Zeuge Kurt Hinrichsen
1. Frankfurter Auschwitz-Prozess
»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63
Landgericht Frankfurt am Main
130. Verhandlungstag, 25.1.1965
Vernehmung des Zeugen Kurt Hinrichsen
Vorsitzender Richter:
[+ Sind Ihnen Fälle] bekannt, wo Leute, die einen rechtswidrigen Befehl abgelehnt haben, irgendwelche besonderen Nachteile zu verzeichnen [+ hatten]?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Also eine Schädigung an Leib oder Leben, so möchte ich sagen, das ist das Problem.
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Eine Schädigung an Leib oder Leben. Und da Sie das nun so begrenzen, möchte ich Sie fragen: Was für sonstige Nachteile haben diese Leute unter Umständen erlitten?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nun, Sie sind schon mal an die Front abkommandiert worden. Das wurde ja nicht allgemein geschätzt und wurde doch vielfach als Nachteil verstanden. Und ich weiß auch, daß zum Beispiel ein Zeuge, der General von Bomhard, mal als Nachteil erwähnt hat, daß die Leute dann bei der Beförderung Schwierigkeiten hatten
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ausgeschlossen wurden.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Oder sonstige Unannehmlichkeiten.
Vorsitzender Richter:
Also Sie haben nicht feststellen können, daß irgend jemand unter Umständen selbst eingesperrt oder sogar...
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ums Leben gekommen wäre
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ums Leben gekommen ist.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ganz sicher nein. Einen solchen Fall haben wir nicht feststellen können.
Vorsitzender Richter:
Ist Ihnen nicht bekannt.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich müßte vielleicht den Fall Doktor Hornig erwähnen, der aber nach seinen eigenen Angaben nicht wegen der Nichtausführung, wegen der Verweigerung – in diesem Fall sogar eines verbrecherischen Befehls – eingesperrt oder in Haft genommen worden ist, sondern wegen der Begleitumstände dieser Befehlsverweigerung. So sagt er es selbst.
Vorsitzender Richter:
Ja. Ich darf Ihnen mitteilen, Herr Staatsanwalt, daß Ihre Aussagegenehmigung fernschriftlich erteilt worden ist.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, ich höre das eben.
Vorsitzender Richter:
Sind da noch Fragen zu stellen?
Richter Hotz:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Bitte schön.
Richter Hotz:
Herr Hinrichsen, ich habe folgende Frage: Um welche Befehle hat es sich da gehandelt, oder um welche Kategorie von Befehlen, die Sie überprüft haben, bei denen also eine Befehlsverweigerung vorgekommen ist?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wir haben uns naturgemäß interessiert für diejenigen Befehle, die verbrecherische Tötungsbefehle waren, also Juden-Exekution oder etwas Derartiges.
Richter Hotz:
Durch Einsatzgruppen etwa?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Einsatzgruppen oder auch in anderen Zusammenhängen. Es müssen nicht Einsatzgruppen gewesen sein. Es können auch andere Einheiten, andere Dienststellen gewesen sein.
Ich habe natürlich die Fälle jetzt nicht so im einzelnen im Kopf, so daß ich das abschließend sagen könnte. Aber wir haben sie ja in einer Sammlung zusammengestellt. Da müßte ich dann schon mal darauf zurückgreifen dürfen.
Richter Hotz:
Sind Ihnen auch, jedenfalls in etwa, Fälle gegenwärtig, bei denen es sich um Befehlsverweigerungen in Konzentrationslagern gehandelt hat?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Eigentlich weniger. Wir haben eigentlich weniger Fälle von Befehlsverweigerung in Konzentrationslagern. Im Moment könnte ich gar keinen konkreten Fall sagen. Aber es ist möglich, daß in der Sammlung etwas Derartiges ist.
Vorsitzender Richter:
Sind sonst noch Fragen zu stellen? Bitte sehr.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Herr Zeuge, Sie sagen eben, im Konzentrationslager ist Ihnen konkret ein Fall nicht bekannt.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Im Moment ist mir das nicht gegenwärtig.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Sie sagten vorhin weiter, als Sie gefragt wurden, ob sich das auf die Einsatzgruppen bezogen habe: »Ja, auch andere Verbände.« Deswegen jetzt meine Frage: Die Befehlsverweigerungen, die vorkamen und die keinen Schaden brachten, waren das Befehlsverweigerungen bei Wehrmachteinheiten, bei Wehrmachteinheiten, die zu Polizeieinheiten kommandiert waren, oder waren das auch Befehlsverweigerungen bei Stamm-SS-Einheiten? Können Sie das auseinandersortieren?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, einmal würde ich nicht gerne Befehlsverweigerung sagen. Das spitzt das so zu auf eine sehr dramatische Gegenüberstellung. Ich würde sagen: Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Nichtausführung, ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das sind teilweise SS-Einheiten gewesen, Polizei, Ordnungspolizeieinheiten
Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:
Auch SS-Einheiten?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wenn ich mich da jetzt recht erinnere. Mit dem Vorbehalt muß ich das sagen. Ich habe das so nicht im Kopf. Ich wußte ja von vornherein, worauf die Fragen hinauslaufen würden.
Es sind aber auch – jetzt fällt mir es ein – im Konzentrationslager, [+ Fälle vorgekommen]. Es gibt einen Fall, und der stammt aus englischen Unterlagen, der Doktor Jost, wenn ich mich nicht irre, der sich geweigert hat, kranke Häftlinge zu töten. In Warschau war das, wenn ich mich nicht irre. Und es ist ihm daraufhin nichts passiert.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Ist er versetzt worden?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Könnte ich im Moment nicht sagen. Es ist möglich. Ich weiß auch, daß ein Fall berichtet wird aus dem Konzentrationslager Mauthausen, in dem ein SS-Arzt – so berichtet es der Zeuge Martin, der in Innsbruck lebt und der es selbst mit angehört hat, wie er es angibt – sich geweigert hat, solche »Abspritzungen« vorzunehmen. Der ist dann an die Front gekommen, nach Aussage dieses Zeugen. Ich habe immer ein bißchen Bedenken, solche Aussagen zu machen, weil es ja gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßen würde nach meiner Meinung.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Ja. Ist Ihnen ein Fall bekannt, in dem ein Kriegsgericht mit derartiger Nichtausführung eines Befehls befaßt wurde?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Im Fall Hornig ist das Gericht befaßt gewesen nicht mit der Verweigerung dieses Verbrechens
Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:
Ja, das sagten Sie schon, sondern mit den Begleitumständen.
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Sondern mit den Begleitumständen. Aber ich muß ihn immer erwähnen, weil ich sonst Gefahr laufe, daß man mir vorwirft, ich würde es verschwiegen haben. Der Sachverhalt hat da natürlich eine Rolle gespielt.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Ja sicher.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die Tat selbst wohl nicht.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Also war das auch nicht etwa der Aufhänger, daß man gesagt hat, wenn man ihn
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Nein, nein.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Schon wegen der Befehlsverweigerung nicht kriegen kann, nimmt man ihn wegen der Begleitumstände. Waren also die Begleitumstände selbständig ein kriegsgerichtswürdiges Vergehen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
So möchte ich sagen, denn er ist verurteilt worden wegen Zersetzung der Wehrkraft. Erstaunlicherweise übrigens bloß zu einer Gefängnisstrafe, obwohl ja Zersetzung der Wehrkraft grundsätzlich mit der Todesstrafe
Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:
Ja, im allgemeinen Todesstrafe. Also sonst ist Ihnen kein Fall bekannt?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Sonst ist mir kein Fall bekannt, in dem jemand verurteilt wurde. Darf ich mal einen kleinen Blick hier reinwerfen?
Ergänzungsrichter Hummerich:
Ja, bitte schön.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Es könnte sein, daß ein Fall, der in Holland gespielt haben soll, ein solcher Fall wäre. Da soll es sich darum gehandelt haben, daß ein Wachtmeister oder ein Beamter der grünen Polizei sich geweigert haben soll, an einer Exekution, einer Geiselexekution im Anschluß an das Attentat auf Rauter, teilzunehmen oder sich zu beteiligen, und zwar im März oder April 1945, als die Front schon sehr nahe war. Und er soll dann verurteilt worden sein. Die Zeugen, die das sagen, können aber nicht sagen, durch wen oder wie oder was. Es gibt auch keinen Zeugen, der aus eigener Wissenschaft bekunden könnte, daß der Mann dann auch tatsächlich erschossen worden ist.
Ergänzungsrichter Hummerich:
Die umgekehrte Frage dazu: Konnten Sie feststellen, ob die Geiselexekution völkerrechtlich in Ordnung war? Es gibt ja auch völkerrechtlich
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Das habe ich nicht gekonnt. Das habe ich nicht geprüft, aber
Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:
Das konnten Sie nicht. Daß man sagen könnte, es war überhaupt kein Unrechtsakt, und deswegen konnte man auch riskieren
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Das ist zumindest ja sehr zweifelhaft
Ergänzungsrichter Hummerich:
Eben.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ob es ein Unrechtsakt war.
Vorsitzender Richter:
Und was geschah mit dem Mann?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, der soll dann abgeurteilt und erschossen worden sein. Aber das ist nicht recht belegt. Das Kriegsinstitut für Oorlogsdocumentatie[1] hat über den Fall mitgeteilt – in dem Verfahren gegen Deppner[2] hat er eine Rolle gespielt –, daß dieser Fall völlig unbestätigt sei. Er wird behauptet eigentlich nur von Angehörigen des BdS Niederlande in einem Verfahren gegen einen Angehörigen dieser Dienststelle. Und er wird im entscheidenden Punkt nur berichtet dem Hörensagen nach, so daß man Zweifel haben darf, ob dieser Fall sich so ereignet hat.
Vorsitzender Richter:
Ja, ist sonst noch [+ eine Frage]?
Ergänzungsrichter Hummerich:
Ich habe keine Fragen mehr, danke.
Vorsitzender Richter:
Herr Staatsanwalt.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich muß für alle Fälle noch sagen: Es wird in einer anonymen Schrift, die in interessierten Kreisen zirkuliert, behauptet, daß ein Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich sich abgesetzt hätte, also das muß nach der Invasion jedenfalls gewesen sein. Und zwar angeblich deswegen, weil er nicht habe teilnehmen wollen an einer Exekution – von Juden kann das ja damals nicht gut noch gewesen sein. Und der soll dann hingerichtet worden sein.
Ob da nun eine Verurteilung zugrunde gelegen hat oder was da gewesen ist, und ob er sich tatsächlich zurückgezogen hat, um eine Exekution nicht ausführen zu müssen, oder nicht vielmehr, was naheliegt anzunehmen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, das kann man nicht feststellen, weil gar keine konkreten Angaben zu diesem Fall gemacht werden. Das ist ja das Kriterium eigentlich für viele dieser Fälle, daß gar keine konkreten Angaben gemacht werden und daß man deswegen natürlich schwer in der Lage ist, etwas nachzuprüfen.
Vorsitzender Richter:
Haben Sie denn
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Ich muß noch einen Fall sagen.
Vorsitzender Richter:
Haben Sie denn mehrere Fälle? Sie sagen, weil das in vielen Fällen nicht nachprüfbar ist. Haben Sie denn
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Also ich würde so sagen: Es gibt viele Fälle, in denen schon der sogenannte Befehlsnotstandsfall gar nicht schlüssig vorgetragen wird, sei es, daß die Folgen nicht Schädigung an Leib oder Leben waren, sei es, daß die Taten, die angeblichen, keine Fälle der Nichtausführung verbrecherischer Befehle waren.
