger Staiger:
Von welcher Stelle?
Zeugin Erna Krafft:
Von der Kriminalpolizei.
Verteidiger Staiger:
Von der Kriminalpolizei?
Zeugin Erna Krafft:
Ja natürlich, die zwei Beamtinnen am Dortmunder Arbeitsamt sind heute noch dort tätig, die genau den Vorfall kennen. Also vorausgegangen ist ja diese Geschichte mit der
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Kristallnacht. Mit den Juden.
Zeugin Erna Krafft:
Kristallnacht, und mit dem Prädikat »politisch unzuverlässig«, von dem ich ja nichts wußte. Und dann hat das Arbeitsamt mich bestellt zu 29 Pfennig Stundenlohn zu Tönshoff & Co., Lüttgen, Dortmund, Granatenfabrik. Da habe ich gesagt: »Für diesen Krieg drehe ich keine Granaten!« Und daraufhin hat die eine gesagt: »Wollen Sie das wiederholen?« Da hat die eine andere reingeholt, habe ich gesagt: »Ja.« Und am nächsten Morgen um neun haben Sie mich geholt.
Verteidiger Staiger:
Frau Zeugin, Sie haben vorhin erklärt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, daß Sie erst später erfahren haben, daß Sie als politisch Unzuverlässige geführt würden.
Zeugin Erna Krafft:
Bevor wir auf Transport nach Ravensbrück gingen, kriegten wir [+ den Bogen], da stand das drin, also mit Daten und allem.
Verteidiger Staiger:
Von wem kriegten Sie diese Bogen?
Zeugin Erna Krafft:
Bevor wir abgeführt wurden. Also wir reisten ja in Etappen über Hannover, Berlin und so weiter. Wenn die Transporte zusammengestellt wurden, kriegten wir diesen Schutzhaftbogen oder so einen roten. Und da hat das alles draufgestanden. Da hat auch noch mehr dringestanden.
Verteidiger Staiger:
Das war noch in Dortmund, wenn ich Sie richtig verstanden habe? Dort, wo Sie gesammelt wurden?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, da hat auch noch mehr dringestanden auf diesem Bogen. Zum Beispiel: Jahre vorher habe ich einem Kind verboten, den »Stürmer« zu lesen, das war noch lange vor dieser Sache. Da wurde ich dann vor die Kreisleitung geholt, und dann hat man mir gesagt, wieso ich sagen könnte, daß das keine Lektüre für ein Kind wäre, »Der Stürmer«. Aber daraufhin ist mir noch nix passiert. Aber das summierte sich alles sehr schön.
Verteidiger Staiger:
Soll das ein Schutzhaftbefehl gewesen sein, diese Einweisung?
Zeugin Erna Krafft:
Natürlich.
Verteidiger Staiger:
Wurde Ihnen der gezeigt oder nur verlesen?
Zeugin Erna Krafft:
Der wurde mir ausgehändigt.
Verteidiger Staiger:
Wurde Ihnen ausgehändigt.
Zeugin Erna Krafft:
Und wissen Sie, was mir noch
Verteidiger Staiger [unterbricht]:
Ich meine von einer kriminalpolizeilichen Dienststelle, Kriminalpolizei?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, unten, dieser Polizeimensch, der das machte, der sagte: »Hier ist Ihr Bogen, morgen gehen Sie weg.«
Ich will Ihnen noch etwas sagen, was mir mitgegeben wurde. Wegen Widersetzlichkeit bei den Vernehmungen bei der Gestapo in dieser Judensache 38 und auch nachdem ich verhaftet war und die Arbeit nicht aufgenommen hatte, da wurden mir 25 [+ Schläge] Prügelstrafe [+ angedroht]. Der hat mir gesagt: »Ich schlage Sie nicht mehr, das tun andere.« Und wie ich angekommen war in Ravensbrück, war das erste, daß ich diese 25 kriegte. Dafür sind auch noch überlebende Zeugen vorhanden.
Verteidiger Staiger:
Ich habe dann eine weitere Frage: Können Sie uns an der Karte beschreiben, von welcher Stelle im Block 10 aus Sie die Beobachtungen im Hofraum gemacht haben.
Zeugin Erna Krafft:
Ja, das habe ich ja deutlich gesagt.
