Zeuge Mauritius Berner

78. Verhandlungstag 17.08.1964

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

78. Verhandlungstag, 17.8.1964

Vernehmung des Zeugen Mauritius Berner

Zeuge Mauritius Berner:

an der Türe des Waggons, und auch nebenan Geschrei: »Auf! Aussteigen!«

Vorsitzender Richter:

Moment, Herr Zeuge. Sind Sie damit einverstanden, daß ich Ihre Aussage auf ein Tonband aufnehme zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?

Zeuge Mauritius Berner:

Bitte sehr.

Vorsitzender Richter:

Ja, Sie sagten also, Sie sind angekommen, man hat an Ihre Waggontüren gepocht und hat geschrien: »Aussteigen!«

Zeuge Mauritius Berner:

Aussteigen. Die

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nun waren doch die Waggontüren verschlossen?

Zeuge Mauritius Berner:

Die Waggontüren waren von außen verschlossen.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Man hatte die - wie heißt das nun?

Vorsitzender Richter:

Die Riegel.

Zeuge Mauritius Berner:

Die Riegel geöffnet. Wir haben rasch unseren Kindern, unseren Frauen die Mäntelchen noch angezogen. Und mit den Resten unseres Gepäckes - man hat uns doch auch am Wege ein paarmal schon untersucht und immer alles weggenommen, auch das letzte Stück Keks, was wir für die Kinder aufbewahrt haben - sind wir ausgestiegen.

Sofort, wie wir ausgestiegen sind, ist vor unseren Augen ein fürchterliches Bild: An dem Geleise vis-à-vis stand ein verlassener Zug. Und vor dem Zug, vor den Waggonen, Hunderte und Tausende von Reisegepäcken, aufeinandergestapelt. Ich wußte nicht, wo wir sind. Ich dachte, es ist vielleicht ein ausbombardiertes Stationshaus oder so etwas.

Aber wir hatten keine Zeit nachzudenken. Sofort sind an uns in gestreiften, zebraähnlichen Anzügen Leute [...] herangetreten und haben uns aufgefordert, das Gepäck neben den Waggonen abzulegen. Wir sträubten uns noch dagegen. Es war noch unser letztes Hab und Gut, eigentlich nur mehr ein paar Medikamente und unsere Dokumente in den Reisekoffern, in dem Gepäck. Aber wir wollten es noch nicht [hergeben]. Da riß man uns das aus der Hand, besser gesagt ist ein deutscher Soldat an uns herangetreten und hat auch gesagt: »Das Gepäck muß hier abgegeben werden.« Daraufhin haben wir das dort abgegeben, neben den Waggonen aufgestellt.

Und der Strom der Menschen ging vorwärts, und ich sagte meiner Frau - ich war mit Frau und drei Kindern, drei Töchterchen: »Tut nichts. Hauptsache, daß wir fünf zusammen sind.« Und: »Wir werden schon sehen, wie wir weiterkommen.« Kaum sagte ich das, tritt schon ein anderer Soldat zwischen uns und sagt: »Männer nach rechts, Frauen nach links!« und hat uns voneinander [getrennt]. Ich habe nicht einmal so viel Zeit gehabt, meine Frau zu umarmen. Sie hat mir nachgeschrien: »Komm, küsse uns!« Vielleicht aus irgendeinem Fraueninstinkt hat sie eher gefühlt, was für eine Gefahr uns droht.

Ich bin durch den Kordon wieder zu ihnen gelaufen, habe meine Frau geküßt und meine drei Kinder. Und schon wieder hat man mich auf die andere Seite geschoben, und wir sind weiter vorangegangen - parallel zwar, aber getrennt. Zwischen den zwei Gleisen, zwischen den zwei Zügen, parallel, aber getrennt. Dann, nicht wahr, die Menge hat mich auch weitergestoßen, habe ich sie [aus den] Augen verloren, meine Familie.

Auf einmal höre ich nur: »Ärzte und Apotheker sammeln sich hier.« Wir Ärzte und Apotheker sind alle mit dem Roten-Kreuz-Band an dem Arm angekommen. Das hat ja auch dazugehört, daß man uns das noch in Marosvásárhely, wo wir einwaggoniert [+ worden] waren, erlaubt hat oder sogar anempfohlen hat: Ärzte und Apotheker sollen ein Rotes- Kreuz-Band an dem Arm tragen. Ich habe mich auch an dieser Gruppe angestellt. Langsam waren wir schon 50, 60 oder 70 solche. Von unserer Stadt waren circa 38 Ärzte und einige Apotheker [+ da], und es waren auch [+ Leute] von der Umgebung, die auch im selben Ghetto waren. [Pause]

Wir standen dort. Auf einmal treten zu uns zwei deutsche Offiziere. Der eine, ein hoher, schön, jung aussehender Mann fragte uns freundlich: »Wo haben die Herrschaften studiert? Sie zum Beispiel? Sie zum Beispiel?« Ich sagte: »In Wien«, der andere: »In Breslau« und so weiter.

Der zweite Offizier, das war der Doktor Capesius. Wir haben ihn erkannt, wir haben uns einer dem anderen zugeflüstert: »Das ist doch der Doktor Capesius«, den wir ja vorher kannten. Er war doch oft bei uns Ärzten als Vertreter der IG Farbenindustrie. Und er sagte sogar dem zweiten Arzt, dem zweiten Offizier - damals wußte ich noch nicht, wer das ist, jetzt weiß ich schon, daß es Mengele war: »Ja, die Herrschaften haben ja fast alle im Ausland und meistenteils an deutschen Universitäten studiert.«[Pause]

Es war ein so ganz freundliches Gespräch entstanden, so daß ich mich ermutigt fühlte, den Doktor Mengele zu fragen: »Wir haben unsere Diplome in den Reisekoffern, in dem Gepäck, was wir dort niedergelegt haben. Dürfen wir das vielleicht herausnehmen?« Worauf Mengele nach einem kleinen Nachdenken sagte: »Na ja, das könnten Sie ja noch brauchen. Gehen Sie, holen Sie das.« Wir sind zurückgelaufen. Ich habe auch mein Gepäck herausgesucht und davon mein Diplom und [Pause] einige Bilder meiner Frau und meiner Kinder an mich genommen. Und wir sind zurück [zu] der Ärzte- und Apothekergruppe. [Pause]

Inzwischen ist Mengele von uns weggegangen, und wir sahen, daß, so wie er steht - unweit von uns, 20, 30 Meter entfernt -, die Menge ihm gegenüber strömt und er mit seiner Hand nach rechts und nach links deutet. Und so gehen einige Menschen nach rechts und einige nach links, Frauen und Kinder zusammen nach links.

Auf einmal sehe ich meine Frau und meine drei Kinder schon von Mengele weiter entfernt gehen. Und es fällt mir ein: Ich werde dem Doktor Capesius eine Bitte vorlegen. Ich bin zu ihm herangetreten, und ich sage ihm: »Herr Hauptmann«, ich habe die Distinktionen nicht gekannt, »ich habe zwei Zwillingskinder, die bedürfen einer größeren Schonung. Ich arbeite, was Sie wünschen, nur gestatten Sie mir, mit meiner Familie zusammenzubleiben.« Ich wußte ja nicht, warum wir dort waren, wohin sie zu gehen hatten. Fragt er mich: »Zwillingskinder?« »Ja.« »Wo sind sie?« Ich zeige: »Dort gehen Sie.« »Rufen Sie sie zurück«, sagte er mir, worauf ich meine Frau und meine Kinder, die Namen, laut rufe. Und sie kehren um, und ich zeige ihnen, sie sollen zurückkommen.