Vorsitzender Richter:
Herr Staatsanwalt, verzeihen Sie, daß ich da noch mal ein bißchen frage. Es würde mich trotzdem interessieren, daß derartige Fälle, und Sie sagen eben, viele Fälle, von Ihnen irgendwie nachgeprüft worden sind.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Eine ganze Reihe sind nachgeprüft worden. Ich will mich nicht festlegen auf den Begriff.
Vorsitzender Richter:
Und warum haben Sie diese Fälle nachgeprüft?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wir haben die Fälle nachgeprüft, von denen wir meinten, daß in ihnen jedenfalls in etwa schlüssig behauptet wäre, daß eine Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls erhebliche, schwerwiegende Folgen gehabt hätte.
Vorsitzender Richter:
Und wo kamen denn diese Berichte her und diese »Mitteilungen«?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich sagte ja, in dem einen Fall war es eine anonyme Schrift, die da zirkuliert. Und manchmal sind es Zeugen, wie in dem Fall, den ich jetzt noch sagen muß. Das war der Fall Vlothoerbäumer. Es ist einer der drei Fälle, in denen ein Zeuge mal sagt, daß er aus eigener Wissenschaft über Folgen der Befehlsverweigerung oder Nichtausführung verbrecherischer Befehle berichten könnte. Der eine Fall ist Hornig, obwohl es sich da nicht um Folgen der Befehlsverweigerung handelt. Der zweite Fall ist Vlothoerbäumer, und der dritte Fall ist Herder. Alle anderen Zeugen berichten immer nur Gehörtes.
Und in dem Fall Vlothoerbäumer hat es sich darum gehandelt, daß dieser Mann, der früher mal Angehöriger der Stapo Bielefeld war, in einem Verfahren betreffend Einsatzkommando 8, wenn ich mich nicht irre, angegeben hat, er habe sich dem Befehl, an einer Exekution teilzunehmen, entzogen und sei deswegen zu mehreren Jahren Konzentrationslager oder Gefängnis verurteilt worden. Die Aussage schwankte in den verschiedenen Prozessen. Wir haben das nachgeprüft. Und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß er zwar wohl verurteilt worden ist in der Zeit, aber nicht zu mehreren Jahren, sondern nur zu mehreren Monaten Gefängnis, und auch nicht wegen Befehlsverweigerung, sondern wegen Diebstahls. Er ist wegen dieser Aussage verurteilt worden, infolgedessen wegen Meineides, zu einigen Monaten Gefängnis mit Bewährung.
Das ist eigentlich der eine Fall, in dem mal wirklich ein Zeuge gesagt hat, daß er selbst aus eigener Wissenschaft berichten könnte über schwerwiegende Folgen der Befehlsverweigerung. Die Strafe hat er übrigens nicht in einem Konzentrationslager, sondern im Straflager Danzig-Matzkau teilweise verbüßt, und der Rest ist ihm dann damals schon zur Bewährung ausgesetzt worden. Das ist der einzige Fall, in dem jemand angibt, nun wegen der Befehlsverweigerung oder Nichtausführung eines solchen Befehls selbst verurteilt worden zu sein – wenn ich mal von dem Fall Hornig absehe, von dem ich ja schon sagte, daß die Gründe da andere waren.
Vorsitzender Richter:
Es kommt uns ja nun nicht nur darauf an, absolut nachgeprüfte Fälle zu wissen. Sondern es kommt uns auch darauf an, ob diese Gerüchte, die da herumschwirrten, so häufig gewesen sein können und so stark gewesen sein können, daß schon Furcht und Schrecken allein durch die Gerüchte verbreitet worden sind.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Diese Gerüchte werden ja nun vorzugsweise jetzt verbreitet, so daß sie damals sicherlich diesen Einfluß nicht gehabt haben können. Ob sie damals herumgeschwirrt sind, das kann ich natürlich, Herr Vorsitzender
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ja, das können Sie nicht sagen. Aber es wäre doch vielleicht ein Indiz dafür, wenn Ihnen, wie Sie vorhin sagten, viele Fälle bekannt geworden seien, die Sie dann nachgeprüft hätten.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Viele Fälle – ich sagte schon, darauf möchte ich mich nicht festlegen. So viele Fälle haben wir nicht nachzuprüfen gehabt, weil ja nur in verhältnismäßig wenigen Fällen konkrete Angaben gemacht werden. Die anderen Angaben sind ja sehr unpräzise. Das war allgemein bekannt, sagt man heute, daß damals jeder, der einen Befehl verweigerte, gleich um die Ecke gebracht wurde. Es war auch allgemein bekannt, daß die SS- und Polizeigerichtsbarkeit blutrünstig und brutal war. Was ganz zweifellos völlig unsinnig zu sagen wäre, nicht.
Vorsitzender Richter:
Ja. Was die SS-Gerichtsbarkeit anbelangt, da will ich mich nicht dazu äußern. Aber es ist vorhin schon einmal gefragt worden, ob Ihnen auch Fälle aus KZs zur Sprache und zu Ohren gekommen sind.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, ich sagte vorhin schon, der Doktor Jost, der in Warschau, wenn ich mich recht erinnere
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Was ist das für ein Doktor Jost?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Er ist nachher von den Amerikanern zum Tode verurteilt worden wegen anderer Straftaten.
Vorsitzender Richter:
Ist das dieser frühere Mitarbeiter von Best gewesen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Oder hieß er Jobst, das kann ich jetzt gar nicht sagen. Ich weiß nicht, ob Sie, Herr Oberstaatsanwalt
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Jost kann es nicht sein.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die Sammlung da haben.
Vorsitzender Richter:
Bitte?
Verteidiger Aschenauer:
Jost kann es nicht sein, Jost lebt.
Vorsitzender Richter:
Ja. Ist das dieser Mitarbeiter von Best gewesen, Herr Aschenauer, der Jost?
Verteidiger Aschenauer:
Jost war eigentlich der erste Chef des SD.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Den meine ich nicht. Nein, ich meine einen KZ- Arzt, der in Warschau war und nachher auch noch in anderen Lagern. Ich kann den Namen so auf Anhieb nicht sagen, aber Jobst, glaube ich, könnte
Vorsitzender Richter:
Eher.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Richtig sein. Etwas in der Art. Und ein Arzt, dessen Name nicht geläufig ist, über den der Zeuge Martin berichtet. Aber, wie gesagt, ich habe etwas Bedenken, diese Dinge in den Prozeß einzuführen, weil es gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßen würde für mein Empfinden.
Vorsitzender Richter:
Ich verstehe nicht, wieso. Wir fragen
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Weil es ja Zeugen gibt, die unmittelbar darüber bekunden können, während ich hier nur sagen kann, was ich mittelbar erfahren habe.
Vorsitzender Richter:
Na ja. Ist von seiten der Staatsanwaltschaft noch eine Frage zu stellen? Herr Rechtsanwalt Ormond?
Nebenklagevertreter Ormond:
Herr Zeuge, haben Sie eigentlich diese Sammlung, die es doch wohl gibt, der Entscheidungen der SS- und Polizeigerichte je mal durchgearbeitet?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Eine Sammlung der SS- und polizeigerichtlichen Entscheidungen gibt es sicherlich nicht. Jedenfalls ist mir so etwas nicht bekannt.
Nebenklagevertreter Ormond:
Oder eine Bekanntmachung des Hauptamts SS-Gericht?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, es gibt »Mitteilungen« des Hauptamts SS-Gericht, die nannten sich später auch mal anders, in denen eine ganze Menge von Fällen, von sogenannten Warnbeispielen, veröffentlicht wurde. Und es gibt »Informationen« des Chefs der Sicherheitspolizei des SD, in denen aus seinem Bereich auch wieder eine ganze Menge von Fällen offensichtlich zum Zwecke der Abschreckung mitgeteilt und dann auch an die Leute unten verteilt wurde, an die Dienststellen verteilt wurde. Diese Fälle haben wir allerdings mal durchgearbeitet, und wir haben sie auch mal so ein bißchen ausgewertet und analysiert. Das Ergebnis ist ganz interessant, weil es zeigt, daß die Behauptung, die SS- und Polizeigerichtsbarkeit sei besonders schreckenerregend gewesen, ganz sicher unzutreffend ist.
Vorsitzender Richter:
Darf ich dazwischen noch mal was fragen? Herr Zeuge, ich weiß nicht, ob wir uns hier verstehen. Ich will im Augenblick mal gar nicht wissen, ob das objektiv richtig war, was in diesen Erlassen da dringestanden hat. Mich würde es interessieren: Sie kennen solche Sammlungen von Warnungen und abschreckenden Beispielen, die damals, nicht heute, sondern in der damaligen Zeit herausgegeben worden sind, um Furcht und Schrecken zu verbreiten?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, ich weiß nicht, ob die geeignet waren, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Sie sind verbreitet worden, um als Warnbeispiele bei Belehrungen und so weiter verwendet zu werden.
Vorsitzender Richter:
Und können Sie uns diese Veröffentlichungen einmal nennen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, das kann ich tun. Da muß ich aber nachgucken. Das war einmal, [Pause] ich möchte es jetzt auch genau machen, [Pause] die »Mitteilung über die SS- und Polizeigerichtsbarkeit«, die sich dann später nannte: »Mitteilung des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei, Hauptamt SS-Gericht«. Da gibt es eine ganze Reihe von Heften, die erhalten geblieben sind.
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Hauptamt SS-Gericht, ja?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, also zunächst hieß es: »Mitteilung über die SS- und Polizeigerichtsbarkeit«, und später hieß es: »Mitteilung des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei, Hauptamt SS-Gericht«.
Vorsitzender Richter:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das sind so graue Broschüren. Die wurden verteilt bis zu den Kompanien herunter und an Offiziersanwärter, wenn ich mich recht erinnere.
Vorsitzender Richter:
Und können Sie sich da auf bestimmte Exemplare erinnern, wo derartige Dinge drinstehen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wir haben sie eigentlich alle durchgesehen und ausgewertet, ich könnte nicht das bestimmte Heft sagen. Das Institut für Zeitgeschichte hat sie in Heften – in Jahrgängen, wenn ich mich nicht irre – gebunden.
Vorsitzender Richter:
Nun, daß wir nicht diese ganzen Jahrgänge durcharbeiten müssen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ach, so schrecklich viele Hefte sind es nicht.
Vorsitzender Richter:
Nicht?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, so schrecklich viele Hefte sind es nicht.
Vorsitzender Richter:
Na ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Und die zweite Quelle wären die »Informationen«, die sogenannten, des Reichssicherheitshauptamtes. Da habe ich keinen genauen Titel hier notiert. Das sind so große Bögen. Sie nannten sich »Informationen« und hatten dahinter dann noch eine Nummer und eine Jahreszahl, waren teilweise aber auch zusammengefaßt für mehrere Nummern. Die haben wir bei der Zentralen Stelle auf Mikrofilm.
Vorsitzender Richter:
Die haben Sie?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die haben wir auf Mikrofilm. Und dann haben wir noch ein kleines Blatt, das muß ich der Ordnung halber sagen: einen Sonderbefehl über Gerichtsangelegenheiten, einen Sonderbefehl des höheren SS- und Polizeiführers in Laibach. Da sind aber nur ein paar wenige Fälle drin. Alles in allem handelt es sich um 401 Fälle, die also, wie gesagt, doch wohl als – Warnbeispiele, also zu Belehrungszwecken gedacht waren.