Verteidiger Staiger:
Nein, die Stelle im Block 10 würde mich interessieren. An welchem Fenster?
Vorsitzender Richter:
Ja, gehen Sie vielleicht mal an die Karte. Dahinten, da ist das Lager zu sehen. Und zeigen Sie mal, wo Sie gestanden haben, wie Sie diese Sachen gesehen haben.
Zeugin Erna Krafft:
Darf ich mir erst eine andere Brille aufsetzen, sonst sehe ich sicher nichts. [Pause] Wollen Sie denn bitte mitkommen?
Verteidiger Staiger:
Ich kann es von hier aus sehen, Frau Zeugin.
Zeugin Erna Krafft:
[Pause] [unverständlich] 10, ja, das war die Stelle, da die Wand. Und hier waren Fenster. Die waren von außen, die ganze Seite
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Verschalt.
Zeugin Erna Krafft:
Von dieser Seite war alles mit Holz verschalt.
Verteidiger Staiger:
Und wissen Sie noch ungefähr, an welchem Fenster Sie etwa gestanden haben?
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Verteidiger Staiger:
Und im ersten Stock?
Vorsitzender Richter:
Im ersten Stock haben Sie gestanden, nicht? Sagten Sie uns doch heute früh?
Zeugin Erna Krafft:
Im ersten Stock, es könnte auch der zweite gewesen sein. Das kann ich nicht mehr ganz genau sagen, denn das waren ja Schlafsäle. Ja, da standen die dreistöckigen Betten übereinander, ganz eng, und man mußte sich daran
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ja, hatte denn das Haus mehr als zwei Stöcke, das heißt mehr als Parterre und erster Stock?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Unten war der [unverständlich] wie im Block 4. Die Blöcke waren ja in derselben Bauweise. Auch Block 10 hatte keinen anderen Stil.
Vorsitzender Richter:
Ja, und da müßte er doch eigentlich nur gehabt haben Parterre und erster Stock und einen Dachraum.
Zeugin Erna Krafft:
Nein, nein, dann war es erster Stock. Denn ich bin Treppen raufgelaufen hinter der Blockältesten, die mich geholt hat.
Vorsitzender Richter:
Ja, das haben Sie heute morgen auch so erzählt. Also das heißt, Sie waren im ersten Stock. Und die Stelle hat sie auch angegeben. Haben Sie da noch etwas zu fragen?
Verteidiger Staiger:
Ja, ich habe noch eine Frage, Frau Zeugin. Können Sie uns zeigen, an welcher Wand die erschossenen Häftlinge lagen?
Vorsitzender Richter:
Lagen? Also die Leichen?
Verteidiger Staiger:
Die Sie gesehen haben.
Zeugin Erna Krafft:
Die Leichen lagen hier. Dieser hohe Menschenberg. Das waren nicht eins und nicht zwei, es waren Polen, wie ich hinterher erfuhr, die erschossen wurden. Wie sich das rumsprach hier, hat es geheißen, wäre wieder was schiefgelaufen mit dem Krieg. Dann haben die ja wahllos rausgezogen und haben dann irgendwen
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ja, dann nehmen Sie bitte wieder Platz. Haben Sie noch eine Frage, Herr Rechtsanwalt?
Verteidiger Staiger:
Ja.
Zeugin Erna Krafft:
Das ist nach 22 Jahren [unverständlich] Also diesen gestapelten Leichenberg...
Vorsitzender Richter:
Den werden Sie nicht vergessen.
Zeugin Erna Krafft:
Nie! Und durch das erste Gucken, und da standen die, und da standen die anderen. Das kann ich auch nie vergessen. Also so etwas kann sich ein normaler Mensch mit normalem Fühlen und Denken
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Nicht vorstellen.
Zeugin Erna Krafft:
Überhaupt nicht vorstellen. Glauben Sie mir das.
Vorsitzender Richter:
Dann nehmen Sie bitte wieder Platz. Haben Sie noch eine Frage, Herr Rechtsanwalt?
Verteidiger Staiger:
Frau Zeugin, können Sie sich etwa erinnern, wann das gewesen ist? Nicht genau der Tag, in welchem Monat?