Sie kommen zurück, und sogar Doktor Capesius nahm die an der Hand, die zwei Kinder, und führt uns bis zum Doktor Mengele. Und an seinem Rücken stehengeblieben sagt er mir: »Na, sagen Sie [+ es] ihm.« Und ich sagte wieder: »Herr Kapitän«, ich wußte nicht seine Distinktion, »ich habe zwei Zwillingskinder«, wollte weiter sprechen, aber er sagte mir: »Später, jetzt habe ich keine Zeit.« Und mit einer abwehrenden Handbewegung hat er mich weggeschickt.

Doktor Capesius sagte: »Also dann müssen Sie zurückgehen in Ihre Reihe. Gehen Sie zurück!« Und meine Frau und meine drei Kinder sind wieder an diesem Weg weitergegangen. Ich begann zu schluchzen, und er sagte mir auf Ungarisch: »Ne sírjon. Weinen Sie nicht. Die gehen nur baden. In einer Stunde werden Sie sich wiedersehen.« Da schrie ich noch meiner Frau und meinen Kindern ungarisch nach und bin wieder zu meiner Gruppe zurückgegangen. Nie habe ich sie mehr gesehen.

In dieser Sekunde war ich dem Doktor Capesius sogar in der Seele dankbar. Ich dachte, er wollte mir etwas Gutes tun. Nur später habe ich erfahren, was das bedeutet hat, Zwillingskinder dem Doktor Mengele in die Hand zu geben zu seinen Experimenten.

Und ich habe auch die Erklärung gefunden, warum der Doktor Mengele nicht gemerkt hat, daß es Zwillingskinder sind. Er hat es ja wahrscheinlich gemerkt, er hat ein gutes Auge dafür gehabt. Nur hat er sich nur mit eineiigen Zwillingen beschäftigt. Und meine Zwillingskinder waren zweieiige, waren sich auch nicht ähnlich. Ich habe hier ihre Fotografien. Wenn das Hohe Gericht erlaubt, kann ich sie zeigen.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön. [Pause]

Zeuge Mauritius Berner:

Das war meine Frau, das die große Tochter, und das waren die zwei kleineren, die Zwillinge. Also man sieht, sie waren sich nicht ähnlich.

Vorsitzender Richter:

[Pause] Ja, Herr Zeuge, [Pause] was geschah dann mit Ihnen?

Zeuge Mauritius Berner:

Ich bin zu meiner Gruppe, zu den Ärzten und Apothekern, zurückgegangen. Wir waren noch ein paar Minuten dort gestanden. Dann hat man uns auch in Fünferreihen aufgestellt, und so einer im gestreiften Anzug - jetzt weiß ich schon, daß das alte Häftlinge waren, damals wußte ich [+ es] nicht - und ein deutscher Soldat haben uns weitergeführt in eine große Scheune. Dort mußten wir uns nackt ausziehen. Nur die Schuhe durften wir behalten. Dann, auf einem freien Platz, haben uns Friseure empfangen, haben uns die Haare geschnitten und ganz enthaart.

Und dann hat man uns weitergeführt in das Bad, Sauna dort genannt. Dort hat man uns noch einmal ganz rasiert, so daß kein Haar an unseren Körpern blieb. Und durch ein desinfizierendes Mittel [+ haben wir] barfuß hinübergehen und den Kopf damit auch abwaschen müssen. Und in einem Ankleideraum haben wir dann die gestreiften Anzüge bekommen, einen Rock, ein paar Hosen und ein Hemd. Unterhosen haben wir nicht bekommen.

Und dann hat man uns hinausgeführt ins Freie. Und dort haben wir gewartet - das war in der Früh - bis circa Nachmittag, also wir haben schon kein Zeitempfinden [+ mehr] gehabt. Lange, lange Zeit haben wir dort gewartet. Wir sind schon fast zusammengebrochen. Und dann ist ein Mann mit der Aufschrift »Block«, ich weiß nicht, 20 oder 21, gekommen und hat uns weitergeführt und in einen Block hineingelassen, wo wir dann angeblich Kaffee zum Trinken zu bekommen hätten.

Es war ein [fürchterlicher] Tumult, wie man uns dort hineingelassen hat. Man hat uns inzwischen schon geschlagen. Und weil jeder sich eilte, diesen Kaffee zu bekommen, weil wir doch viereinhalb Tage, den fünften Tag schon, keinen Tropfen Wasser im Mund hatten. Und dann hat man auch wirklich irgendein Faß gebracht, einen schwarzen Kaffee, was man dort verteilt hat. Aber es war ein fürchterlicher Tumult. Die Menschen haben sich gegenseitig geschlagen sogar. Und da haben wir das Leben eines Häftlings begonnen.

Vorsitzender Richter:

Ja. Nun sagen Sie bitte, ist denn da nicht noch einmal eine Selektion vorgenommen worden? Oder war es bereits auf der Rampe, wo man Ihnen gesagt hat, es seien doch hier auch Wagen mit dem Zeichen des Roten Kreuzes?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, das war noch an der Rampe, als wir noch in diesen

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

An der Rampe?

Zeuge Mauritius Berner:

Als wir noch zusammen waren. Und das war noch, bevor ich meine Frau zurückgerufen habe. Vor diesem Gespräch noch hat der Doktor Mengele, glaube ich, gesagt, daß, wenn von den Herrschaften jemand krank oder müde ist, bitte, man muß noch zehn Kilometer zu Fuß gehen, bitte auf die andere Seite hinüberzutreten, man wird sie mit Autos fahren.

Wir haben auch gesehen, daß dort wirklich Lastautos standen. Da hatten sich sofort ein Kollege, ein Arzt, Doktor Löwenstein, der damals circa 52, 53 Jahre alt hat sein können, gemeldet und ein Apotheker Kovári, der sagte: »Bitte, ich habe eine halbe Lunge.« Er hat eine plombierte Lunge gehabt. »Bitte, bitte, treten Sie hinüber«, hat man ihnen gesagt. Die sind auch hinübergetreten. Natürlich haben wir sie nie mehr im Leben gesehen.

Vorsitzender Richter:

Ja, und hat man Sie dabei auch auf dieses Zeichen des Roten Kreuzes hingewiesen?

Zeuge Mauritius Berner:

Wir sahen dort ein kleines Auto mit einem

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Roten Kreuz drauf.

Zeuge Mauritius Berner:

Roten Kreuz, ja. Und das hat uns natürlich noch mehr Vertrauen eingeflößt.

Vorsitzender Richter:

Sie haben ein Buch geschrieben über diese Vorkommnisse? [1]

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie das Buch dabei?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, aber in ungarischer Sprache.

Vorsitzender Richter:

Ist in ungarischer Sprache geschrieben?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl. Aber diesen Teil habe ich selber [ins Deutsche] übersetzt. Aber ich habe es ja fast wörtlich

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Sie haben es ja gesagt.

Zeuge Mauritius Berner:

Gesagt, ja.

Vorsitzender Richter:

Wir haben es ja auf Tonband aufgenommen.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja. Das Buch ist hier.

Vorsitzender Richter:

Ja. Sie sind dann am 29. oder am 26. Oktober 44 nach Sachsenhausen gekommen.

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Dann nach Kaufering und Dachau.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Und wurden am 30. April 45

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

In Dachau befreit.[2]

Vorsitzender Richter:

Ja. Sie haben Doktor Capesius seit dieser Zeit nicht mehr gesehen?

Zeuge Mauritius Berner:

Seit der Befreiung nicht.