Vorsitzender Richter:
Und was hatten diese Fälle zum Inhalt?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Darf ich noch dazu sagen: 401 Fälle ist vielleicht nicht ganz richtig, weil manche Fälle mir identisch zu sein scheinen in verschiedenen »Mitteilungen«, so daß sich das etwas abzieht.
Vorsitzender Richter:
Verringert, ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Auf der anderen Seite sind in vielen Fällen auch mehrere Leute verurteilt worden, so daß die Zahl dann wieder höher wird. Das haben wir nicht ausgezählt.
Vorsitzender Richter:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die Fälle haben eigentlich alles zum Gegenstand, was vorkam an Kriminalität. Also auch, [+ aber] nicht nur etwa Ungehorsam, obwohl da Ungehorsam besonders stark vertreten war, etwa mit 20 Prozent. Daß es sich um Abschreckungsbeispiele handelt, ergibt sich eigentlich sehr wesentlich schon daraus, daß die Zahl der Todes- und Zuchthausstrafen, die da angeführt wurden, einen besonders hohen Prozentsatz ausmacht, nämlich 24 Prozent dieser Fälle waren Todes- und Zuchthausstrafen.
Und dazu muß man wissen, daß die Zahl der Todes- und Zuchthausstrafen in der Rechtsprechung der SS- und Polizeigerichte – auch das ergibt sich aus diesen »Mitteilungen«, die damals verbreitet wurden – sehr viel geringer war für die Jahre 1939/40. Die SS- und Polizeigerichtsbarkeit wurde ja erst Ende 39 eingeführt. Es ist gar kein Prozentsatz angegeben, es ließ sich nicht in Prozenten ausdrücken offenbar, es sind acht Fälle gewesen. 1941 waren es 30 Fälle, es ist da auch kein Prozentsatz angegeben. 1942 waren es 3,6 Prozent Todesstrafen, und 1943 waren es 2,82 Prozent Todesstrafen. Zuchthausstrafen waren 1939/40 fünf Prozent. 1941 ist nur angegeben ein geringer Prozentsatz. 1942 ist angegeben acht Prozent, und 1943 ist angegeben 7,18 Prozent. Der Anteil der Gefängnisstrafen betrug 1939/40 zirka 75 Prozent, 1941 zirka zwei Drittel, 1942 65 Prozent und 1943 66,49 Prozent. Die anderen Strafen, Arreststrafen, Festung, interessieren vielleicht weniger.
Vorsitzender Richter:
Ja. Herr Rechtsanwalt Ormond. Bitte schön.
Nebenklagevertreter Ormond:
Ja, Herr Staatsanwalt, gibt es in dieser Sammlung der Warnbeispiele, wie wir sie mal nennen wollen, auch Beispiele von Verweigerung von solchen unrechtmäßigen Tötungsbefehlen oder, sagen wir mal: von Tötungsbefehlen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein. Ich möchte so sagen: Es ist kein Sachverhalt geschildert, aus dem man schließen könnte, daß irgendwie die Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls eine Rolle gespielt hätte. [Pause]
Nebenklagevertreter Ormond:
Danke. Dann habe ich noch eine weitere Frage. Sie erwähnten eine Sammlung, die sich in Ihrem Besitz befindet. Das scheint die zu sein, die Ihnen vorliegt. Ist die
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Nein, das ist etwas anderes.
Nebenklagevertreter Ormond:
Aha. Ist diese Sammlung, in der Sie die einzelnen Fälle untersucht haben, nur zum internen Dienstgebrauch bestimmt oder ist die veröffentlicht worden?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, die ist nicht veröffentlicht, sie ist nur für den Dienstgebrauch bestimmt.
Nebenklagevertreter Ormond:
Aha. Gut, keine weiteren Fragen. Danke.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Raabe.
Nebenklagevertreter Raabe:
Keine Frage.
Vorsitzender Richter:
Herr Doktor Kaul.
Nebenklagevertreter Kaul:
Ich möchte nur eine Frage an Sie stellen, Herr Zeuge. Sie haben uns hier zunächst also einmal Prozentzahlen, aber auch Fallzahlen, Kasuistikzahlen gegeben über Todesstrafen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja.
Nebenklagevertreter Kaul:
Worauf bezogen sich diese Urteile, auf welche Sachverhalte?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich sagte schon, daß die Beispiele, die Warnbeispiele, eigentlich quer durch die Kriminalität gingen, daß vieles vorkam: Ungehorsam, aber auch Sittlichkeitsdelikte oder Verrat, alle möglichen Sachverhalte, die irgendwie eine Rolle spielen konnten. Aber der Ungehorsam war, das muß man vielleicht sagen, mit einem besonders hohen Prozentsatz vertreten, mit einem höheren Prozentsatz, als er an der Kriminalität sonst ausgemacht
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Sagten Sie vorhin nicht, 20 Prozent?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, ich will mal sehen
Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:
24 Prozent.
Vorsitzender Richter:
Nein, nein
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
19 Prozent der Fälle. Ja, ich sagte, etwa 20 Prozent. 19 Prozent der mitgeteilten Fälle betreffen Ungehorsam und Gehorsamsverweigerung.
Nebenklagevertreter Kaul:
Nun, in den »Informationen« des Reichssicherheitshauptamts, die numeriert sind und dann Schrägstrich, Jahreszahl – die anderen, die grauen Hefte, kenne ich nicht –, sind ja die Sachverhalte kurz angegeben, so etwa wie das bei ordnungsgemäßen Entscheidungen der Fall ist.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja.
Nebenklagevertreter Kaul:
Ergibt sich aus denen irgendein Hinweis, daß Verurteilungen erfolgten wegen Befehlsverweigerungen in Konzentrationslagern?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wegen Befehlsverweigerungen schlechthin in Konzentrationslagern?
Nebenklagevertreter Kaul:
Nein, dieser unser spezieller Fall wegen
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Verbrecherischer Befehle?
Nebenklagevertreter Kaul:
Ganz richtig.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, in keinem der Sachverhalte findet sich eigentlich ein Hinweis darauf, daß ein verbrecherischer Befehl irgendwie eine Rolle gespielt haben könnte.
Nebenklagevertreter Kaul:
Danke schön.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wenn es interessiert, sollte man vielleicht sagen, daß in diesen Fallbeispielen, in denen als Grund für die Verurteilung Ungehorsam angegeben worden ist oder Befehlsverweigerung oder richtiger Gehorsamsverweigerung, daß in diesen Fällen, wo nur das angegeben ist, nur in einem Fall auf eine Todesstrafe erkannt ist – und ich bin bereit, diesen Fall hier zu verlesen, wenn es interessiert –, in allen Fällen aber nur auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als einem Jahr. Das ist also der Strafrahmen, der im Militärstrafgesetzbuch als Norm, als Regel angesehen wird, ohne den erschwerenden qualifizierten Sachverhalt. Also nur eine Todesstrafe wegen nur Ungehorsams.
Vorsitzender Richter:
Bei diesen 20 Prozent?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
In all diesen 77 Fällen, in denen Ungehorsam eine Rolle spielte oder Gehorsamsverweigerung – und nur das, wo nicht außerdem noch Amtsmißbrauch oder sonst was dabei ist wohl, also nur Ungehorsam angegeben ist als Grund der Verurteilung. Da gibt es nur eine Todesstrafe, und da handelt es sich tatsächlich auch noch um ein Tötungsdelikt, also fahrlässige Tötung.
Vorsitzender Richter:
Ein Tötungsfall.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, aber angegeben ist nur Ungehorsam. Ich beschränke mich auf das, was angegeben ist.
Vorsitzender Richter:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Und angegeben ist da nur Ungehorsam in einem besonders schweren Fall. Das hat zur Todesstrafe geführt. Bei allen anderen Fällen handelt es sich, soweit Strafen überhaupt angegeben sind, um Gefängnisstrafen von nicht mehr als einem Jahr. In drei Fällen sind allerdings Art und Höhe der Strafe nicht angegeben. Nach dem übrigen Inhalt darf man annehmen, daß die Strafen sich vielleicht nicht so sehr eigneten, um sehr abschreckend zu wirken.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt Aschenauer.
Verteidiger Aschenauer:
Herr Sachverständiger, in welchem Jahre war dieser Fall, wo jemand wegen Ungehorsams verurteilt worden ist?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wann der Fall war, weiß ich nicht, aber mitgeteilt worden ist der Fall 1942 im Juli. Aber ich glaube, man sollte ihn vielleicht darstellen, um da gar kein falsches Bild aufkommen zu lassen.
Vorsitzender Richter:
Ja, der Herr Berichterstatter möchte es gern auch. Dann bitte, wenn es Ihnen möglich ist, stellen Sie den Fall dar.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Darf ich den Fall so vorlesen, wie er in diesen »Mitteilungen« mitgeteilt ist?
Vorsitzender Richter:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Da steht unter der Überschrift »Untergebenen gewissenlos erschossen«: »Ein Unterführer in einer Feldeinheit der Waffen-SS hatte wegen einer Dienstvernachlässigung von seinem Kompaniechef eine Rüge erhalten. Aus Ärger hierüber sprach er zunächst einmal in seinem Quartier dem Alkohol zu. Alsdann begab er sich in die Unterkunft zu Untergebenen, um mit ihnen weiter zu zechen. Im Laufe des Beisammenseins kam er auf den Gedanken, den Männern seine Schießkunst vorzuführen. Obwohl diese ihn daran unter Hinweis auf die ergangenen strengen Verbote über den Gebrauch von Waffen, insbesondere in Unterkünften, zu hindern suchten, nahm er seine Pistole 08 heraus und schoß zweimal auf ein an einer Wand befindliches Bild. Sodann gab er im Hof der Unterkunft einige Schüsse aus einem MG ab.
Als er merkte, daß er mit allem auf die Männer keinen Eindruck zu machen vermochte, diese sein Verhalten sogar mit eindeutigen Worten als Unfug bezeichneten, wurde er gereizt und erklärte, erst einmal beweisen zu wollen, was er für ein Kerl sei, wenn er eine Pistole in der Hand habe. Ohne die Warnungen und Bedenken der SS-Männer zu beachten, befahl er einem, sich an die Wand zu stellen, und schoß dann auf einen über dem betreffenden Mann befindlichen Becher. Von den beiden nun abgegebenen Schüssen drängte der erste in die Wand, während der zweite den Mann in den Kopf traf und auf der Stelle tötete.
Statt wenigstens zu seiner Tat zu stehen, versuchte sich der Unterführer in dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren und in der Hauptverhandlung jämmerlich und feige vor der Verantwortung zu drücken, indem er sich zu Unrecht auf völlige Betrunkenheit berief. Das nutzte ihm nichts. Seine Trunkenheit konnte nur strafverschärfend gewertet werden. Seine Tat ist schwerer Ungehorsam gegen die Bestimmungen über den Gebrauch von Schußwaffen. Mit Recht wurde ein Exempel statuiert, der Angeklagte wurde zum Tode verurteilt, die harte, aber gerechte Strafe wurde vollstreckt. Ein Vorgesetzter, der leichtfertig und gewissenlos die Waffe gegen einen Untergebenen richtet und so ein blühendes Menschenleben vernichtet, verdient keinerlei Milde. Seine Tat kommt einem Morde gleich.«
Das ist also der einzige Fall, in dem wegen Ungehorsams allein – obwohl ja hier tatsächlich auch noch andere Straftatbestände erfüllt sein können – auf eine höhere Strafe erkannt worden ist als auf ein Jahr Gefängnis.