Zeugin Erna Krafft:
Nein. Das kann ich beim besten Willen nicht. Das war jedenfalls schon zu der Zeit, wo ich die Bekanntschaft des Herrn Stark gemacht hatte. Fragen Sie den, der wird es vielleicht wissen.
Vorsitzender Richter:
Also, Herr Rechtsanwalt, das hatten wir ja auch im übrigen heute morgen festgestellt.
Verteidiger Staiger:
Wir hatten nur den Zeitraum
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Wir hatten nämlich festgestellt, daß im August die Zeugin rüberkam nach Birkenau
Verteidiger Staiger [unterbricht]:
Und im März ist sie gekommen.
Vorsitzender Richter:
Und daß sie im März gekommen ist. Und ich hatte gesagt, ihre Tätigkeit an diesem Hauptbuch muß sich erstreckt haben auf die Zeit von April bis Anfang August.
Verteidiger Staiger:
August. Ich wollte es etwas noch präzisiert haben nach Möglichkeit.
Vorsitzender Richter:
Es war zwischen April und August. Also in der Zeit, wo Sie dieses Hauptbuch führten. Aber genauer können Sie es wohl nicht sagen?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, es war jedenfalls in der Zeit, wo wir noch im Männerlager waren.
Vorsitzender Richter:
I waren, ja.
Verteidiger Staiger:
Was haben Sie nach Ihrer Entlassung aus Auschwitz im Dezember 43, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gemacht?
Zeugin Erna Krafft:
Gemacht?
Staatsanwalt Vogel:
Die Frage ist doch bereits beantwortet.
Zeugin Erna Krafft:
Ich bin ein Jahr lang in Auschwitz gewesen als Verwaltungsangestellte, wegen politischer Unzuverlässigkeit dienstverpflichtet. [...]
Verteidiger Staiger:
Waren Sie zwischendurch mal Wehrmachtshelferin in dieser Zeitspanne?
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Also meine Entlassung wollte ich tunlichst verkürzen, aber
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ja, da haben Sie auch recht gehabt. Herr Rechtsanwalt, ich verstehe gar nicht, was das mit unserer Sache zu tun haben soll.
Verteidiger Staiger [unterbricht]:
Ja, ich lasse meine Frage fallen.
Vorsitzender Richter:
Aus Irrtum sind Sie nach Dortmund geschickt worden und sind dadurch
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Nein, nach dem Elsaß.
Vorsitzender Richter:
Oder nach dem Elsaß. Und sind nachher von dort wieder zurückgeschickt worden, und da kamen Sie wieder nach Auschwitz. Es ist unerheblich.
Zeugin Erna Krafft:
Und wie ich nach Auschwitz zurückkam, da lag meine Einweisung fürs KZ schon wieder da. [...]
Verteidiger Staiger:
Noch eine letzte Frage: Würden Sie uns sagen, wann und wo Sie geboren sind?
Zeugin Erna Krafft:
Am 28.3.1906 in Dortmund.
Verteidiger Staiger:
Danke sehr.
Zeugin Erna Krafft:
Bitte.
Vorsitzender Richter:
Sind von seiten der Verteidigung noch Fragen zu stellen? Von seiten der Angeklagten? Herr Sachverständiger? Keine Fragen mehr. [Pause] Stark.
Angeklagter Stark:
Ich bestreite die von der Zeugin vorgebrachten beiden Belastungen.
Vorsitzender Richter:
Kennen Sie die Zeugin? [...]
Angeklagter Stark:
Nein, nicht mit Bewußtsein.
Vorsitzender Richter:
Ja. Kennen Sie auch den Vorfall nicht, wo Sie diese Frau mit Namen Flora vor die Baracke oder vor das Haus geschickt haben?
Angeklagter Stark:
Nein, es war nicht meine Art, Sprechübungen abzuhalten oder Strafarbeiten anzuordnen. [Pause] In Block 11 war ich ebenfalls bei Massenerschießungen weder anwesend, noch habe ich dabei mitgeschossen. Auch habe ich niemals eine Frau geschlagen. Wenn ich im Frauenlager zu tun hatte, durfte ich das nur unter Aufsicht einer Aufseherin, die jeden meiner Schritte überwachte und dafür sorgte, daß ich möglichst rasch wieder das Lager verließ.