Vorsitzender Richter:

Und vor der Befreiung?

Zeuge Mauritius Berner:

Dort in Auschwitz habe ich ihn noch ein-, zweimal gesehen.

Vorsitzender Richter:

Sind Sie damals Häftlingsarzt geworden?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, nein. Ich habe in der Bekleidungskammer gearbeitet.

Vorsitzender Richter:

In der Bekleidungskammer?

Zeuge Mauritius Berner:

Fünf Wochen waren wir im Zigeunerlager, nicht gearbeitet, nur Appell gestanden täglich. Dort sind wir sehr heruntergekommen, physisch. Nach dem hat man uns wieder ausgewählt, man hat uns Nummern auf die Hand tätowiert. Ich habe auch die Nummer A 16.058 am Arm tätowiert.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Da hatte man uns ins a-Lager - das war das erste Lager, a-Lager, es hieß Quarantänelager -, ein paar Tage dort hinübergeführt und dort gehalten. Und dann wurden wir noch einmal selektiert. Da habe ich den Doktor Capesius noch einmal gesehen, in Begleitung von Doktor Mengele. Aber er hatte keinen aktiven Anteil damals. Man hat nur gesagt, daß, die sich kräftig und gesund fühlen, hervortreten sollen. Und man hat uns [+ darauf] aufmerksam gemacht, daß die Leute, die eventuell einen Bruch haben, nicht hervortreten sollen.

Doch hat ein Kollege meiner, der sich von uns nicht trennen wollte und einen Bruch hatte, es versucht, und er ist in unsere Reihe gekommen. Und man hat es gemerkt, und man hat ihn furchtbar geschlagen und zurück zu seiner Gruppe geführt. Doktor Capesius war nur dabei, aber er hat nichts

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nichts getan?

Zeuge Mauritius Berner:

Nicht aktiv teilgenommen. Und dann wurden wir ins d-Lager hinübergeführt. Dort waren wir eine ganze Nacht draußen im Freien, unter dem freien Himmel. Es war ziemlich kalt diese Nacht. Dann hat sich jemand erbarmt und hat uns auf den WC hinausgeführt. Dort waren so lange WCs zu 100 solchen Löchern, und dort haben wir gewartet bis in der Früh.

In der Früh ist dann ein Kapo der Bekleidungskammer gekommen und hat einige Menschen für sich ausgewählt. Darunter hat er mich auch ausgewählt, so daß ich bis zum 26. Oktober dann in der Bekleidungskammer gearbeitet habe, im d-Lager.

Vorsitzender Richter:

Ich habe keine Fragen mehr an den Zeugen. Sind noch Fragen zu stellen? Von seiten des Gerichts nicht. Von seiten der Staatsanwaltschaft, bitte schön.

Staatsanwalt Kügler:

Herr Doktor Berner, würden Sie bitte sagen, wie der Vorname Ihrer Ehefrau war?

Zeuge Mauritius Berner:

Salamon.

Vorsitzender Richter:

Würden Sie ins Mikrofon sprechen, bitte schön.

Zeuge Mauritius Berner:

Ida Salamon.

Staatsanwalt Kügler:

Ida. Und wie alt war Ihre Ehefrau damals?

Zeuge Mauritius Berner:

Sie war 1906 geboren, also 38.

Staatsanwalt Kügler:

38. Und wie war der Vorname Ihrer ältesten Tochter?

Zeuge Mauritius Berner:

Susi.

Staatsanwalt Kügler:

Und wie alt war sie damals?

Zeuge Mauritius Berner:

Zwölfeinhalb Jahre alt.

Staatsanwalt Kügler:

Und wie waren die Namen der Zwillinge, und wie alt waren sie?

Zeuge Mauritius Berner:

Helga und Nora.

Staatsanwalt Kügler:

Können Sie noch sagen, wie alt sie

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Neun. Neuneinhalb Jahre alt.

Staatsanwalt Kügler:

[Pause] Herr Doktor Berner, Sie sagten uns, Sie seien dann in das Quarantänelager gekommen. Und dort habe eine Selektion stattgefunden, der Herr Doktor Mengele und Herr Doktor Capesius seien dort gewesen.

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe. War es der Doktor Capesius, der gesagt hat, wer sich schwach fühle, solle hervortreten, und insbesondere diejenigen, die ein Bruchleiden hätten?

Vorsitzender Richter:

Nein, nein, er hat umgekehrt gesagt

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Nein, nein, ich habe es nicht so gemeint. Es war eine Selektion nicht in diesem Sinne, wieder fürs Gas oder fürs Krematorium. Man hat vielleicht Arbeiter gesucht oder Arbeitskräfte. Aber man hat gesagt, nur die sich gesund fühlen und ohne Bruch sind, sollen sich melden.

Staatsanwalt Kügler:

Ja, und hat das der Doktor Capesius gesagt?

Zeuge Mauritius Berner:

Nichts gesagt. Er war nur dabei.

Staatsanwalt Kügler:

Er war nur dabei?

Zeuge Mauritius Berner:

Er war nur dabei.

Staatsanwalt Kügler:

Haben Sie seinerzeit, als Sie ankamen, eine Beobachtung gemacht, daß Doktor Capesius irgendwelche Aufforderungen an die ankommenden Leute auf ungarisch aussprach?

Zeuge Mauritius Berner:

Er hat zum Beispiel das auf ungarisch übersetzt, was der Doktor Mengele gesagt hat: daß, wer sich schwach oder krank fühle, auf die andere Seite gehen soll, weil man zehn Kilometer zu Fuß gehen [muß].

Staatsanwalt Kügler:

Das hat der Doktor Capesius auf ungarisch übersetzt, nachdem es der Doktor Mengele gesagt hatte?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Ja. Danke, ich habe keine Fragen mehr.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Ormond.

Nebenklagevertreter Ormond:

Herr Zeuge, haben Sie selbst den Doktor Capesius vorher als Arztbesucher in Ihrer Praxis erlebt?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Nebenklagevertreter Ormond:

Hat er Sie wiederholt dort besucht?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Nebenklagevertreter Ormond:

War Ihre Frau gleichzeitig Ihre Arztgehilfin gewesen, die Sprechstundendame und hat Kartei geführt oder dergleichen?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Nebenklagevertreter Ormond:

Er kannte Ihre Frau nicht, aber Sie?

Zeuge Mauritius Berner:

Mich ja, aber meine Frau nicht.

Nebenklagevertreter Ormond:

Herr Doktor, eine Frage noch.

Zeuge Mauritius Berner:

Bitte.

Nebenklagevertreter Ormond:

Gibt es irgendeinen Zweifel, daß der zweite SS- Führer auf der Rampe der Doktor Capesius war?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Nebenklagevertreter Ormond:

Danke schön.

Zeuge Mauritius Berner:

Kein Zweifel. Darf ich es begründen?

Vorsitzender Richter:

Keine Frage mehr.

Staatsanwalt Kügler:

Der Zeuge möchte es gern noch begründen, warum er keine Zweifel hat.

Vorsitzender Richter:

Ja, bitte schön.

Zeuge Mauritius Berner:

Weil nicht nur ich habe festgestellt, daß das der Doktor Capesius ist, sondern auch die anderen Kollegen. Wir haben uns einer dem anderen zugeflüstert: »Schau, der ist doch der Doktor Capesius, der uns immer besucht hat.«

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Herr Doktor Berner, kannten Sie aus Ihrer Heimat, wo ja Doktor Capesius, wie Sie sagten, Sie besuchte, einen Arzt namens Doktor Klein?

