Zeuge Albert Hartl

146. Verhandlungstag 26.03.1965

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

146. Verhandlungstag, 26.3.1965

Vernehmung des Zeugen Albert Hartl

Vorsitzender Richter:

[+ Ist] einmal an Sie das Ansinnen gestellt worden, Sie sollten einem Erschießungskommando angehören oder ein solches Kommando übernehmen?

Zeuge Albert Hartl:

Ich sollte von Berlin aus strafversetzt werden beziehungsweise wurde strafversetzt nach Kiew. Und ich sagte damals sofort dem Gruppenführer Heydrich, daß ich mich an Erschießungen nicht beteiligten könnte. Und Heydrich sagte dann: »Das kann ich verstehen, Hartl, Sie sind zu weich.« Vorher war mir schon vom Gruppenführer Müller mitgeteilt worden, ich sollte zur Bewährung zu einem Erschießungskommando und sollte endlich die nötige Härte bekommen, denn ich müßte eigentlich Weichl und nicht Hartl heißen. Das war das, was man immer wieder zu mir sagte.

Heydrich hatte Verständnis, sagte aber, die Strafversetzung könnte nicht rückgängig gemacht werden. Ich bekam aber dann den Sonderauftrag, einen Bericht zu machen über die geistige Situation der Sowjetunion und bekam einen Fahrer und eine Ordonanz und fuhr nun durch ganz Südrußland und war da überall in den zentralen Städten und machte einen großen Bericht.

Vorsitzender Richter:

Warum sind Sie strafversetzt worden?

Zeuge Albert Hartl:

Ich hatte ständig Konflikte mit Gruppenführer Müller.

Vorsitzender Richter:

Und warum?

Zeuge Albert Hartl:

Weil wir ja zwei ganz verschiedene Naturen waren. Ich war an sich im Nachrichtendienst, und Gruppenführer Müller war ein reiner Mann der Exekutive. Wir paßten in keiner Weise zusammen.

Vorsitzender Richter:

Sind Ihnen andere Fälle bekannt, wo sich die Leute auch geweigert haben, an Exekutionen teilzunehmen?

Zeuge Albert Hartl:

Darf ich vielleicht ergänzend sagen: Bei mir war die Situation ja eine ganz besondere. Es war ja auch nicht der Fall einer offenen Verweigerung. Sondern ich trat an Heydrich heran und sprach menschlich, und er hatte dann dafür Verständnis. Und bei mir

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ja, das haben Sie uns schon geschildert. Ich will nur wissen, ob Ihnen andere Fälle bekanntgeworden sind, wo das ähnlich war?

Zeuge Albert Hartl:

Ja. Es sind mir drei Fälle in Erinnerung. Der eine Fall war Doktor Ratzesberger, der eines Tages zu Doktor Thomas kam und sagte, daß er nicht mehr mitmachen könne

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Moment, Herr Zeuge, ich habe Sie vorhin nicht darauf hingewiesen: Sind Sie damit einverstanden, daß ich das, was Sie von jetzt ab aussagen, auf ein Tonband nehme zum Zweck der Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?

Zeuge Albert Hartl:

Jawohl, ja.

Vorsitzender Richter:

Also Doktor Ratzesberger...

Zeuge Albert Hartl:

Kam zu Thomas. Das Gespräch habe ich nicht mitgehört, sondern Thomas hat es mir hernach gleich mitgeteilt und erzählte und sagte: »Das ist eben ein weicher Wiener, der kommt in die Heimat zurück.« Und Ratzesberger wurde dann nach Wien zurückversetzt.

Ein zweiter Fall: Ein junger Obersturmführer, der sehr aufgeregt zu Thomas kam – das Gespräch habe ich auch nicht mitgehört, sondern von Thomas unmittelbar hernach gehört –, dieser war völlig fertig und war sehr aufgeregt zu Thomas gekommen. Und Thomas war zunächst ganz wütend über ihn, faßte es so halb als Befehlsverweigerung, halb als Feigheit auf und wollte ihn dem Gericht überstellen, überlegte es sich aber dann und schickte ihn nach Berlin zurück. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie auch einmal erlebt, daß untergeordnete Leute, also ich will mal sagen, die nicht zu der Führung gehörten, Scharführer, Oberscharführer oder ähnliche Leute

Zeuge Albert Hartl [unterbricht]:

Ja, ein Fall, den ich auch namentlich nicht weiß – ich weiß nicht, ob ich ihn damals überhaupt dem Namen nach gehört habe –, den mir auch Thomas erzählte, entweder Unterscharführer oder Scharführer, der ebenfalls mit den Nerven völlig herunten war und auch von Thomas nach Hause geschickt worden ist. Thomas berief sich ja immer darauf, daß er von Haus aus Nervenarzt ist und für solche Situationen Verständnis hat.

Vorsitzender Richter:

Was hatte denn der Herr Thomas für eine Stellung bei Ihnen?