Vorsitzender Richter:
Ist es denn richtig, daß Sie als Leiter der Aufnahmeabteilung die Aufsicht hatten über die Arbeit, die die Zeugin da gemacht hat?
Angeklagter Stark:
Wenn Sie unter Aufsicht verstehen, daß ich dabeigesessen habe, wie das im Männerlager üblich war, bei den Männeraufnahmekommandos, dann muß ich das verneinen.
Vorsitzender Richter:
Nein, das hat die Zeugin auch nicht behauptet. Sondern Sie seien am Tag zwei- bis dreimal gekommen und hätten sich angesehen, was sie in der Zeit geleistet hätte.
Angeklagter Stark:
Nein, das habe ich nicht. Wenn ich einmal dort war, höchstens einmal am Tag, aber auch nicht jeden Tag.
Vorsitzender Richter:
Ja, wer hat es denn außer Ihnen noch beaufsichtigt?
Angeklagter Stark:
Eine Aufseherin.
Vorsitzender Richter:
Ja, die Aufseherin, die war doch eigentlich nur für die Aufrechterhaltung der Ordnung da.
Angeklagter Stark:
Jawohl.
Vorsitzender Richter:
Aber doch nicht für die technische Durchführung des Auftrags, den die Zeugin hatte.
Angeklagter Stark:
Ich möchte so sagen, daß also am Anfang des Bestehens des Frauenlagers sich da die weiblichen Häftlinge ziemlich selbst überlassen waren. Es wurden auch damals anfangs noch sehr viel Fehler gemacht.
Vorsitzender Richter:
Können Sie sich denn entsinnen, daß damals ein Hauptbuch angelegt wurde?
Angeklagter Stark:
Nein.
Vorsitzender Richter:
Daß die Karteikarten übertragen wurden in ein Hauptbuch?
Angeklagter Stark:
Nein, das weiß ich nicht, das war auch nicht meine Aufgabe. Die Zeugin hat ja selbst gesagt, daß sie das nachher in der Häftlingsschreibstube weitergeführt hat.
Vorsitzender Richter:
In Birkenau.
Angeklagter Stark:
In der Häftlingsschreibstube, nicht bei der Aufnahme.
Vorsitzender Richter:
Ja, ja. Zunächst blieb sie bis zum August 1942 dort in diesem Block 4, wenn ich nicht irre, und hat dort weiter geschrieben. Und als dann das Frauenlager in Birkenau eröffnet wurde, kam sie mit hinüber und hat dort weitergearbeitet.
Angeklagter Stark:
Jawohl.
Vorsitzender Richter:
So die Zeugin.
Angeklagter Stark:
Das Hauptbuch muß also eine Angelegenheit der Häftlingsschreibstube gewesen sein. Ich habe dort nur Vordrucke, also Personalbogen und Karteikarten, hingebracht und die fertigen abgeholt und habe das nachher bei mir von den Häftlingen noch mal alles durchsehen lassen.
Vorsitzender Richter:
Ja, aber sehen Sie mal, Stark, was die Frau uns da erzählt hat eben mit dieser Jüdin mit Vornamen Flora, das hat sie doch in allen Einzelheiten uns so genau erzählt, mit den Strafarbeiten, die Sie auferlegt hatten, und die Art und Weise, wie Sie da im einzelnen die Frau behandelt haben und so weiter und so weiter. Soll die sich das denn alles aus den Fingern gesogen haben?
Angeklagter Stark:
Das behaupte ich nicht beziehungsweise wage ich nicht zu behaupten. Aber ich behaupte, daß ich so etwas niemals gemacht habe.
Vorsitzender Richter:
Und in der Person ist gar kein Irrtum möglich, Frau Zeugin?
Zeugin Erna Krafft:
Nein, aber jetzt schon gar nicht mehr. Nur die Tonart hat sich reichlich gemildert. Leider, daß Sie kein Tonband von dem haben, wie Stark früher geschrien, gebrüllt
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Und getobt wurde, ja.