Zeuge Mauritius Berner:

In meiner Heimat?

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Nein. Es war in unserer Stadt ein Doktor Klein, ein jüdischer Zahnarzt.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Nein, kein jüdischer Zahnarzt, ein Arzt deutscher Abstammung.

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Kannten Sie nicht?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Laternser.

Verteidiger Laternser:

[Pause] Herr Zeuge, Sie sagten vorhin, daß Sie zu dieser Ärztegruppe gegangen waren. Wann haben Sie nun festgestellt, daß, wie Sie vorhin sagten, der Doktor Mengele die Männer nach rechts und die Frauen und Kinder nach links gehen ließ? Wann war das zeitpunktmäßig? Waren Sie schon bei der Ärztegruppe?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Verteidiger Laternser:

Sie waren schon bei der Ärztegruppe.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Verteidiger Laternser:

Und dann sahen Sie das, wie die Männer nach links gehen sollten und die Frauen nach rechts.

Vorsitzender Richter:

Nein.

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Das ist falsch verstanden gewesen.

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, nein. Männer nach links, Frauen nach rechts oder verkehrt

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Der Zeuge hat was anderes erzählt.

Zeuge Mauritius Berner:

Das war vorher, als wir von den Waggonen ausgestiegen sind, als man uns geteilt hat. In zwei Ströme sind Frauen und Kinder und dann Männer separat gegangen.

Verteidiger Laternser:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Dann hat man die Ärzte und Apotheker wieder in eine andere Gruppe gestellt.

Verteidiger Laternser:

Jawohl.

Zeuge Mauritius Berner:

Und wie wir dort standen, sah ich in einer Entfernung von 20, 30 Metern den Doktor Mengele stehen. Diese Ströme, die damals anfangs nach vorne gegangen sind, sind irgendwo umgedreht und ihm gegenüber gekommen - schon gesondert Männer und gesondert Frauen und Kinder. Und da hat er sie nach rechts und nach links geschickt.

Verteidiger Laternser:

Ja. Wo stand zu dieser Zeit der Doktor Capesius?

Zeuge Mauritius Berner:

Dort neben unserer Gruppe.

Verteidiger Laternser:

Neben Ihrer Gruppe?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja. Und ein paar Meter auch entfernt und so weiter.

Verteidiger Laternser:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Ich kann mich erinnern, als ich meine Frau und Kinder angeblickt habe und mir dieser Gedanke so plötzlich gekommen ist, daß ich ihn [+ darum] ersuchen werde, da stand er circa fünf, sechs Meter weit von uns entfernt. Und ich bin aus der Gruppe hinausgetreten und zu ihm hingegangen.

Verteidiger Laternser:

Herr Zeuge, als Sie sahen, daß diese Selektion stattfand, haben Sie denn damals gewußt oder geahnt, welches Schicksal die eine oder andere Gruppe treffen sollte?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, wenn ich das geahnt hätte, wäre ich mitgegangen mit meiner Frau und [+ meinen] Kindern.

Verteidiger Laternser:

Ja. Und nun haben Sie doch dann den Doktor Capesius gebeten, Ihnen zu helfen bei der Erfüllung des Wunsches, daß Sie fünf zusammenbleiben sollten?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, ich habe ihn ersucht, er soll mir dazu helfen. Mit der Begründung, daß meine Zwillingskinder einer größeren Schonung bedürfen und ich jede Arbeit annehme, was man mir nur geben will. Man hat uns doch immer gesagt, wir gehen in ein Arbeitslager, daß wir arbeiten werden.

Verteidiger Laternser:

Sie sagten

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Ich habe keine Ahnung gehabt, wo wir uns befinden, daß das Auschwitz heißt oder wie es heißt oder was dort ist.

Verteidiger Laternser:

Ja, ja. Sie sagten doch vorhin, daß es sich dabei um ein freundliches Gespräch gehandelt habe, nicht wahr, zwischen Ihnen und Doktor Capesius. War er Ihnen denn damals nicht hilfsbereit erschienen?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, ich sagte eben, ich war sogar in der innersten Seele ihm dankbar. Ich dachte, er will mir helfen.

Verteidiger Laternser:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Nur später bin ich drauf gekommen, was das für eine teuflische Hilfe gewesen wäre, meine Zwillingskinder den Experimenten des Doktor Capesius [zuzuführen].

Vorsitzender Richter:

Des Doktor Mengele.

Zeuge Mauritius Berner:

Des Doktor Mengele [zuzuführen].

Verteidiger Laternser:

Und diesen Schluß, den haben Sie später gezogen?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja selbstverständlich, als ich erfahren habe, was geschehen ist.

Verteidiger Laternser:

Keine weiteren Fragen.

Verteidiger Steinacker:

Herr Zeuge, Sie haben auf die Frage des Herrn Vorsitzenden, ob Sie nach diesem Ankunftstag Doktor Capesius noch einmal getroffen haben, gesagt, Sie hätten ihn noch mal gesehen, und zwar als er gemeinsam mit Doktor Mengele im a-Lager gewesen sei.

Ich darf Ihnen einen Vorhalt machen, Blatt 13.032, dort haben Sie gesagt: »Während meiner Inhaftierung in Birkenau habe ich nie mehr nach dem 29.5.44 Doktor Capesius begegnet.«[3] [Pause] Ich habe wörtlich zitiert.

Zeuge Mauritius Berner:

Kann sein, daß ich es so angegeben habe. Aber ich habe seitdem noch sehr viel [über] diese Sache nachgedacht, und es ist mir dieser Fall eingefallen, was eigentlich nicht bezeichnend war für den Doktor Capesius. Ich habe doch betont, aktiv hat er nichts gemacht.

Verteidiger Steinacker [unterbricht]:

Ja richtig, das haben Sie gesagt.

Zeuge Mauritius Berner:

Nicht wahr. Nur es ist mir eingefallen, daß ich ihn noch einmal damals gesehen habe. Ich beschuldige ihn mit nichts, daß er damals etwas getan hat.

Verteidiger Steinacker:

Nein, mir ist ja nur aufgefallen, daß Sie früher etwas anderes gesagt haben dazu.

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Es ist mir damals nicht eingefallen. Und inzwischen, seitdem ich diese Erklärung abgegeben habe, habe ich mir nachher oft diese ganze Sache vor Augen...

Verteidiger Steinacker:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Wieder erlebt, nicht wahr. Und da ist mir das eingefallen. Und dieser Fall von diesem Kollegen. Aber ich habe den Doktor Capesius mit dieser Sache überhaupt nicht beschuldigt

Verteidiger Steinacker [unterbricht]:

Nein, das habe ich auch nicht

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Ich sage, ich betone, er war damals nicht aktiv. Er war nur in Begleitung.

Verteidiger Steinacker:

Das habe ich auch nicht gemeint. Ich habe Ihnen nur den Vorhalt machen wollen. Haben Sie das in Ihrem Buch, das Sie 1947 veröffentlicht haben, bereits beschrieben, diesen zweiten Vorgang, den ich jetzt meine? Oder ist Ihnen das jetzt erst hinterher, wie Sie eben gesagt haben, aufgefallen?

Zeuge Mauritius Berner:

Ich habe es beschrieben. Ich habe diesen Fall beschrieben, wie dieser Kollege deswegen geschlagen wurde, weil er mit dem Bruch zwischen uns stehen wollte.

Verteidiger Steinacker:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Aber natürlich habe ich nicht geschrieben, daß der Doktor Capesius dabei war oder wer das gemacht hat.