Vorsitzender Richter:
Ja. Herr Doktor Aschenauer.
Verteidiger Aschenauer:
Herr Zeuge, ist Ihnen bekannt, daß in den von Ihnen zitierten »Mitteilungen« über die SS- und Polizeigerichtsbarkeit in Band 2, Seite 145, eine Statistik über Aussprechung von Todesstrafen enthalten ist, worin auch Fälle von Ungehorsam angegeben sind?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Statistiken in diesen »Mitteilungen«?
Verteidiger Aschenauer:
Nicht statistisch, sondern Mitteilungen über Fälle.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wo soll das da stehen?
Verteidiger Aschenauer:
In Band 2 der »Mitteilungen« über
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Welcher Fall, Herr Rechtsanwalt?
Verteidiger Aschenauer:
Allgemein, heißt es hier. [...] Daß also hier eben die Todesstrafe ausgesprochen worden ist im Jahre 42 wegen Ungehorsam, wegen Mord und so weiter, [unverständlich] weiteren Fällen.
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Ja, Sie meinen wahrscheinlich das, was es gab in diesen Heften einmal im Jahr einen Bericht über die Tätigkeit der SS- und Polizeigerichte. Und da ist dann angegeben worden auch, weswegen die Todesstrafe verhängt worden ist. Und da heißt es um 1942, wahrscheinlich meinen Sie das: »Die Hälfte aller Todesstrafen wurde wegen Fahnenflucht oder Selbstverstümmelung erkannt, wobei die letzteren nur einen geringen Teil ausmachten. Weiterhin wurde die Todesstrafe erkannt für Kriegswirtschaftsverbrechen, Vermögensdelikte, bei denen der Täter als Volksschädling gebrandmarkt wurde, besonders wegen Plünderung bei Luftangriffen, wegen Feigheit, Wachvergehen, Ungehorsam, wegen Rassenschande, Unzucht unter Männern, Notzucht, auch wegen Mordes.«
Der Hinweis darauf, daß auch wegen Ungehorsam auf Todesstrafe erkannt worden ist, findet sich nur in der Darstellung von 1942, nicht in der für 1941 und auch nicht in der von 1943. Und daraus folgere ich, daß mit einiger Sicherheit dieser eine Fall, der 1942 ja auch mitgeteilt worden ist, gemeint war. Es sind nämlich durchaus auch solche Tatbestände, wegen derer nur eine einzige Verurteilung ausgesprochen worden ist, in diesen zusammenfassenden Übersichten erwähnt. Sie meinten das sicherlich, nehme ich an.
Verteidiger Aschenauer:
Ja, das Zitat haben Sie richtig gebracht. Weiterhin eine andere Frage: Kennen Sie den Fall Eggers?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, da müßten Sie vielleicht schon etwas konkreter werden.
Verteidiger Aschenauer:
Im Jahre 1944, wo ein Mann, der ungehorsam seinen Platz verließ, zunächst von dem Polizei- und SS-Gericht Lublin, es war Polizei- und SS-Gericht XVIII, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Herr Himmler bestätigte das Urteil nicht und befahl die Erschießung. Kennen Sie diesen Fall?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Der Fall ist mir nicht bekannt. Ich kann aber aus Ihrer Sachdarstellung auch nicht entnehmen, daß es sich um einen Fall handelt, in dem es sich um die Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls gehandelt hätte.
Verteidiger Aschenauer:
Ich habe die Fragen alle gestellt in Zusammenhang mit Ungehorsam. Denn ich glaube, Herr Sachverständiger, Sie kennen die Diktion, daß eben ein Führerbefehl, auch wenn er rechtswidrig war, auszuführen war in der SS, nach Auffassung der SS- und Polizeigerichtsbarkeit.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, das ist, glaube ich, in dieser Form nicht richtig. Sondern es heißt ausdrücklich in einem Artikel, der auch in diesen Heften erschienen ist, daß Befehle, die rechtswidrig waren, nicht ausgeführt werden sollten.
Ich meine, es handelt sich ja nicht immer nur um Führerbefehle. Ich glaube, daß das ein schiefes Bild gibt, wenn man so tut, als wenn es sich hier immer nur um Führerbefehle gehandelt hätte.
Verteidiger Aschenauer:
Da muß ich Ihnen ein Urteil vorhalten, das gegen einen SS-Sturmführer erlassen worden ist, wo Herr Reinecke, der stellvertretende Chef des SS-Rechtsamts, selbst zu Himmler fuhr, und daß in diesem Falle es heißt, die Juden sind ruhig umzubringen. Aber wer diese Sachen eigenhändig oder aus eigenem Antrieb macht, derjenige eben ist dann zu bestrafen. Aus diesem Fall ergibt sich doch klar, wie eigentlich die Auffassung hinsichtlich des Judentötungsbefehls innerhalb des Raumes der SS- und Polizeigerichtsbarkeit war.
Dann habe ich eine weitere Frage, Herr Sachverständiger. Sie haben gesagt, daß also im Raum ein Fall des Kommandeurs der Sicherheitspolizei von Paris steht.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Paris war mir nicht bekannt, sondern nur Frankreich.
Verteidiger Aschenauer:
Frankreich. Meinen Sie hier den Fall Doktor Neifeind, der politische Häftlinge zu erschießen hatte in dem Gefängnis in Paris, bevor die alliierten Truppen kamen, um Paris zu befreien? Und daß dann verschiedene Verfahren gegen ihn eingeleitet worden sind, wo ein Verfahren zu einem Todesurteil geführt hat und dieses Todesurteil abgewandelt worden ist zu einem Einsatz bei einer Bewährungseinheit, wo Doktor Neifeind dann umkam?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich meinte keinen speziellen Fall, sondern ich wußte nur, daß davon die Rede war, daß ein KdS in Frankreich, ohne nähere Angaben, sich geweigert haben soll. Und eine Nachprüfung war mir nicht möglich. Die Einzelheiten, die Sie jetzt sagen, sind mir neu. Aber es wäre interessant, sie nachzuprüfen.
Verteidiger Aschenauer:
Es wäre sehr leicht nachzuprüfen. Denn an und für sich sind die Personen, die das wissen, ja da. Das ist ja der BdS von Frankreich und der höhere SS- und Polizeiführer von Paris.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, nachdem ich jetzt von Ihnen den Namen habe, würde ich auch nicht anstehen, das mal einer Überprüfung zu unterziehen.
Verteidiger Aschenauer:
Eine weitere Frage: Haben Sie von einem Fall eines Bibelforschers, mir ist im Augenblick der Name entfallen, bei der Einsatzgruppe D gehört, der sich weigerte, Juden zu erschießen, und dann selbst erschossen worden ist?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, dieser Fall ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, daß ein Polizeioffizier bei dieser Einsatzgruppe sich selbst das Leben genommen haben soll, weil er nicht an solchen Exekutionen teilnehmen wollte. Möglicherweise ist es derselbe Fall. Können Sie denn etwas konkreter sagen, Herr Rechtsanwalt, es ist immer
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Es handelt sich um keinen Selbstmord des Betreffenden, sondern er wurde erschossen.
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Ja, deswegen würde ich ja auch gerade darum bitten, daß Sie es möglichst konkreter sagen. Das ist ja eben grade die besondere Schwierigkeit, unter der wir leiden, daß ein solcher Sachverhalt angegeben wird nun gleich für eine ganze Einsatzgruppe und daß bei unseren Ermittlungen über diese Einsatzgruppe dieser Fall nicht bekannt geworden ist, was ja immerhin bemerkenswert ist. Denn das ist ja ein Sachverhalt, den normalerweise nun ein Beschuldigter möglichst schnell zur Sprache bringt. Aber das ist unsere Schwierigkeit, daß wir so schwer nachprüfen können
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Ich verstehe die Schwierigkeiten.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wenn wir nicht die Namen haben oder etwas nähere Angaben.
Verteidiger Aschenauer:
Sie haben den Fall Doktor Hornig genannt. Handelt es sich um diesen Polizeimajor, der in der Gegend von Innsbruck wohnt?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Jetzt, ja.
Verteidiger Aschenauer:
Wurde dieses Verfahren endgültig beendet?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das Verfahren wurde nicht beendet. Ich kann immer nur berichten, was Doktor Hornig selbst sagt. Er wurde verurteilt. Das Urteil wurde nicht bestätigt, und da wurde er noch mal vor Gericht gestellt, und er wurde wiederum verurteilt zu einer Gefängnisstrafe. Auch das wurde nicht rechtskräftig, wie Doktor Hornig angibt, weil er sich immer berufen habe auf die Bestimmung des Militärstrafgesetzbuchs, gemeint ist Paragraph 47 MStGB[3]. Zuletzt wurde er verurteilt, glaube ich, im März oder April 45. Das weiß ich jetzt so genau nicht. Aber zum Ende ist das Verfahren nicht gekommen.
Übrigens ist das ein Fall, der insofern ganz interessant ist, wenn ich das noch sagen darf. Es wird gerne mal gesagt, daß Himmler solche Dinge an sich gerissen hätte, dann solche Urteile einfach für null und nichtig erklärt und nun seinerseits kurzerhand die Liquidierung angeordnet hätte. Er hat es in diesem Fall nicht getan, nicht nach der ersten Verurteilung, und nach der zweiten Verurteilung hat er ja vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Aber jedenfalls nach der ersten Verurteilung hat er, auch wenn er mit dem Urteil unzufrieden war, nicht etwa kurzerhand die Tötung befohlen. Das spricht doch etwas dagegen, daß Himmler in solchen Fällen immer sehr eigenmächtig verfahren wäre.
Verteidiger Aschenauer:
Eine weitere Frage, Herr Zeuge. Sie nannten einen Fall in Holland, wo in Zusammenhang mit dem Attentat auf den höheren SS- und Polizeiführer Rauter eine Repressalie durchgeführt werden sollte. Haben Sie aus dieser Zeugenaussage oder aus den Zeugenaussagen in Erinnerung, daß die Holländer diesem Mann ein Denkmal gesetzt hätten?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, das ist in der Zeugenaussage, die mir bekanntgeworden ist, nicht erwähnt worden. Ich weiß nur, was das Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie[4] geschrieben hat, und zwar an die Staatsanwaltschaft in München, die ja die Untersuchung gegen Deppner geführt hat, und in der spielte dieser Fall eine Rolle.
Ich habe sie damals gebeten, auch ihr Augenmerk etwas auf diesen Fall zu richten. Sie hatten da, wie ich schon sagte, immer bloß frühere Kollegen, die selbst Beschuldigte gewesen waren, vernommen. Und da ist die Glaubwürdigkeit ja nicht immer ganz von vornherein so sehr... Sie haben das also, nachdem das Verfahren wieder aufgenommen war, weiterhin überprüft, ohne Resultat, und haben sich dann an das Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie gewandt. Und das hat ihnen folgendes mitgeteilt: »Daß sich bei der Erschießung von einer größeren Anzahl Niederländern bei Wustehöve am 8.3.1945 ein deutscher Militär- oder Schutzpolizist geweigert haben soll, an der Exekution teilzunehmen, ist eine Geschichte, die man auch von Zeit zu Zeit in Veröffentlichungen in diesem Lande erwähnt hat. Sie ist aber völlig unbestätigt und wurde von Augenzeugen, die dieser Exekution beigewohnt haben, nicht erwähnt.« Von einem Denkmal schreibt das Rijksinstituut nichts.