Zeuge Albert Hartl:

Thomas war Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, beziehungsweise vorher hieß wohl der Titel: Chef der Einsatzgruppe C.

Vorsitzender Richter:

Obwohl er Arzt war?

Zeuge Albert Hartl:

Ja. Er war als Arzt zum SD gegangen, ist sehr schnell befördert worden. Er war erst ein paar Dienstgrade unter mir und war dann am Schluß vier oder fünf Dienstgrade über mir.

Vorsitzender Richter:

Nun, haben Sie eine Vorstellung davon, wie es diesem Unterschar- oder Scharführer überhaupt gelungen war, bis zu einer so hohen Dienststelle hinaufzukommen, um dort seine Beschwerden vorzutragen?

Zeuge Albert Hartl:

Es wird vermutlich auch durch irgendwelche Beziehungen [+ gewesen sein], der Sohn des Thomas war auch Scharführer. Es kann sein, daß auf diese Weise es ihm möglich war oder sonst irgendwie durch eine Verbindung.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie auch gehört, daß in einigen Fällen Beförderungssperren ausgesprochen worden sind, wenn jemand diesen Befehlen nicht nachkommen wollte?

Zeuge Albert Hartl:

Ob es formell ausgesprochen wurde, weiß ich nicht. Aber praktisch wurde erzählt, daß solche Leute eben keine Aussichten mehr auf Beförderung hatten.

Vorsitzender Richter:

Ich habe keine Frage mehr an den Zeugen. Herr Staatsanwalt? Herr Rechtsanwalt Ormond, Raabe? Doktor Kaul? Die Verteidigung.

Verteidiger Aschenauer:

Herr Zeuge, wurden Sie im Prozeß Ehrlinger in Karlsruhe[1] als Zeuge vernommen?

Zeuge Albert Hartl:

Ja.

Verteidiger Aschenauer:

Haben Sie da ausgesagt, daß Thomas sehr gefährlich war, wenn Ehrlinger den Befehl verweigert hätte, hätte es schiefgehen können?

Zeuge Albert Hartl:

Thomas war unberechenbar. Er war manchmal so, daß er sehr weich und verständig war. Er konnte aber auch manchmal ganz brutal sein. Das habe ich selber erlebt, als ich dann zurückversetzt wurde, nachdem ich zusammengebrochen war und längere Zeit im Lazarett gelegen war. Da sagte Thomas bei der Verabschiedung zu mir: »Ich warne Sie, in Berlin auch nur ein Wort gegen mich zu sagen. Sollten Sie auch nur ein Wort gegen mich sagen, werde ich innerhalb drei Stunden mit dem Flugzeug in Berlin sein und werde Sie zermalmen.« Das ist ein Beweis, daß er eben auch ganz anders sein konnte.

Verteidiger Aschenauer:

Eine zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, daß der Wiener Doktor Ratzesberger deswegen ein sehr enges Verhältnis mit dem Doktor Thomas hatte, weil er die Abende durch Ziehharmonikaspiel und Gesang ausschmückte?

Zeuge Albert Hartl:

Das ist mir nicht bekannt oder nicht mehr in Erinnerung. Das weiß ich nicht. Auf alle Fälle ist es mir heute nicht in Erinnerung.

Verteidiger Aschenauer:

Eine weitere Frage. Sie sagten, daß Sie im Nachrichtendienst tätig waren. Wo arbeiteten Sie in Berlin, und welches Referat hatten Sie?

Zeuge Albert Hartl:

Ich hatte in Berlin zuerst den Aufbau des Kirchenreferates, wurde dann bei der Neuorganisierung – ich glaube, im Jahre 40 oder 41 war es – zum Gruppenleiter IV B ernannt. Diese Gruppe umfaßte die drei Referate Freimaurer, Kirche und Judentum.[2]

Ich ging damals sofort zu Gruppenführer Heydrich und fragte, welches meine Aufgaben dabei seien. Und nach einer längeren Aussprache, bei der Heydrich mir sagte, es müßten da sehr harte Maßnahmen getroffen werden, erklärte ich, daß ich dafür nicht der geeignete Mann sei, daß ich das nicht machen könnte. Und daraufhin wurde das Judenreferat unmittelbar Gruppenführer Müller unterstellt, und darüber war Müller sehr froh und war Eichmann sehr froh.

Verteidiger Aschenauer:

Waren Sie früher katholischer Geistlicher?

Zeuge Albert Hartl:

Jawohl.

Verteidiger Aschenauer:

Gingen durch Ihre Hand die Einweisungen der katholischen Geistlichen in Konzentrationslager?

Zeuge Albert Hartl:

[Pause] Ich war im Nachrichtendienst tätig, und die Entscheidung über eine Einweisung, also die letzte Zustimmung zu einer Einweisung in Konzentrationslager war beim Kirchenministerium. Darüber hatten die letzte Entscheidung weder die Gestapo und der Sicherheitsdienst... Der Nachrichtendienst hatte überhaupt keine Exekutive.