Verteidiger Steinacker:

Ach so.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Verteidiger Steinacker:

Sind Sie bereit, dem Gericht das Buch zur Verfügung zu stellen?

Zeuge Mauritius Berner:

Selbstverständlich.

Verteidiger Steinacker:

Dann würde ich Sie bitten, wenn Sie das dem Gericht übergeben können. Ich habe sonst keine Frage mehr.

Staatsanwalt Kügler:

Darf ich noch eine Frage stellen?

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Staatsanwalt Kügler:

Herr Doktor Berner, nur um es klarzumachen: Ich habe Sie jetzt so verstanden, daß Sie bei einer Gruppe von Ärzten und Apothekern standen, ja?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Dann geschah der Vorfall mit Ihrer Ehefrau und den Kindern.

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Und habe ich Sie richtig verstanden, wenn es dann wie folgt weitergegangen ist: Doktor Capesius hat eine Aufforderung des Doktor Mengele, die an die Gruppe der Ärzte und Apotheker gerichtet war, es sollten sich diejenigen, die schwach seien und nicht laufen könnten, melden, weil man noch zehn Kilometer zu gehen hätte, ins Ungarische übersetzt.

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Staatsanwalt Kügler:

Und dann hat sich aus dieser Gruppe der Apotheker und Ärzte der Doktor Löwenstein, ja?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Staatsanwalt Kügler:

Und ein Apotheker aus

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Der Apotheker Kovári.

Staatsanwalt Kügler:

War er aus Kovári, oder heißt er Kovári?

Zeuge Mauritius Berner:

Er heißt Kovári. Er hieß Kovári. [...]

Staatsanwalt Kügler:

Ja. Diese beiden Herren haben sich, nachdem Doktor Capesius das übersetzt hat, gemeldet und sind zur Gruppe derjenigen gekommen, die mit Lastkraftwagen

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Das kann ich nicht behaupten, weil meines Wissen nach Doktor Löwenstein wenigstens gut Deutsch gesprochen hat. Er hätte es auch deutsch verstanden.

Staatsanwalt Kügler:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Der Kovári, weiß ich nicht.

Staatsanwalt Kügler:

Der Kovári, wissen Sie nicht. Aber jedenfalls haben sich diese zwei Herren, nachdem die Übersetzung stattgefunden hat, gemeldet?

Zeuge Mauritius Berner:

Gemeldet.

Staatsanwalt Kügler:

Haben sich noch mehr Personen gemeldet? Oder sind Ihnen nur diese

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Nein, von dieser Gruppe nur diese zwei Personen.

Staatsanwalt Kügler:

Zwei. Und haben Sie später etwas über das Schicksal dieser beiden Personen erfahren können?

Zeuge Mauritius Berner:

Niemand hat sie niemals mehr gesehen. Also wahrscheinlich sind sie sofort in die Gaskammer gekommen.

Staatsanwalt Kügler:

Ja. Haben Sie - entschuldigen Sie, wenn ich da noch etwas nachfrage - irgendeinen Kontakt gehabt mit Angehörigen dieser beiden Herren?

Zeuge Mauritius Berner:

Nachher?

Staatsanwalt Kügler:

Nachher, später.

Zeuge Mauritius Berner:

Nein. [...] Der Doktor Löwenstein hatte keine Kinder, und die Frau ist auch...

Staatsanwalt Kügler:

In Auschwitz umgekommen.

Zeuge Mauritius Berner:

In Auschwitz geblieben. Der Pharmazeut Kovári, der hatte noch einen Bruder, ein Pharmazeut Kovári aus unserer Stadt. Die sind auch nicht zurückgekehrt, so daß ich niemals mehr Kontakt mit diesem gehabt habe.

Staatsanwalt Kügler:

Haben Sie noch gesehen, ob die beiden Herren den Lastwagen bestiegen haben?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Staatsanwalt Kügler:

Das haben Sie nicht gesehen?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, ich war mit meiner eigenen Sache beschäftigt. Ich habe eben diese Szene, die ich geschildert habe, gesehen.

Staatsanwalt Kügler:

Ja. Danke sehr, Herr Doktor.

Vorsitzender Richter:

Ich hätte doch noch eine Frage, Herr Doktor: Sie haben uns gesagt, der Herr Doktor Capesius hat diese Aufforderung ins Ungarische übersetzt.

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Und hat diese Aufforderung zunächst der Gruppe gesagt, bei der Sie standen, nämlich Ärzten und Apothekern?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Wissen Sie, ob er diese Aufforderung auch übersetzt hat für die übrigen Menschen, die nicht bei Ihrer Gruppe standen, die an dem Doktor Mengele vorbeigegangen sind?

Zeuge Mauritius Berner:

Kann ich ja nicht wissen, weil man uns doch abgeführt hat.

Vorsitzender Richter:

Ja. Das wissen Sie also nicht.

Zeuge Mauritius Berner:

Das weiß ich nicht.

Vorsitzender Richter:

Danke schön.

Zeuge Mauritius Berner:

Bitte.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Verteidiger Laternser:

Herr Vorsitzender, noch eine Frage: Herr Doktor Berner, ich verstehe, daß Ihre Erinnerungen an diese Ereignisse für Sie sehr schmerzlich sind. Ich muß Sie aber trotzdem noch etwas fragen. Sie haben auf die Frage des Herrn Nebenklägervertreters gesagt, daß kein Zweifel darüber herrsche, daß es sich damals um Doktor Capesius gehandelt habe. Herr Doktor Berner, haben Sie denn nicht den Doktor Klein gekannt, der auch ungarisch war?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein.

Verteidiger Laternser:

Haben Sie keinen Doktor Klein gekannt im Lager?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein. Das habe ich ja schon einmal gesagt. Nein. [Pause]

Verteidiger Laternser:

Herr Vorsitzender, Herr Doktor Capesius möchte, wenn die Befragung zu Ende ist, eine Erklärung abgeben.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön. Ist noch eine Frage zu stellen?

Nebenklagevertreter Raabe:

Eine Frage: Herr Doktor Berner, haben Sie gesehen, daß Herr Doktor Capesius sich auf der Rampe etwa intensiv mit dem Gepäck der Häftlinge beschäftigt hat?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, habe ich nicht gemerkt.

Nebenklagevertreter Raabe:

Danke schön.

Vorsitzender Richter:

Doktor Capesius, Sie wollten eine Erklärung abgeben?

Angeklagter Capesius:

[Pause] Zu Pfingsten 1944 war ich in Berlin, die ganzen Feiertage hindurch. Das ist nachweisbar, und die [Pause] Damen zumindest, zwei Schwestern, dürften noch leben.

Außerdem ist im Jahre 45, nachdem die Überlebenden nach Marosvásárhely zurückgekommen sind, eine Reihe von früheren Auschwitz-Häftlingen zu meiner Frau nach Schäßburg gekommen und hatte sich angeboten, für sie beziehungsweise für mich gut zu sprechen. Es hat damals noch niemand etwas von den Selektionen des Capesius gesprochen - so wie der Herr Doktor Martin Berner, Márton hat er damals geheißen, Mauritius dürfte später [+ gekommen sein] -, jedenfalls hat damals niemand behauptet, daß der Capesius selektiert habe.