Verteidiger Aschenauer:
Sie haben den Fall Deppner eben erwähnt
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Ich habe den Fall ja auch nicht selbst aufgeklärt, Herr Rechtsanwalt.
Verteidiger Aschenauer:
Ja, schön. Wissen Sie, daß das Freispruchurteil gegen Deppner rechtskräftig ist?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, das weiß ich.
Verteidiger Aschenauer:
Dann eine weitere Frage. Sie haben von Warnbeispielen gesprochen, die sich in der Mitteilung über die SS- und Polizeigerichtsbarkeit befinden. Können Sie sich erinnern, ob Sätze wie folgende enthalten sind – ich kann sie nur sinngemäß zitieren, weil sie mir nicht vorliegen: »Wer als SS-Mann gegen das Treugrundgesetz verstößt, wird bei unseren Verfahren mit Schimpf und Schande ausgemerzt«, und hier angedroht wurde, Treupflichtverletzungen und auf der anderen Seite Ungehorsamsverletzungen mit dem Tode zu ahnden. Ich erinnere Sie vielleicht an die Seiten im Band I, Seite 101, und im Band I, Seite 103, wo es ausdrücklich heißt: »Gehorsamsverweigerung ist stets gerichtlich zu bestrafen, im Kriege mit Todesstrafe.«
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, aber die Praxis zeigt ja, daß die Warnbeispiele, die sicherlich nicht nach den Gesichtspunkten besonderer Milde ausgesucht waren, nicht praktisch durchgeführt worden sind.
Im übrigen darf ich dazu sagen: Himmler hat auch großen Wert darauf gelegt, die Heiligkeit des Eigentums hochzuhalten. Und er hat schon 1936 mal einen Befehl erlassen, in dem es heißt, daß er für alle Vergehen jeder Art gegen das Eigentum und die Ehrlichkeit die schärfsten und entehrendsten Strafmaßnahmen androhe. Trotzdem waren diese Eigentumsdelikte immer die zahlreichsten; die Hälfte aller Verurteilungen betrafen Eigentumsdelikte. Das muß ja doch wohl nicht so gewesen sein, daß jeder sich durch solche Ankündigungen besonders bedroht fühlte.
Darf ich Sie auch erinnern daran, daß der Geschlechtsverkehr mit »Andersrassigen«, mit Polen, streng bestraft wurde. Da gibt es eine ganze Menge Befehle. Und wir haben aber eine Urkunde darüber, in der das Hauptamt SS- und Polizeigericht zum Ergebnis kommt, daß 50 Prozent aller SS- und Polizeiangehörigen gegen diesen Befehl verstießen und daß dieser Befehl praktisch auf dem Papier stünde, deswegen fallen müsse. Das war ja auch Ungehorsam.
Ich würde doch meinen, daß man vielleicht nicht glauben kann, daß jeder Befehl nun derartig den Leuten in den Gliedern steckte, daß sie sich rein gar nicht trauten, etwas dagegen zu tun. Weder die Heiligkeit des Eides noch das Verbot des Alkoholmißbrauchs noch das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit »Andersrassigen«– alles Dinge, die nun sicherlich keine besonderen Gewissenskonflikte hervorzurufen geeignet waren –, die wurden ja auch nicht so beachtet, obwohl strengste Strafen darauf standen und immer wieder gesagt wurde, daß es sich um schwerwiegende Dinge handelt. Auch der Ungehorsam gegen diesen Befehl mit dem Geschlechtsverkehr [+ spricht dafür]. In dem Befehl heißt es: »Eine disziplinare Bestrafung gestatte ich nur in ganz besonderen Ausnahmefällen.« Die meisten SS- und Polizeigerichte kümmerten sich überhaupt nicht darum. Das ist durch diesen Bericht des Hauptamts des SS- und Polizeigericht belegt.
Also ich würde sagen, wenn da solche Drohungen ausgestoßen wurden, daß das sicherlich richtig ist, aber daß es offenbar nicht wörtlich verstanden wurde in bezug auf andere Befehle. Und ich darf dann fragen, warum nun grade in bezug auf solche verbrecherischen Befehle die Furcht vor Strafe und die Annahme der Unabdingbarkeit des Befehls so besonders viel größer gewesen sein soll.
Verteidiger Aschenauer:
Wie viele Fälle, schätzen Sie, sind in Zusammenhang mit diesen Befehlen unter die SS- und Polizeigerichtsbarkeit gefallen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich verstehe die Frage nicht. Wie viele Fälle wovon?
Verteidiger Aschenauer:
Wie viele Fälle schätzen Sie, wo Sie also jetzt Ihre Schlußfolgerungen ziehen, daß das nicht so beachtet worden ist, wie viele Fälle in der Gesamtmasse
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Was die Eigentumsdelikte anbelangt, das folgere ich aus den Statistiken, die in diesen »Mitteilungen«
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Können Sie Zahlen nennen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Angegeben sind. In denen ist ja immer angegeben, welche Prozentsätze die einzelnen Delikte ausmachen. Das könnte ich Ihnen auch heraussuchen notfalls.
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Und die Gesamtzahl der Delikte?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Prozentsätze.
Verteidiger Aschenauer:
Die Gesamtzahl der Delikte wissen Sie nicht?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, die kann ich ja unmöglich wissen, wenn nur Prozentsätze angegeben sind, nicht. Aber das kann meiner Ansicht nach ja so wesentlich nicht sein. Denn ich nehme an, daß die SS- und Polizeigerichte ja nicht nur mit zwei, drei Fällen zu tun hatten insgesamt.
Was den Ungehorsam [betrifft] in bezug auf diesen Befehl wegen der Geschlechtskrankheiten, das folgere ich aus diesem Bericht des Hauptamts SS-Gericht. Und was den Alkoholmißbrauch anbelangt, so folgere ich das daraus, daß in diesen Warnbeispielen das immer besonders hervorgehoben worden ist und in sehr vielen Fällen Alkoholmißbrauch oder Alkoholeinfluß eine Rolle gespielt hat. Offenbar handelte es sich ja bei diesen Warnbeispielen darum, die Leute nun besonders auf etwas hinzuweisen, was besonders oft vorkam. Und das war anscheinend ja auch dieser Alkoholmißbrauch.
Verteidiger Aschenauer:
Hatten diese Warnbeispiele den Sinn, ein Angst- und Unsicherheitsklima zu schaffen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, da bin ich nun wirklich überfragt. Ich weiß ja nicht, was die Verfasser dieser Warnbeispiele sich gedacht haben. Ich kann mir nur denken, daß diese Warnbeispiele dazu dienen sollten, bei der Belehrung der Truppe – so war das ja allgemein – zu sagen, was einem passiert, der so etwas tut. Um davor abzuschrecken, daß andere das auch tun.
Verteidiger Aschenauer:
Fielen alle SS-Angehörige unter die SS- und Polizeigerichtsbarkeit?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die Angehörigen der Waffen-SS ja wohl sicherlich.
Verteidiger Aschenauer:
Ja?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das könnte ich nicht abschließend sagen. Aber ich würde sagen, daß die Angehörigen der Waffen-SS ja wohl ausschließlich darunterfielen.
Verteidiger Aschenauer:
Na ja, SD, Kriminalpolizei und so weiter?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Auch regelmäßig, also mindestens die in Einsatzgebieten. Wenn nicht, würde ich
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Ist Ihnen nicht bekannt, daß zum Beispiel SD-Angehörige und solche Personen der Kriminalpolizei, die in gesondertem Einsatz waren, herausgenommen worden sind aus der SS- und Polizeigerichtsbarkeit, und zwar zeitraummäßig von 40 bis 43, und daß diese Leute dem sogenannten Untersuchungsführer eben unterstanden und hier auf dem verwaltungsmäßigen Weg Strafen verhängt werden konnten, ohne sich auf die SS- und Polizeigerichte zu beziehen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, das ist mir nicht nur nicht bekannt, das ist unzutreffend. Einmal ist das etwas, was ja die Konzentrationslager ganz sicherlich nicht betrifft und was deswegen eigentlich hier nicht hergehören würde. Aber wenn das Gericht es wünscht, bin ich bereit, darüber das zu sagen, was wir herausgefunden haben.
Es wurde ein SD-Untersuchungsführer eingeführt. Das war aber keine so neue Einrichtung, es war schon gar keine Institution, die neben der SS- und Polizeigerichtsbarkeit stand. Das ist einfach unzutreffend.
Es handelt sich vielmehr darum, daß die Gerichtsoffiziere – die es ja überall gab, auch bei der Polizei – bei der Sicherheitspolizei des SD mit besonderen Befugnissen insofern ausgestattet wurden, daß sie grundsätzlich die Anklage vertraten, während es ja ein Gerichtsoffizier sonst nur ausnahmsweise tat, und daß ihnen die Ermittlungen gegen Angehörige der Sicherheitspolizei und des SD ausschließlich übertragen wurden, während ja die Gerichtsoffiziere bei der Polizei sonst und bei anderen Einheiten, auch bei der Wehrmacht, nur im Einzelfall diese Aufgabe hatten.
Wenn nun diese sogenannten SD-Untersuchungsführer die Ermittlung abgeschlossen hatten, dann gab es für sie zwei Möglichkeiten. Da gab es eine Möglichkeit: Sie legten die Vorgänge dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD vor, der dann entschied, ob er das Verfahren an sich ziehen wollte, indem er nämlich seine gerichtsherrliche Zuständigkeit begründete. Wenn er das nicht tat, dann war damit zu verfahren wie sonst auch. Dann mußte nämlich das Verfahren entweder eingestellt oder Anklage erhoben werden. Und darüber entschied der örtliche Gerichtsherr.
Später war es so, daß die sogenannten SD-Untersuchungsführer den SS- und Polizeigerichten fachlich unterstellt wurden. Das galt aber auch für die Gerichtsoffiziere der anderen Einheiten. Sie waren keine Institution daneben, und das läßt sich belegen. Wir haben eine ganze Reihe von Urkundenmaterial im Bundesarchiv gefunden, das darüber Aufschluß gibt, was es mit den SD-Untersuchungsführern auf sich hatte. Die Behauptung, daß sie neben den SS- und Polizeigerichten existent gewesen wären, daß sie besondere Strafbefugnisse gehabt hätten, die ist einfach nicht zu belegen. Und es gibt ja dann auch tatsächlich keinen Fall – mir ist jedenfalls keiner bekannt –, in dem ein SD-Untersuchungsführer von sich aus eine Strafe verhängt hätte.
Und es gibt nur einen Fall, in dem wegen der Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls der Chef der Sicherheitspolizei und des SD das Verfahren an sich gezogen hätte. Jedenfalls ist mir nur ein Fall bekannt, und das ist der Obersturmbannführer Nosske, der damals in Düsseldorf war. Der wurde dann seines Amtes enthoben. Das Verfahren zog der Chef der Sicherheitspolizei und des SD an sich, das heißt, er begründete seine gerichtsherrliche Zuständigkeit. Und das Verfahren endete dann damit, daß Nosske zu einer, wie mal ein Zeuge gesagt hat, Bewährungseinheit kam. Die Bewährungseinheit war ein Artillerieausbildungs- und Ersatzregiment in Prag. Dahin wurde Nosske eingezogen als Kanonier. Er war nicht gedient gewesen, und deswegen fing er unten an, so war es ja üblich bei der Waffen-SS. Er wurde gleich empfangen damit, daß man der Einheit auferlegte, die Unterlagen für ihn als SS-Führerbewerber einzureichen. Und ich glaube nicht, daß das dafür spricht, daß es sich um eine ausgesprochene Bewährungseinheit gehandelt hat. Es passierte ihm also im Grunde gar nichts.