Zeugin Erna Krafft:
Und getobt hat, geschlagen, gestoßen und getreten, Frauen. Und diese Jüdin, das war so ein harmloses Wesen. Er sah diese, und je mehr sie zitterte vor ihm, um so größer war das, was er ihr antat. Das ist wahr. Sehen Sie, ich habe nicht mehr lange zu leben, warum sollte ich Ihnen die Unwahrheit sagen oder einen Mann belasten? Warum?
Vorsitzender Richter:
Also jedenfalls, Sie bleiben dabei, daß es so gewesen ist, wie Sie
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Unbedingt. Eugenie Schuloff ist eine Wienerin gewesen, die in Amerika heute verheiratet ist. Sie war dabei. Hildegard Schuleit lebt in Berlin. Die war auch dabei.
Vorsitzender Richter:
Moment. Das wollen wir uns doch mal ein bißchen aufschreiben.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Wie heißt die Dame aus Berlin? Hildegard?
Zeugin Erna Krafft:
Hildegard Schuleit. [...]
Vorsitzender Richter:
Ja. Wissen Sie, wo die in Berlin wohnt?
Zeugin Erna Krafft:
Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber das wird ja festzustellen
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Wissen Sie, ob sie in Westberlin wohnt oder in Ostberlin?
Zeugin Erna Krafft:
In Westberlin auf alle Fälle. Und dann Eugenie Schuloff. Die genaue Adresse werden Sie erfahren können vielleicht durch Herrn Doktor Soswinski in Wien oder durch Herrn Doktor Dürmayer. Denn die ist mit einem Amerikaner verheiratet, und die war ganz erheblich jung. Also ich bin heute 58. Die Eugenie Schuloff war ganz jung. [...] Also Schuleit und Schuloff. Das ist ein Zufall, daß die Namen sich so gleichen.
Vorsitzender Richter:
Herr Staatsanwalt, vielleicht läßt sich die
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Aber die ist verheiratet mit einem King. Also die heißt heute Misses King. Hat einen Amerikaner geheiratet in Berlin.
Vorsitzender Richter:
Vielleicht kann man in Westberlin mal die Adresse von dieser Hildegard Schuleit feststellen, ja. Wäre doch mal von Interesse. Herr Rechtsanwalt Erhard.
Zeugin Erna Krafft:
Ja, und diese Eugenie Schuloff hat in Berlin einen Amerikaner geheiratet. Die ist ja auch höchstwahrscheinlich noch da. Es gibt ja von den 1000 deutschen Frauen leider sicher nur noch sehr wenige, die wir nach Auschwitz kamen. Aber
Sprecher (nicht identifiziert) [unterbricht]:
Das ist leider richtig.
Zeugin Erna Krafft:
Das ist ja kein Freibrief für das. Ich würde nie die Unwahrheit sagen. Ich hasse diese Leute nicht. Ich verachte sie. Aber ich hasse sie nicht.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Erhard, was hatten Sie
Verteidiger Erhard [unterbricht]:
Frau Zeugin, ist Ihnen bei Ihrer Vernehmung im Januar dieses Jahres ein Bild von dem Angeklagten Stark vorgelegt worden?
Vorsitzender Richter:
Ja, das hat sie bereits bejaht.
Zeugin Erna Krafft:
Ja.
Verteidiger Erhard:
Haben Sie dabei den Angeklagten Stark sogleich wiedererkannt?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, den Stark sofort. In den früheren Jahren, also in seiner Jugendschönheit.
Verteidiger Erhard:
Das Protokoll mindestens sagt was anderes. Darf ich es Ihnen vorhalten, auf Blatt 5 Ihrer Vernehmung, unten der letzte Absatz: »Bei Betrachtung des Bildes Numero 27«, das ist Stark in seiner damaligen Zeit, »erklärt die Zeugin: ›Einen so blonden Scheitel hatte der Stark. Ich glaube auch, daß er hier abgebildet ist. In Auschwitz sah er aber noch gemeiner und sadistischer aus als auf diesem Bild. Wenn man mit ihm sprach‹ « und so weiter. Das ist aber ein Bild aus der damaligen Zeit gewesen.
Zeugin Erna Krafft:
Ja. Sicher. Aus der heutigen Zeit, das sind 22 Jahre her.
Verteidiger Erhard:
Ich verzichte auf weitere Fragen.
Zeugin Erna Krafft:
Ja, aber warum, ich habe das doch klar und eindeutig gesagt.