Daß der Doktor Klein die Selektionen wahrscheinlich gemacht hat, geht aus der Stellung zwischen Doktor Mengele und Doktor Klein hervor. Denn der Zeuge schildert bei seiner Aussage, wie Doktor - also er sagt jetzt Doktor Capesius, aber ich sage Doktor Klein - wie Doktor Klein den Hauptsturmführer Doktor Mengele fragen mußte. Und da er nun wußte, daß Mengele Hauptsturmführer war - wenigstens heute weiß er es -, hat er in seiner Aussage damals noch »Obersturmbannführer Mengele« geschrieben, auf Seite 13.020 [4] damit ein Unterschied ist zwischen dem Sturmbannführer Capesius, von dem er nachträglich gehört hat, denn sonst wäre diese Fragestellung nicht erklärlich gewesen. Denn bei einem gleichen Rang mußte niemand fragen.

[Pause] Außerdem sind diese Aussprüche, wie sie beim Auto vorkommen, mit den zehn Kilometern entfernt, die typischen Aussprüche des Doktor Klein.

[Pause] Wie Herr Doktor Berner am Anfang herausgetreten ist, behauptet er, das Gepäck zurückgelassen zu haben. Ich kann es natürlich nicht beschwören, aber das ist so üblich gewesen, daß die Ärzte ihr Ärztegepäck mit vor nehmen mußten zu dem unteren Querbalken. Dort war ein kleines Wächterhäuschen, nur so 90 mal 90. Und dort hat er es abgegeben. Und dort haben es wohl alle Ärzte abgegeben. Sonst ist nicht erklärlich - wie Herr Doktor Berner nachträglich auf Fragen wegen seinem Diplom [+ angibt], eine Story, wie es sie in der Artikelserie von Doktor Miklós Nyiszli [5] gibt, sonst nirgends -, wie er zum Gepäck zurückgehen soll, um seine Sachen zu holen. Das sind 45 Waggons normalerweise, wie man aus den Berichten der Gendarmerie in Ungarn feststellt, die Züge. Wie er dort plötzlich dann neben dem Kommando der Häftlinge, das ja anfängt auszuräumen und aufzuladen, wie er da noch sein Gepäck finden soll, um sein Diplom zu holen, das wäre auf die Art nicht erklärlich. Nachweislich haben wir das Gepäck von der Rampe, das Ärztegepäck, geholt; aber nicht in der Nacht, sondern zu den normalen Dienststunden. Und in den Pfingsttagen habe ich es jedenfalls nicht geholt. [...] Ich habe jedenfalls den Herrn Doktor und auch sonst niemanden selektiert. Aber an der Rampe bin ich während der Amtszeiten, also zwischen halb neun und halb fünf nachmittags, öfter gewesen, so wie ich es schon bei meiner ersten Aussage gesagt habe.

Vorsitzender Richter:

Also, Herr Doktor Berner, zunächst einmal: Sie haben uns doch gesagt und die Daten genau festgelegt, am 29. Mai 1944 sind Sie in Auschwitz angekommen?

Zeuge Mauritius Berner:

Stimmt.

Vorsitzender Richter:

Und Sie haben uns gesagt: »Ich weiß, daß es sich damals um den zweiten Pfingstfeiertag gehandelt hat.«

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Nicht? Nun sagt der Doktor Capesius, er könne an diesem Tag nicht dort an der Rampe gewesen sein, weil er an diesem Tag in Berlin gewesen sei und das auch nachweisen könne. Und er meint, Sie müßten einer Verwechslung zum Opfer gefallen sein mit einem gewissen Doktor Klein. Nun zunächst einmal die Frage: Ist Ihnen das Datum von dem 29. Mai, das heißt dem zweiten Pfingstfeiertag, damals schon in Erinnerung geblieben, oder haben Sie erst nachträglich den zweiten Pfingstfeiertag mit dem 29. Mai zusammengebracht?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein. Ich wußte schon damals, daß es der zweite Pfingsttag ist. Wir sind Donnerstag in der Früh von Marosvásárhely einwaggoniert worden. Das war der 25. Und am 28., Sonntag, war Pfingstsonntag, und am 29., Montag, war Pfingstmontag. Übrigens habe ich mein Buch nicht für diesen Prozeß geschrieben. Ich habe es noch im Jahre 1945 in Dachau sofort nach meiner Befreiung geschrieben, und es wurde 47 durch den Bolyai-Verlag

Vorsitzender Richter:

dem das Versöhnungsfest stattgefunden habe. Und als dann festgestellt wurde, daß in diesem Jahr das Versöhnungsfest auf einen anderen Tag fiel, da hat er uns gesagt: Mir war nur die Tatsache des Versöhnungsfestes bekannt, und ich habe mich nachträglich erkundigt und habe festgestellt, das Versöhnungsfest hat an dem und dem Tag stattgefunden. Und von dem Tag ab wußte ich, daß das am Soundsovielten war.

Zeuge Mauritius Berner:

Ich habe mich nicht nachträglich darüber informiert. Die Daten waren mir in meinem Kopfe eingeprägt. Ich bin dessen sicher, daß es diese Daten sind.

Vorsitzender Richter:

Also ich habe im Augenblick keine Möglichkeit, festzustellen, wann im Jahr 1944 das Pfingstfest war.

Zeuge Mauritius Berner:

Das ist ja leicht festzustellen.

Vorsitzender Richter:

Ja, es ist leicht festzustellen. Aber Sie bleiben heute bei Ihrer Aussage, Sie sind am 29. Mai dorthin gekommen, und das war der zweite Pfingstfeiertag?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Und an diesem Tag haben Sie auch den Doktor Capesius dort gesehen?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja. Mit der Gepäckabnahme, was der Doktor Capesius sagt: Kein Arzt von uns hat sein Gepäck, das sogenannte Ärztegepäck oder so was, bis dorthin, bis zu dieser Gruppe tragen können oder mitnehmen. Man hat es uns abgenommen, und wir mußten das aufstapeln dort neben den Waggons.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Und das war wortwörtlich so. Und ich habe das schon 45 geschrieben - und 47 ist es erschienen -, daß ich ersucht habe, nach meinem Diplom zurückgehen zu können, worauf er sagte: »Na ja, Sie können das noch brauchen.«

Vorsitzender Richter:

Ja. Hat man Sie denn von seiten der übrigen Bewachungsmannschaften oder der Häftlinge nicht daran gehindert, daß Sie noch mal da zurückgelaufen sind an das Gepäck?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, es war ja nicht weit. [...] 20, 30 Meter, 40 Meter vielleicht.

Vorsitzender Richter:

Ja?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Sie wollten noch was fragen?

Verteidiger Laternser:

Ja, bitte. Herr Doktor Berner, in Ihrem Buch - den Inhalt kennen Sie ja sicher genau -, haben Sie in dem Buch damals schon den Doktor Capesius erwähnt?

Zeuge Mauritius Berner:

Nicht namentlich.

Verteidiger Laternser:

Nicht namentlich.

Zeuge Mauritius Berner:

Vielleicht aus falscher Voraussetzung oder Prämisse. Und auch andere Namen erwähne ich nicht. Ich schreibe auch Doktor Mengele noch nicht hier, weil ich noch nicht wußte, wer er ist. Ich schreibe auch nicht, daß ich aus Marosvásárhely, vom Ghetto, hinausgefahren bin, bis zur Befreiung, und dann zurückgefahren bin, weil ich es mir so gedacht habe: In jeder kleinen Stadt in Ungarn ist dasselbe und nach demselben Schema geschehen, und ich wollte seinen Namen nicht verewigen, ich wollte ihm nicht ein Denkmal setzen. Aus dieser vielleicht falschen Prämisse habe ich den Namen nicht geschrieben. Ein amerikanischer Kritiker, der seinerzeit mein Buch gelesen hat und mein Buch sehr gepriesen hat, daß es auf der Universität als Lehrbuch eingeführt werden sollte, hat nur diesen einzigen Fehler aber gefunden und mir vorgeworfen: Warum haben Sie aber nicht den Namen dieser Menschen...