Das ist der einzige Fall. Und ich kenne keinen anderen Fall, der nun zeigen würde, daß die SD- Untersuchungsführer besondere Strafbefugnisse gehabt hätten.
Verteidiger Aschenauer:
In welchem Jahr war der Fall Nosske?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nosske, das war spät. Darf ich nachsehen?
Verteidiger Aschenauer:
44 oder 45?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das kann sein, ja. Ich glaube, Ende 44 kam er nach Prag dann. Aber ich könnte das nicht beschwören.
Verteidiger Aschenauer:
Er war doch in Köln damals.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich meine, in Düsseldorf, aber ich will
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Oder in Düsseldorf, Entschuldigung.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nicht widersprechen, das kann auch Köln gewesen sein. Jedenfalls im Rheinland.
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Ja schön, gut. Und ist Ihnen aus der Aussage Nosske und andere bekannt, daß sein Vorgesetzter ihn deckte gegen das Reichssicherheitshauptamt?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, solche Aussage von Nosske ist mir nicht bekannt.
Verteidiger Aschenauer:
Mir ist die Aussage Noßke bekannt aus dem Ohlendorf-Fall[5] und aus dem Ulmer Fall[6].
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, ich kenne sie aus dem Ulmer Prozeß. Nur, die ist ja sehr kurz gefaßt, und daraus kann man eigentlich wenig entnehmen. Das ist mir nicht bekannt. Das ist ja möglich, daß er Fürsprecher hatte, nicht.
Verteidiger Aschenauer:
Na ja, schön. Aber gibt es keine Vorschrift, wo die Leute einzusetzen waren, die in diesem Falle sogenannte Frontbewährung bekamen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, eine solche Vorschrift kenne ich nicht. Und der Einsatz Nosskes war ja sicherlich auch nicht besonders aufregend, nicht, da in Prag.
Verteidiger Aschenauer:
Moment. Aber ich erinnere Sie an Band 2 der Mitteilung der SS- und Polizeigerichtsbarkeit, Seite 193, 194. Hier heißt es: »Einsatz in der vordersten Linie bei Bewährungseinheiten. Und wo ein solcher Einsatz aus irgendwelchen körperlichen Gründen nicht möglich war, Arbeitseinsatz, und zwar unter Feindeinwirkung.«
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Sie sprechen jetzt von SS- und polizeigerichtlich Verurteilten.
Verteidiger Aschenauer:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das sind Leute, bei denen die Strafe von vornherein zur Bewährung ausgesetzt wurde oder aber nach Teilverbüßung. Das betrifft ja nicht nur Leute, die etwa einen verbrecherischen Befehl nicht ausgeführt hätten, sondern das betrifft Leute überhaupt, die SS- und polizeigerichtlich abgeurteilt waren. Aber ich habe ja vorhin schon gesagt: Wir kennen gar keinen, der wegen der Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls SS- und polizeigerichtlich abgeurteilt worden wäre. Sicherlich, der Einsatz der Bewährungseinheiten war kein Zuckerlecken. Aber das hat ja damit nichts zu tun.
Verteidiger Aschenauer:
Ich habe an den Sachverständigen keine Frage mehr. Aber ich behalte mir in Zusammenhang mit dem SD-Untersuchungsführer die Benennung von zwei Zeugen vor.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wenn ich dazu etwas sagen darf: Es wäre dann vielleicht nützlich, die Dokumente vorzulegen, die das Bundesarchiv in Koblenz zu diesem Problem hat. Wir haben sie in der Sammlung »Befehlsnotstand« abschriftlich drin. Aber Sie werden dann sicher Wert darauf legen, das etwas originaler zu haben.
Es gibt da Akten, die beim Bundesarchiv »Akten des Hauptamts SS-Gericht« genannt sind. Ganz richtig ist es nicht. Es sind Akten des SS-Richters beim Reichsführer SS, aus denen sich eigentlich über Jahre hinaus ergibt, was es mit dem SD-Untersuchungsführer auf sich hatte. Die Leute hatten noch nicht mal die Befugnis, eine Strafverfügung selbst zu zeichnen.
Vorsitzender Richter:
Herr Rechtsanwalt [Laternser].
Verteidiger Laternser:
Ganz kurz. Herr Staatsanwalt, haben Sie in Ludwigsburg irgendwelche Akten über Gerichtsverfahren wegen Nichtausführung von Befehlen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Sie meinen, der SS- und Polizeigerichte?
Verteidiger Laternser:
Und Wehrmacht.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, das haben wir nicht.
Verteidiger Laternser:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, das haben wir nicht.
Verteidiger Laternser:
Bei der Bearbeitung dieses Problems des Befehlsnotstandes, hat es da nicht nahegelegen, auch die Rechtsprechung der Wehrmachtsgerichte wegen Nichtausführung von Befehlen zu überprüfen?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die Rechtsprechung wegen Nichtausführung von Befehlen schlechthin interessiert uns natürlich eigentlich weniger. Daß das strafbar war, ist ja selbstverständlich.
Verteidiger Laternser:
Nein, ich meine, strahlt denn eine solche Rechtsprechung nicht auch über, also die Wehrmachtsrechtsprechung auf die Rechtsprechung der Waffen-SS damals?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Wie gesagt, die Rechtsprechung zur Frage der Nichtausführung verbrecherischer Befehle interessiert uns. Aber die Rechtsprechung zur Nichtausführung von Befehlen schlechthin kann uns natürlich nicht interessieren. Und wir kennen ja auch gar keinen Fall, in dem jemand deswegen verurteilt worden ist. Deswegen haben wir auch gar keine Möglichkeit, solche Akten zu finden.
Verteidiger Laternser:
Ja. Ich nehme an, da würden sich innerhalb der Wehrmacht doch sicherlich einige Akten finden. Nun gut. Also Sie haben jedenfalls keine
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Sie meinen, auch wegen der Nichtausführung verbrecherischer Befehle?
Verteidiger Laternser:
Jedenfalls wegen Nichtausführung von Befehlen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, von Befehlen, das würde ja ins Uferlose führen.
Verteidiger Laternser:
Na, ich weiß nicht, das hängt doch ziemlich zusammen. Nun was ganz anderes: Sie erwähnten den Fall des Doktor Hornig verschiedentlich, also quasi als Schulbeispiel. Wissen Sie, daß Doktor Hornig nicht auch bestraft worden ist wegen unberechtigter Führung des Doktortitels?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, das ist mir unbekannt.
Verteidiger Laternser:
Ist Ihnen unbekannt. Wissen Sie nicht, daß Doktor Hornig, als er mal an einer Erschießung teilnehmen sollte, sich dadurch dieser Erschießung entzogen hat, daß er den Befehl einfach einem Leutnant weitergab und sich so aus dieser Affäre gezogen hat?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, ist mir auch unbekannt. Doktor Hornig war ja ein Zeuge, der früher immer von der Verteidigung benannt worden ist, bis er dann selbst gesagt hat, daß er der Meinung ist, daß sein Fall eigentlich ein Fall gegen die Annahme eines Befehlsnotstandes ist.
Verteidiger Laternser:
Ja, wissen Sie, in wie vielen Verfahren Doktor Hornig als Zeuge aufgetreten ist?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber
Verteidiger Laternser [unterbricht]:
Ungefähr.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Sehr häufig, sehr häufig.
Verteidiger Laternser:
Sehr häufig?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Sehr häufig, ja.
Verteidiger Laternser:
Ich habe keine weiteren Fragen.
Vorsitzender Richter:
Herr Schallock.
Verteidiger Schallock:
Herr Staatsanwalt, zu Ihrer Feststellung über die Folgen einer Weigerung, an unrechtmäßigen Aktionen teilzunehmen, haben Sie da Unterteilungen gemacht hinsichtlich der Art der Weigerung? Wenn ich das sagen darf, Weigerung ist ja ein sehr allgemeiner Begriff. Er liegt also zwischen Ungehorsam und Befehlsverweigerung. Zweitens: Haben Sie Unterteilungen gemacht hinsichtlich des Dienstgrades der Betroffenen, und drittens, wie die Feststellungen getroffen sind, ob nämlich der Beschuldigte das Ihnen mitgeteilt hat oder ob Zeugenaussagen vorliegen?
Also zu eins: Um was für Arten von Weigerungen hat es sich gehandelt? Eine Weigerung geht ja davon, daß man sich drückt um die Ausführung eines Befehls, bis zur offenen Befehlsverweigerung.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Deswegen sagte ich ja eingangs schon, ich habe es nicht gerne, wenn in diesem Zusammenhang immer nur von Befehlsverweigerung gesprochen wird. Das setzt eine Dramatik in das Problem, die an sich nicht notwendig vorhanden sein muß. Es kann eine Befehlsverweigerung sein ausdrücklich mit der Begründung, daß es sich um einen verbrecherischen Befehl handelt. So, sagt Hornig, habe er gesagt. Ich kann ja nur wiedergeben, was der Zeuge sagt. Ich war nicht dabei.
Das ist natürlich nicht die Regel, daß jemand so etwas sagt. Das war sicherlich nicht opportun, und die Masse der Leute hat es sicherlich auch anders gemacht. Was Sie gesagt haben, ist: »Das kann ich nicht, ich kann keine Frauen und Kinder erschießen«, beispielsweise, oder sie haben sich sonstwie gedrückt. Ich würde sagen, daß das wohl doch die Mehrzahl der Fälle ist. Und das war wohl auch das aussichtsreichste.
Verteidiger Schallock [unterbricht]:
Sich drücken ist die Mehrzahl der Fälle?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Daß man sich drückte, daß man sagte: »Ich kann das nicht.«
Verteidiger Schallock:
Haben Sie nun Feststellungen in der Richtung getroffen, ob sich drücken je nach dem Dienstgrad verschiedene Möglichkeiten bot? Das heißt, ob jemand mit einem höheren Dienstgrad sich erfolgreicher drücken kann als einer, der meinetwegen eine niedrige Charge hat.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich würde sagen, daß die Leute, die sich solchem Befehl entzogen haben, daß das von ganz unten bis auch höher rauf geht. Ich glaube das nicht, daß man das sagen könnte. Und wenn ich so an meine eigene Erfahrung denke, dann würde ich meinen, daß ein alter Obergefreiter vielleicht da die größten Fähigkeiten entwickelt hat.
Verteidiger Schallock:
Ja, das gebe ich Ihnen zu.