Vorsitzender Richter:
Sonst sind keine Fragen mehr zu stellen? Boger, was haben Sie zu sagen zu dem Vorwurf, den man Ihnen macht?
Angeklagter Boger:
Gar nichts.
Vorsitzender Richter:
Können Sie sich nicht erinnern daran, daß damals einer Aufseherin ein Persianermantel beschafft worden ist und daß Sie insofern eine Untersuchung anzustellen hatten?
Angeklagter Boger:
Ich habe leider gegen Aufseherinnen zahlreiche Ermittlungen führen müssen. Es war eine Kategorie von Aufseherinnen, die sich von denjenigen Häftlingen, die dort mit dem schwarzen Winkel Häftlingspositionen hatten, ob das nun Anweiserinnen, Blockälteste oder sonst was waren, nicht viel unterschieden.
Vorsitzender Richter:
Ja, aber ich frage Sie nur, ob Sie sich erinnern können, daß Sie wegen eines solchen Mantels eine Untersuchung durchgeführt haben, bei dieser Gelegenheit die Frau auch so mißhandelt haben wie die Frau
Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:
Herr Direktor, ich bitte, die Zeugin gegen diese unverschämte Beleidigung in Schutz nehmen zu wollen, verglichen zu werden mit SS-Aufseherinnen. Ich halte das also für unerträglich. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Ihnen hier in Ihre Befragung hineinfahre, zumal es sich nicht um meine Nebenklage handelt. Aber ich halte das für unerträglich, daß dem Boger hier gestattet wird, in einer derartig unverschämten Weise die Opfer dieser Mörder zu beleidigen.
Vorsitzender Richter:
Ja. Also Boger
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Verzeihen Sie bitte, ich möchte etwas dazu sagen. Mich hat der schwarze Winkel innerlich immer sehr belastet, hat er.
Sprecher (nicht identifiziert):
Das ist richtig
Zeugin Erna Krafft [unterbricht]:
Aber ich habe ihn ja tragen müssen. Zu der Zeit, 40, gab es noch keinen anderen. 41, die hatten mehr Glück. Aber es war ja egal. Wir haben Nonnen gehabt im Lager, vor allen Dingen in Ravensbrück, die trugen einen grünen Winkel. Also die Winkelfrage dürfte ja wohl für die Qualität eines Menschen, wenigstens heute, eigentlich keine Rolle spielen, meines Erachtens. Und vor allen Dingen, es ist doch so, wie ich eben schon gesagt habe. Herr Boger hat eben bereits zugegeben, daß er gegen viele...
Vorsitzender Richter:
Aufseherinnen.
Zeugin Erna Krafft:
Aufseherinnen ermittelt hat. Warum soll denn ausgerechnet dieser Vorfall, wie ich ihn Ihnen geschildert habe, nicht stimmen. Und seine Peitsche, hinterher haben die auch, das weiß ich von Häftlingen, behauptet, daß der nur mit einem Ochsenziemer geschlagen hätte. Jedenfalls ich war entstellt bis zur Unkenntlichkeit. Und die Aufseherinnen im Lager, um die es ging, die haben alle gezittert. [...]
Vorsitzender Richter:
Ja, also Sie können sich nicht darauf erinnern?
Angeklagter Boger:
Ich habe in keiner Ermittlungssache gegen Aufseherinnen »verschärfte Vernehmungen« durchgeführt, noch viel weniger Mißhandlungen gegen weibliche Häftlinge in dieser Form.
Vorsitzender Richter:
Na ja, dann nehmen Sie Platz. Sind wegen der Beeidigung Anträge zu stellen? Nicht. Frau Zeugin, Sie können das, was Sie gesagt haben, mit gutem Gewissen beschwören?
Zeugin Erna Krafft:
Ja, das kann ich.
Vorsitzender Richter:
Dann haben Sie den Eid zu leisten.
- Vgl. richterliche Vernehmung vom 06.01.1964 in Aurich, 4 Ks 3/63, Hauptakten, Bd. 95, Bl. 18.062.
- Frauenlager BIa.
- Beweisantrag der Staatsanwaltschaft vom 22.09.1964, Anlage 1 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 24.09.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 102.