Vorsitzender Richter:

Aufgeführt.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, ausgedrückt.

Verteidiger Laternser:

Herr Doktor Berner, Sie haben vorhin auf eine Frage, ich glaube, des Herrn Vorsitzenden - bitte korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch in Erinnerung habe -, gesagt, daß Sie sich damals auch gegenseitig, als Sie an der Rampe standen, den Namen Doktor Capesius zugeflüstert haben.

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Verteidiger Laternser:

Dessen können Sie sich noch erinnern, ja?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Verteidiger Laternser:

Dann fingen Sie einen Satz an, den ich Sie bitte zu vollenden: »Wenn Doktor Capesisus beweisen kann, daß er am Pfingstdienstag nicht in Auschwitz war«

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Pfingstmontag.

Verteidiger Laternser:

»Am Pfingstmontag nicht in Auschwitz war«- dann haben Sie den Satz nicht vollendet. Was wollten Sie da noch zum Ausdruck bringen?

Zeuge Mauritius Berner:

Dann muß das Gericht darüber entscheiden, muß die Beweise prüfen, was die Wahrheit war.

Verteidiger Laternser:

Nun, Herr Doktor Berner, Sie können davon ausgehen, daß ich volles Verständnis für Ihre Situation habe. Aber ich möchte Sie und muß Sie trotzdem fragen: Wollen Sie denn einen möglichen Irrtum in der Person absolut ausschließen?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Verteidiger Laternser:

Das wollen Sie?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Verteidiger Laternser:

Darf ich mal fragen, könnten Sie vielleicht - ich weiß nicht, wie das Gericht darüber denkt - das Kapitel des Buches, das diesen Vorfall behandelt, uns in deutscher Sprache vorlesen? Ich nehme nicht an, daß es sehr lange sein wird. Ich weiß nicht, Herr Vorsitzender, wie Sie darüber denken, aber das würde jetzt grade gut hinpassen, daß man das

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ist an und für sich nicht zulässig, Herr Rechtsanwalt.

Verteidiger Laternser:

Doch, zulässig ist folgendes: Daß der Zeuge auf meine Frage sagt, was er damals in seinem Buch niedergelegt hat. Danach frage ich. Es soll ja nicht etwa als Urkunde verlesen werden, sondern ich frage den Zeugen: Herr Zeuge, was haben Sie damals in Ihrem Buch niedergelegt? Und daß dann er uns das bekanntgibt. Das ist nach meiner Meinung eine zulässige Frage.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Ist das nicht sehr lang, was Sie uns vorzulesen bräuchten? [...]

Zeuge Mauritius Berner:

Es ist in meiner Handschrift eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Seiten.

Vorsitzender Richter:

Bestehen prozessuale Bedenken dagegen? Meines Erachtens nicht. Ja? Wenn er selbst vorliest aus seinem eigenen Buch als seinem eigenen Erzeugnis. Ich habe keine Bedenken.

Verteidiger Laternser:

Ich habe auch keine Bedenken, sonst würde ich es nicht sagen, Herr Vorsitzender. Sonst würde ich den Antrag nicht stellen, daß er das tun möge. Denn er verliest ja damit nicht etwa eine Urkunde oder irgend etwas, sondern nur, was er damals niedergelegt hat.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ob es richtig übersetzt ist, ist die Frage.

Verteidiger Laternser:

Nun, der Herr Ergänzungsrichter hat in einer anderen Richtung Bedenken, ob es richtig übersetzt ist. Nun gut, ich bin damit einverstanden. Ich nehme es ohne weiteres an, weil der Zeuge doch sehr gut Deutsch spricht [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Also wollen wir doch sagen, im allseitigen Einverständnis sämtlicher Prozeßbeteiligten wird dem Zeugen gestattet, den Abschnitt aus seinem Buch - wie heißt das Buch?

Zeuge Mauritius Berner:

»Oh mein Auserwähltes Volk«.

Vorsitzender Richter:

»Oh mein Auserwähltes Volk«, das im Jahr 1947 bei dem Verlag

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Bei Bolyai. [...]

Vorsitzender Richter:

Erschienen ist und der sich mit der Ankunft des Zeugen auf der Rampe beschäftigt, vorzulesen, ja?

Verteidiger Laternser:

Ja. Herr Vorsitzender, darf ich dann noch einen Vorschlag machen?

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Laternser:

Kann das Exemplar in ungarischer Sprache uns gegeben werden, dann könnte der Doktor Capesius mitlesen in Ungarisch.

Sprecher (nicht identifiziert):

Nein.

Verteidiger Laternser:

Na ja, warum denn nicht? Ich meine, warum soll denn das nicht gehen? Ich verstehe das nicht.

Staatsanwalt Großmann:

Dem müßte ich widersprechen. Dann würde ich beantragen, daß ein Dolmetscher beigezogen würde für das Verfahren.

Vorsitzender Richter:

Ach nein, wir wollen es mal so vorlesen lassen. Ich vertraue dem Zeugen soviel, daß er uns das vorliest, was in dem Buch drinsteht und keine nachträglichen Dinge. Nein, lassen Sie mal lesen. Lesen Sie es mal vor, was Sie uns da übersetzt haben.

Zeuge Mauritius Berner:

Also das Buch [unverständlich]

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Nein, lassen Sie es mal liegen, ja.

Zeuge Mauritius Berner:

Nachdem ich die viereinhalb Tage im Waggon beschreibe: »Kaum dämmert es, der Zug steht, und wir werden durch lautes Geschrei, derbe Stimmen und das laute Aufschlagen von den Waggontüren geweckt. ›Auf, aufmachen, aussteigen!‹ und ähnliche Ausrufe, dann das Aufgehen der schweren Eisentüren der Nachbarwaggons und ein Durcheinander von Geschrei der Menge begleiten diese Laute. Auch bei unserem Waggon hört man schon die Aufforderung: ›Aufmachen, aussteigen!‹ Die Kette und das Schloß werden von außen abgeschlagen, und die Türe öffnet sich. Jeder beeilt sich aufzustehen. Wir geben rasch die Mäntelchen unseren Kindern und nehmen das uns noch verbliebene Gepäck an uns - nur einige Medikamente, unsere Dokumente und die Kleider, die wir an uns haben, sind uns noch geblieben - und steigen aus dem Zug.

Draußen bewegt sich eine große Menschenmenge voran auf dem Geleise zwischen dem nebenan stationierten Zug und unserem Zug. Vor den Waggons des neben uns stehenden Zugs riesige Mengen von Reisekoffern, Gepäcke, tausende Gepäcke in einem unvorstellbaren Durcheinander. Wir verstehen nicht, was das bedeutet. Warum dieses Bild der Vernichtung vor unseren Augen? In kaum ein paar hundert Metern Entfernung sehen wir, zwischen den zwei Geleisepaaren vorblickend, ein großes Fabrikschornstein-ähnliches Gebilde, von dem eine viele Meter hohe Feuersäule emporsteigt.

Wir möchten uns orientieren, wir wollten wissen, wo wir uns befinden. In den ersten Sekunden haben wir die Empfindung, daß wir uns auf einer ausbombardierten Station befinden. Darauf lassen uns die vor dem Zuge befindlichen Tausende und Abertausende in einem Durcheinander aufgestapelten Reisekoffer schließen. [Wegen] der Feuersäule, die vor uns in der Morgendämmerung sichtbar war, glaubten wir, in der Nähe von einer Eisenhütte oder Ähnlichem zu sein. Der Eingang der Hölle von Dante ist mir eingefallen.