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Größere Fähigkeiten, auch Möglichkeiten als ein
Verteidiger Schallock [unterbricht]:
Aber das würde doch dann immerhin wieder auf dieselbe Frage [+ hinauslaufen]: War der Befehl klar, so daß es sich um eine Befehlsverweigerung handelt, oder war der Befehl so gegeben, daß man sich überhaupt drücken konnte. Es kommt ja darauf auch sehr stark an.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, das kommt auf den Einzelfall sicherlich sehr an. Und da würde ich auch gar nicht gerne etwas Generelles sagen. Das halte ich nicht für statthaft, daß man nur etwas Generelles dazu sagt. Man muß dann auch einfach
Verteidiger Schallock [unterbricht]:
Und dann die dritte Frage, die ich gestellt habe: Ist das nun doch wohl meist eine Einlassung von Beschuldigten gewesen, oder wer hat Ihnen denn gesagt, wie das ausgegangen ist?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Nein, da würde ich sagen, von Beschuldigten eigentlich am wenigsten, sondern eigentlich ist es normal
Verteidiger Schallock [unterbricht]:
Ja eben, das würde ich eben nicht verstehen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Normal sind es eigentlich sonst Zeugen gewesen, die vernommen worden sind.
Verteidiger Schallock:
Jetzt kommen wir eben zu der Frage, die Sie angeschnitten haben, da will ich nicht weiter fragen, der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, das Problem stellt sich natürlich.
Vorsitzender Richter:
Ist von seiten der Verteidigung noch eine Frage zu stellen?
Verteidiger Aschenauer:
Ich habe eine einzige Frage, Herr Sachverständiger. Wissen Sie
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Nein, er ist ein Zeuge gewissermaßen. Er ist als Zeuge geladen.
Verteidiger Aschenauer:
Schön. Wissen Sie, ob, als die Einsatzkommandos aufgestellt worden sind, für die einzelnen Einsatzkommandoführer beziehungsweise Einsatzgruppenchefs ein Merkblatt herausgekommen ist, in dem es heißt, daß bei Disziplinwidrigkeiten und so weiter – Ungehorsam muß auch dabeistehen – der einzelne Mann in ein Konzentrationslager durch den Einsatzgruppenchef beziehungsweise Einsatzkommandoführer eingeliefert werden konnte?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, ganz so war das nicht.
Nebenklagevertreter Kaul:
Herr Präsident, jetzt möchte ich widersprechen. Ich habe bislang auf den Hinweis von Ihnen gewartet gehabt, daß der Zeuge von mir als Zeuge benannt war und nicht als Sachverständiger. Der Herr Zeuge hat selbst schon einmal darauf hingewiesen, daß verschiedene Befragungen des Herrn Rechtsanwalts Aschenauer mit der Konzentrationslageratmosphäre, um die es hier alleine geht, nichts zu tun haben. Wir haben hier nicht mit den Einsatzkommandos zu tun, sondern mit den Verhältnissen im Konzentrationslager und insbesondere im Konzentrationslager Auschwitz. Insofern bitte ich von dieser Frage Abstand nehmen zu wollen.
Vorsitzender Richter:
Ja, Herr Rechtsanwalt Doktor Kaul, es kommt ja hier darauf an, ob der Zeuge das weiß oder ob er es nicht weiß. Wenn er es weiß, dann ist die Frage, in welcher Atmosphäre sich damals diese der SS unterstellten Menschen befunden haben, doch von Interesse.
Verteidiger Aschenauer:
Dazu kommt noch folgendes: Der Herr Staatsanwalt Hinrichsen hat von sich aus die Mitteilung über SS und Gerichtsbarkeit hereingeworfen, also den Gesamtkomplex, was eben passieren konnte. Und wenn dieser Gesamtkomplex hereingeworfen wird, habe ich ohne weiteres das Recht, nach diesen »Mitteilungen«– denn das Merkblatt ist auch nichts anderes – zu fragen.
Nebenklagevertreter Kaul:
Herr Kollege Aschenauer, aufgrund Ihrer Frage hat er das beantwortet hinsichtlich der SS- und Polizeigerichte.
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Nein. Das war schon vorher.
Nebenklagevertreter Kaul:
Also ich ziehe den Widerspruch [+ zurück].
Vorsitzender Richter:
Ja, wir wollen die Frage noch beantworten lassen, ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich bin gerne bereit, das zu beantworten. Es gab da ein Merkblatt. Das war natürlich eine Mitteilung – ob die bis unten runter bekannt gemacht worden ist, darüber gibt es jedenfalls keinen Anhalt –, ein Merkblatt für die Führer der Einsatzkommandos. Und in dem heißt es in der Tat – Moment mal –, [Pause] daß wahrscheinlich die Führer der Einsatzgruppen und -kommandos...
Verteidiger Aschenauer:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
»Merkblatt für die Führer der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD für den Einsatz Barbarossa«, daß also diese Führer sofortige Maßnahmen ergreifen und in diesem Rahmen Schutzhaft verhängen konnten. [Pause] Ich kann hier nicht finden, daß da noch ein besonderer Grund angegeben ist, jedenfalls [+ keine] disziplinarischen Gründe.
Ich meine, daß das ein ganz interessantes Merkblatt ist, in der Tat. Es zeigt ja, daß die Anordnung der Schutzhaft nicht generell jedem Kommandeur zustand, sondern daß das hier eine besondere Regelung war. Denn hier steht ja drin, daß sie die übrigen Disziplinarmaßnahmen ergreifen konnten, und dann aber auch dieses als besondere Maßnahme. Woraus zu folgern ist, daß das also eine besondere Regelung war, die nur für Einsatzgruppenführer und Einsatzkommandoführer galt, nicht also generell für jeden Kommandeur.
Und zum anderen meine ich, daß man hier Schutzhaft nicht notwendig gleichsetzen muß mit Einweisung in ein Konzentrationslager. Schutzhaft bedeutet ja nicht notwendig Konzentrationslager, sondern es bedeutet eine vielfach doch auch nur vorläufige Inhaftierung. Hier heißt es, in dem Merkblatt, daß sofortige Maßnahmen ergriffen und in diesem Rahmen Schutzhaft verhängt werden konnte. Das scheint mir dafür zu sprechen, daß es sich um eine vorläufige Inschutzhaftnahme handelt.
Es gibt nämlich ein interessantes Dokument, das sich in den »Mitteilungen« wiederum findet, das dagegen spricht, daß die Kommandeure einweisen konnten in Konzentrationslager. Es handelt sich um einen Befehl des Reichsführers SS vom 9. April 1939 – 39 kann eigentlich nicht gut stimmen, aber das mag ein Schreibfehler sein. Und da heißt es: »Ein Staffelscharführer der Allgemeinen SS«– und dazu heißt es dann in diesem Merkblatt mit einer besonderen Fußnote: »Er unterlag nicht der Sondergerichtsbarkeit.«»Ein Staffelscharführer der Allgemeinen SS« also, »beauftragter Führer eines Sturms, hat im Lauf des Jahres 1940 wahllos mit Polinnen geschlechtlich verkehrt, obwohl ihm eine gegenteilige Anordnung bekannt war und er selbst die ihm unterstellten SS-Männer über das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Polinnen belehrt hatte. Bei einer der Polinnen hat sich dieser SS-Angehörige mit Syphilis angesteckt und danach trotz des Verbotes des behandelnden Arztes seiner Ehefrau und einem volksdeutschen Mädchen beigewohnt. Der Staffelscharführer wurde von mir mit Schande aus der SS entlassen und für viele Jahre in ein Konzentrationslager eingewiesen. Ich werde auch in Zukunft jeden Verstoß gegen meinen obengenannten Befehl, durch den ich den Angehörigen der SS und Polizei jede geschlechtliche Verbindung mit Frauen und Mädchen einer andersrassigen Bevölkerung verboten habe, nachdrücklich ahnden.«
Das ist in einem Band der »Mitteilungen« vom September 1941. Und daß nun hier besonders erwähnt ist, daß er nicht der Sondergerichtsbarkeit unterlag, scheint mir darauf hinzudeuten, daß für Leute, die der Sondergerichtsbarkeit unterlagen, eine solche Einweisung ins Konzentrationslager nicht vorgesehen war.
Und in diesem Zusammenhang darf ich noch auf ein Zweites hinweisen. Das ist ein Schriftverkehr, den Himmler gehabt hat mit Berger, der sich ja besonders interessierte für die Einheit Dirlewanger. Und Berger gegenüber hat Himmler 1943 noch angeordnet – nein, was anderes: 1943 ist eine Mitteilung mitgeteilt worden, daß die Strafverbüßung oder Strafverwahrung auch in einem Konzentrationslager durchgeführt werden könne, aber selbstverständlich nur auf Anordnung des Gerichtsherrn nach ordnungsgemäßer Durchführung eines Gerichtsverfahrens.
Ich würde sagen, wenn man die Unterbringung in einem Konzentrationslager selbst bei Verurteilten noch abhängig macht von einer besonderen Anordnung, dann scheint mir das dagegen zu sprechen, daß auf der anderen Seite auf formlosem Wege jemand ins Konzentrationslager eingewiesen werden konnte. Es wäre mir nicht logisch, daß man hier sagt, es kann nur jemand rein, der verurteilt ist, wenn der Gerichtsherr es anordnet, auf der anderen Seite aber sagt, jeder x-beliebige kann rein. Da brauchte man hier nicht diese Unterschiede zu machen. Und in diesem Zusammenhang muß ich noch auf das hinweisen, was ich von Berger eben sagte. Das betrifft aber doch wohl, ich muß mich berichtigen, die Bewährungseinheit.
Vorsitzender Richter:
Keine Fragen mehr, Herr Rechtsanwalt Aschenauer?
Verteidiger Aschenauer:
Nur eine einzige Frage: Von wem wurde dieses Merkblatt an die Einsatzkommandoführer herausgegeben?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Das weiß ich nicht. Ich nehme an, vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD. Das kann ich nicht sagen.
Verteidiger Aschenauer:
Von Heydrich?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, das möchte ich annehmen.
Verteidiger Aschenauer:
Es ist also eine Anlage zu einem Heydrich-Befehl. Danke.
Vorsitzender Richter:
Herr Raabe, Sie wollten noch eine Frage stellen.
Nebenklagevertreter Raabe:
Herr Zeuge, ist Ihnen auch bekannt, ob in den von Ihnen erwähnten »Informationen« des Reichssicherheitshauptamtes über diese wesentlichen Entscheidungen der SS- und Polizeigerichte auch Fälle berichtet werden, in denen Mitglieder der SS wegen rechtswidriger Handlungen gegenüber Ausländern oder Juden bestraft worden sind?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Also ich lese das ja nicht immer wieder neu, nicht. Ich muß gestehen, daß ich das nicht sicher sagen kann. Aber es könnte schon sein.
Nebenklagevertreter Raabe:
Ist Ihnen zum Beispiel ein Fall bekannt, in dem ein SS-Hauptscharführer in Norwegen in angetrunkenem Zustand auf der Straße einen Norweger bedrohte, nachdem dieser irgendwelche defätistischen Äußerungen im damaligen Sinne gemacht hatte, und ihn dann beschimpfte mit: »Du Judensau, man muß dich umbringen. Du hast dich an Hitler und den Deutschen vergangen. Ich erschieße dich, du jüdisches Schwein«? Es war allerdings kein Jude. [+ Der Hauptscharführer] hat dann auf ihn angelegt, allerdings nicht getroffen. Und dieser SS- Mann wurde dann wegen versuchten Totschlags zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt und aus der SS ausgestoßen. Ist Ihnen so ein Fall
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Also dunkel habe ich etwas in Erinnerung. Aber ich bin wirklich überfordert. Es sind 400 Fälle, nicht.
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Herr Rechtsanwalt Raabe, ich weiß jetzt im Augenblick wirklich nicht, in welcher Beziehung dieses Urteil stehen soll zu den Fragen, die hier an den Zeugen gestellt werden.