Verteidiger Aschenauer:

Herr Zeuge, ich halte Ihnen vor: Soviel wir wissen, war für die Einlieferung in KZs das Reichssicherheitshauptamt verantwortlich.

Zeuge Albert Hartl:

Bitte?

Verteidiger Aschenauer:

Soviel wir wissen, Herr Zeuge, das halte ich Ihnen vor, war das Reichssicherheitshauptamt für die Einlieferung, Einweisung in das KZ verantwortlich.

Zeuge Albert Hartl:

Aber nur nach Zustimmung durch das Kirchenministerium.

Verteidiger Aschenauer:

Danke. Keine Frage.

Vorsitzender Richter:

Sonst sind Fragen an den Zeugen nicht zu stellen. Herr Zeuge, können Sie das, was Sie uns gesagt haben

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

Herr Präsident, ich widerspreche: 60, Ziffer 3. Der Zeuge ist im Reichssicherheitshauptamt tätig gewesen, er ist der Vorgesetzte von Eichmann gewesen. Er hat zweifellos mit den Einlieferungen – Kollege Aschenauer hat das ja dargelegt – von Geistlichen ins Konzentrationslager zu tun. Ich meine, wenn das nicht durch 60, Ziffer 3 erfaßt wird! Man kann ja die Dinge nicht nur lediglich als Beweisaufnahme

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Also es wird mir eben vorgelegt aus den Nürnberger Prozessen eine Aufstellung der Gruppe IV B. Sie waren Gruppenleiter?

Zeuge Albert Hartl:

Ja, ganz kurze Zeit.

Vorsitzender Richter:

Ihr Vertreter war Sturmbannführer Regierungsrat Roth?

Zeuge Albert Hartl:

Ja, der hatte die Exekutive.

Vorsitzender Richter:

Ihnen unterstand Politischer Katholizismus, Referent SS-Sturmbannführer Roth. Ihnen unterstanden Politischer Protestantismus und die Sekten, Sturmbannführer Roth. Sonstige Kirchen, Freimaurerei, zur Zeit unbesetzt. Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten, Sturmbannführer Eichmann.

Zeuge Albert Hartl:

Unterstand mir nicht. Sondern – das ist ja bereits im Nürnberger Prozeß auch geklärt worden – das wurde sofort herausgenommen auf meinen Wunsch, bevor ich überhaupt noch die Stelle angetreten habe. Eichmann war unmittelbar dem Gruppenführer Müller unterstellt.

Vorsitzender Richter:

Waren Sie denn wegen dieser Sache einmal verurteilt worden, wegen Ihrer Tätigkeit bei der SS?

Zeuge Albert Hartl:

Nein. Ich war in Nürnberg bei dem Nürnberger Prozeß, aber ich wurde dann nicht angeklagt.

Vorsitzender Richter:

Sie wurden nicht angeklagt?

Zeuge Albert Hartl:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Und sind Sie sonst von irgendeiner Stelle einmal angeklagt worden?

Zeuge Albert Hartl:

Nein. Denn es war einwandfrei bewiesen, und Eichmann hat ja auch in Jerusalem nie irgendwie sich darauf berufen, daß er mir unterstellt gewesen wäre. Sonst hätte ja ich anstelle von Eichmann in Jerusalem sein müssen.

Nebenklagevertreter Raabe:

Ich beantrage ebenfalls, den Zeugen gemäß 60, Ziffer 3 unbeeidigt zu lassen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Wie ist es, können wir noch eine halbe Stunde hier fortfahren?[3]

Sprecher (nicht identifiziert):

Jawohl, Herr Präsident.

Vorsitzender Richter:

Geht es noch mit der Gesundheit? Schön.

Ich hätte den Vorschlag zu machen, daß wir den Zeugen Hermann noch vor der Mittagspause hören wollen, weil der Staatsanwalt Wiese mich darauf hingewiesen hat, daß es ihm schlecht geht. Wir werden beschließen über die Beeidigung dieses Zeugen und werden dann anschließend den Zeugen Hermann hören. Ich bitte, ihn einstweilen hereinzurufen.

  1. Verfahren gegen Erich Ehrlinger u. a., LG Karlsruhe, VI Ks 1/60, Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht Karlsruhe vom 20.12.1961, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XVIII, S. 65-126, Urteil des BGH vom 28.05.1963, ebd., S. 127-132.
  2. Reichssicherheitshauptamt, Amt IV: Gestapo.
  3. Der Zeuge Hartl blieb »gemäß § 60, Abs. 3 StPO unbeeidigt, da der Verdacht besteht, daß er an den Taten, die hier den Gegenstand der Verhandlung bilden, beteiligt ist«. Protokoll der Hauptverhandlung vom 26.03.1965, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 109, Bl. 1.281.
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