Nebenklagevertreter Raabe:
Das kann ich erklären, Herr Vorsitzender. Sie hatten doch vorhin ausdrücklich gefragt nach warnenden Beispielen, die veröffentlicht worden sind insbesondere in diesen »Informationen«, nach warnenden Beispielen, insbesondere besonders strengen Strafen.
Vorsitzender Richter:
Das hat der Zeuge erzählt, ja.
Nebenklagevertreter Raabe:
Ja, und Sie hatten doch auch danach gefragt. Und nun wollte ich eben von ihm wissen, ob nicht auch solche Beispiele veröffentlicht worden sind, in denen eben ein abschreckendes Beispiel dahingehend gegeben werden sollte, daß man sich
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Ach so. Jetzt weiß ich, was Sie wollen.
Nebenklagevertreter Raabe:
Doch zumindest im Rahmen der Vorschriften halten sollte. Und dann eine letzte Frage
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Das kann, glaube ich, als wahr unterstellt werden.
Nebenklagevertreter Raabe:
Eine letzte Frage, wenn Sie noch gestatten, Herr Vorsitzender.
Vorsitzender Richter:
Ja.
Nebenklagevertreter Raabe:
Ist Ihnen vielleicht ein Fall bekannt, wo ein Kriminalassistentanwärter wegen entwürdigenden Verhaltens gegenüber einem Juden [+ verurteilt wurde]? Er hat ihn gequält, ihn zunächst beschimpft und ihn dann angespuckt, und dann hat er ihm sogar noch eine brennende Zigarettenkippe in den Mund drücken wollen. Und dafür wurde dieser SS-Mann, dieser Kriminalassistent dann zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ist Ihnen so ein Fall bekannt?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Also es sind über 400 Fälle, und ich kann mich wirklich an die Einzelheiten nun nicht mit solcher Sicherheit erinnern.
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Soll dieser Fall auch veröffentlicht gewesen sein?
Nebenklagevertreter Raabe:
Ja, ja, Herr Vorsitzender. Wir werden auch zu gegebener Zeit die Verlesung beantragen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, das mag schon sein.
Nebenklagevertreter Raabe:
Das ist also veröffentlicht, Herr Vorsitzender, die beiden Fälle, die ich erwähnte, in den »Informationen« 2 bis 4 aus [+ dem Jahr] 42. Und zwar sind das die Fälle 30 und 45.
Vorsitzender Richter:
Also diese Fälle werden Sie uns dann nachher noch reingeben, wie Sie sagten.
Nebenklagevertreter Raabe:
Ja, heute nicht mehr.
Vorsitzender Richter:
Nein, das muß nicht sein.
Nebenklagevertreter Kaul:
Herr Präsident, ich bitte, solange der Herr Zeuge noch da ist, den Angeklagten Mulka zu fragen, gerade im Hinblick auf die mehrfach erwähnte abschreckende Wirkung dieser »Informationen«, ob diese »Informationen« regelmäßig verteilt wurden im Lager Auschwitz an die SS-Angehörigen.
Vorsitzender Richter:
Wie ist das, Angeklagter Mulka, Sie haben gehört, daß der Herr Zeuge uns gesagt hat, daß diese »Mitteilungen« und »Informationen« an die SS-Angehörigen, bis herunter, glaube ich, zu den Kompanien, verteilt worden sein sollen
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Verzeihung, darf ich dazu sagen, das waren die »Mitteilungen«.
Vorsitzender Richter:
Oder die »Mitteilungen«.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Die »Informationen« gingen nur an Sicherheitspolizei und SD-Dienststellen.
Vorsitzender Richter:
Also die »Mitteilungen«, sind die auch zu Ihnen gekommen nach Auschwitz? Die »Mitteilungen« der SS?
Angeklagter Mulka:
Ja.
Vorsitzender Richter:
Ja?
Angeklagter Mulka:
Ich erinnere mich auch an derartige Warnbeispiele, die zur Verteilung kamen und bekanntgegeben wurden bis in die Kompanien.
Vorsitzender Richter:
Ja, Sie waren ja Gerichtsoffizier
Angeklagter Mulka [unterbricht]:
Woraus Angst und Sorge jedes einzelnen Mannes entstand, was ihm passieren könnte, wenn er irgendeinen Befehl nicht ausführt. Das war die Folge davon.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Dann würde ich vorschlagen, daß man das mal vorliest, die Fälle.
Vorsitzender Richter:
Ja, Herr [+ Zeuge], es ist so: Der Angeklagte Mulka sagt das ja nur aus dem Gedächtnis, er hat sie ja nicht vorliegen, nicht. Und was er da folgert, was diese »Mitteilungen« für Folgen gehabt hätten, das können wir nicht nachprüfen, denn wir haben diese »Mitteilungen« nicht.
Sie haben ja eben geschildert, in diesen »Mitteilungen« waren Fälle, die sich eben auf durchaus verfolgungswerte Dinge richteten, zum Beispiel Beschimpfungen oder Mißhandlungen oder Vergewaltigungen oder sonstige Dinge. Ich meine, wenn das da drinstand, dann folgerte das natürlich nicht das, was der Angeklagte Mulka uns eben gesagt hat. Aber woran Sie jetzt denken, weiß ich nicht. Sie können uns derartige »Mitteilungen« wohl auch kaum
Angeklagter Mulka [unterbricht]:
Ich kann sie nicht mehr zitieren.
Vorsitzender Richter:
Nicht mehr zitieren.
Angeklagter Mulka:
Nein, nein.
Vorsitzender Richter:
Wieso sollten denn die Leute Angst und Schrecken bekommen haben davor, was ihnen passieren würde, wenn sie einem Befehl nicht nachkämen? Was stand denn da zum Beispiel drin, was sie zu einer solchen Auffassung berechtigt?
Angeklagter Mulka:
Daß als Folgen bei Nichtausführung irgendeines Befehls die schwersten Strafen zu erwarten seien, einschließlich der Todesstrafe.
Vorsitzender Richter:
Ja, soviel ich den Herrn Zeugen eben verstanden habe, waren doch die Fälle genau aufgeführt und die Folgerungen mitgeteilt, die aus diesen Fällen gezogen worden sind.
Angeklagter Mulka:
Ja, ich kann das nur allgemein erinnern. Einzelheiten darüber kann ich keine mehr geben.
Richter Hotz:
Ich habe dazu einen Vorhalt, Herr Mulka. Wir haben vorige Woche den Zeugen Wilhelmy vernommen. Wilhelmy.
Angeklagter Mulka:
Wilhelmy, ja.
Richter Hotz:
Er hatte den Befehl von Grabner, ihm, Grabner, zu melden, sobald ein Gefangener mit dem Vornamen Kasimir ordnungsgemäß entlassen werden sollte.
Angeklagter Mulka:
Ja.
Richter Hotz:
Wilhelmy hat diesen Befehl nicht ausgeführt. Was ist ihm geschehen?
Angeklagter Mulka:
[Pause] Ich weiß nichts darüber. Ich weiß gar nichts darüber.
Richter Hotz:
Gar nichts darüber?
Angeklagter Mulka:
Denn das bewegte sich ja im Rahmen der, ich glaube, sogenannten Abteilung IV, also Sanitätswesen.
Richter Hotz:
Ihnen ist nichts darüber bekanntgeworden, daß Wilhelmy wegen Nichtausführung dieses Befehls bestraft worden wäre?
Angeklagter Mulka:
Nein, ich erinnere darüber keine Bestrafung.
Vorsitzender Richter:
Wenn keine Fragen mehr zu stellen
Verteidiger Aschenauer [unterbricht]:
Nur eine Anregung, Herr Präsident. Es wurde ein Prozentsatz angegeben hinsichtlich Verurteilungen und so weiter. Da würde ich bitten, wenn die Zentralstelle in Ludwigsburg den Band 3 der »Mitteilungen« der SS- und Polizeigerichtsbarkeit dem Gericht zuschicken könnte mit dem Artikel »Die Straffälligkeit der SS und Polizei im Jahr 43«, in welchem es heißt, daß sich die Treupflichtverletzungen stark in den Vordergrund geschoben haben, und zwar von 17,97 Prozent auf 24,52 Prozent. Denn in diesem Artikel heißt es dann weiter, von den Todesstrafen entfallen allein 51,71 Prozent auf Treupflichtverletzungen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja, dazu ist vielleicht ganz interessant zu wissen, daß Ungehorsam und Gehorsamsverweigerung nicht unter Treupflichtverletzung gefaßt wurden, sondern unter Mannszuchtdelikten. Unter Treupflichtverletzung verstand man Fahnenflucht und Selbstverstümmelung und solche Sachen. Das ergibt sich auch aus den »Mitteilungen«, Herr Rechtsanwalt.
Vorsitzender Richter:
Ja, sind Sie in der Lage, dieses Heft
Zeuge Kurt Hinrichsen [unterbricht]:
Das kann ich aus dem Kopf nicht sagen. Wir haben nur einen Teil dieser »Mitteilungen« in Filmabzug. Möglicherweise wird das Institut für Zeitgeschichte diesen Band haben.
Vorsitzender Richter:
Also wenn Sie das hätten, sind Sie so liebenswürdig und veranlassen Sie, daß man das herschickt.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ich kann aber schon von hier aus nähere Angaben machen. Aber ich kann nicht sagen, welches Heft. Das ist der Jahrgang 1943. Da steht das allerdings drin, daß die Treupflichtverletzungen so kolossal zugenommen haben. Daran meine ich mich auch zu erinnern. Aber, wie gesagt, Treupflichtverletzung, das war nun eben grade nicht Ungehorsam.
Vorsitzender Richter:
Das war Fahnenflucht und Selbstverstümmelung.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja. Das steht ausdrücklich drin.
Verteidiger Aschenauer:
Ich beantrage, die Hefte vorzulegen.
Vorsitzender Richter:
Ja.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ja. Das steht da drin. Davon bin ich überzeugt.
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Also falls Sie die Hefte haben, sind Sie so liebenswürdig, sie uns zugänglich zu machen.
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Selbstverständlich. Sonst würde ich mich darauf beschränken, Ihnen die Quelle zu benennen, und Sie dann bitten, beim Institut für Zeitgeschichte
Vorsitzender Richter [unterbricht]:
Jawohl. Von seiten der Angeklagten ist auch keine Frage mehr. Herr Zeuge, wollen Sie das, was Sie gesagt haben, beschwören?
Zeuge Kurt Hinrichsen:
Ganz richtig.
- Niederländisches Staatliches Institut für Kriegsdokumentation, Amsterdam.
- Erich Deppner, Chef des Amtes IV der Sipo und des SD in Den Haag, später Kommandant des Lagers Westerbork.
- § 47 MStGB: »I. Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers: 1. wenn er den erteilten Befehl überschritten hat, oder 2. wenn ihm bekannt gewesen ist, dass der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte. II. Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von seiner Bestrafung abgesehen werden.« Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Erläutert von Erich Schwinge. 6. Aufl., Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag, 1944, S. 100.
- Niederländisches Staatliches Institut für Kriegsdokumentation, Amsterdam.
- Nürnberger Einsatzgruppen-Prozeß, Fall 9. Angeklagt war unter anderem der Chef der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf.
- Prozeß gegen Angehörige der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit, der sogenannte Ulmer Einsatzgruppen-Prozeß, in Ulm (28.4.1958-29.8.1958).