›Scheinbar werden wir in einer Mine oder Eisenhütte arbeiten müssen‹, sage ich zu meiner Frau. ›Macht aber nichts aus‹, fügte ich dazu, ›die Hauptsache ist, daß wir fünf beisammen sind, und man soll uns nicht voneinander trennen.‹ Wir haben aber keine Zeit zu weiteren Betrachtungen. In blau-weiß-gestreifter, zebraähnlicher Bekleidung gekleidete Gestalten treiben uns, ihre Stöcke schwingend, nach vorne, wobei sie uns unsere Gepäcke aus den Händen reißen. Wir kämpfen um den letzten Rest unseres Eigentums. Die beruhigen uns, daß man alles vorläufig hier ablegen muß, es wird schon alles später uns nachgeliefert. Wir versuchen noch zu widerstehen. Bald tritt aber ein deutscher Soldat an uns [+ heran] und erklärt auch, daß wir das Gepäck da abgeben müssen. Wir fügen uns, legen die Gepäcke vor die Waggons, und ich sage wieder meiner Frau: ›Tut nichts, Hauptsache, daß wir fünf beisammen sind.‹

In dieser Sekunde verstellt uns nochmals ein deutscher Soldat den Weg: ›Männer nach rechts, Frauen und Kinder nach links‹, sagt er. Und im Nu war ich schon nicht [+ mehr] mit meiner Frau und meinen Kindern. Parallel, aber schon getrennt, bewegen wir uns nach vorne. [Pause] Die Menge drängt uns vorwärts. Plötzlich fällt mir ein, daß die halbe Flasche Trinkwasser, die wir von gestern aufbewahrten, sich in meiner Hand befindet. Ich dränge mich durch den uns trennenden Kordon und gebe das Wasser meiner Frau. Man drängt mich schon zurück. Plötzlich schreit mir meine Frau noch nach: ›Komm, küsse uns doch.‹ Wieder laufe ich zu ihnen zurück. Ich küßte rasch meine Frau und die Kinder mit Tränen in den Augen, und mit vor Schmerz zusammengeschnürter Kehle sah ich in die von Todesangst erfüllten und erweiterten traurigen, schönen Augen meiner Frau. Die Kinder sahen stumm zu, folgten ihrer Mutter, konnten nicht auffassen, was da geschieht, ließen sich von der hinter ihnen strömenden Menge weiterdrängen.

Ich war schon wieder nicht mit ihnen. Ein Soldat hat mich wieder auf die andere Seite des Kordons geschoben. Und wir trennten uns, ohne daß ich ihnen ein tröstendes Wort, einen ermutigenden Blick hätte nachschicken können. Eine Minute noch, und ich habe sie schon [aus] meinen Augen verloren. Auch mich drängt die sich bewegende Menge vorwärts, und wir gelangen auf einen breiteren Platz, wo die Aussicht [nicht mehr] von den zwei parallel nebeneinanderstehenden Zügen beengt wird. Soldaten und die im Gestreiften Bekleideten schieben uns hin und her, ordnen uns in Kolonnen. Auf einmal höre ich nun: Ärzte sammeln sich hier. Ich gehe hin, wo auch die anderen am Arm die Rote-Kreuz-Binde tragenden Kollegen stehen, die Menge bewegt sich neben uns weiter voran. Männer auf die eine Seite, Frauen auf die andere.

Bald merken wir, daß jeder vor einem hochgestaltigen, behandschuhten deutschen Offizier vorbeigeht, der mit einem Zeichen seines Daumens die Menschen nach rechts oder nach links schickt und Familien, die zusammen gehen, dadurch [auseinanderreißt]. Man merkt auch von weitem, daß er ältere und schwächlich aussehende Personen sowie Mütter, die mit ihren Kindern vor ihm vorbeigehen, auf die eine Seite, jüngere und stärkere Personen, Männer sowie auch Frauen, auf die andere Seite schickt. Leute, die sich weigern wollen, [+ sich] von den Familienmitgliedern zu trennen, die werden mit lauten Worten beruhigt, daß die Trennung nur deswegen notwendig ist, weil man noch zehn Kilometer zu Fuß laufen muß. Und die Alten, die Schwachen und die Kinder werden per Auto weiterbefördert. Aber am Ziel werden sich alle wieder begegnen. Es stehen auch Lastwagen und ein Kleinwagen mit dem Zeichen des Roten Kreuzes in der Nähe, so daß wir sehen müssen, daß wirklich Lastautos zur Verfügung stehen, um die Schwachen und Kranken zu transportieren. Manchmal hören wir auch, daß der Offizier sagt, die Kranken werden in ein in der Nähe befindliches Krankenhaus befördert. Beruhigt gehen also die Menschen nach rechts und links, in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.

Auf einmal tritt der Offizier, der die Trennung nach rechts und links vornahm, an unsere Gruppe heran. Er fragt den einen und den anderen von uns sehr freundlich, wo wir unsere Hochschulstudien beendet hätten und ob keine Kranken oder Müden zwischen uns wären, da man noch zehn Kilometer gehen muß, und wer von den ›Herren‹ will, kann auf die andere Seite hinübertreten, von wo man sie per Auto weiterbefördern wird. Sofort tritt aus unserer Gruppe der Apotheker Kovári [+ heraus], der sich auf seine halbe Lunge berief.« In Klammern muß ich melden, daß ich hier den Doktor Löwenstein nicht angebe, weil als ich das Buch geschrieben habe, ist mir das noch nicht eingefallen. Aber ich kann mich erinnern, daß auch ein Doktor Löwenstein und Doktor Kovári damals ausgeschieden sind. Im Buche schreibe ich nur [+ über] Kovári.

»Inzwischen sagen wir dem Offizier, daß in dem neben dem Waggon abgelegten Reisegepäck unsere Dokumente sowie Ärztediplome sind. Dürften wir nicht wenigstens unsere Diplome herausholen? ›Aber ja‹, sagt er nach kurzem Nachdenken, ›Sie können es noch brauchen.‹ Wir eilen zurück, neben den Waggons, und suchen eifrig nach unserem Gepäck. Ich finde auch meinen Koffer und hole mir mein Diplom und andere Dokumente [heraus]. Ich gehe zurück zu meiner Gruppe.

Da stehen wir. Auf einmal erblicke ich in einer Kolonne von Frauen, die grade jetzt nach rechts und nach links verteilt werden, meine Frau und meine Kinder. Ich laufe zu einem deutschen Offizier und ersuche ihn, er möge mir erlauben, daß meine Frau und meine Kinder [bei] mir bleiben können. Ich berufe mich darauf, daß ich Arzt bin - da wir Ärzte in einer separaten Gruppe aufgestellt sind, folgerte ich, daß wir als Ärzte arbeiten werden - und daß ich drei Kinder habe, von denen zwei Zwillinge sind, die mehr der Pflege bedürfen. ›Zwillinge? Rufen Sie sie zurück!‹ Ich laufe ihnen glücklich nach, schreie den Namen meiner Frau und den Namen meiner Kinder. Die drehen sich um, ich laufe ihnen nach und bringe sie zurück. Der Offizier nimmt uns mit zum selektierenden Arzt, meldet ihm, daß es Zwillinge sind. Er schaut sie aber gar nicht an. Mit einer abweisenden Handbewegung sagt er: ›Später, jetzt habe ich keine Zeit.‹

Sie müssen halt zurück zu ihrer Gruppe, aus welcher ich sie herausgeholt habe. Der Offizier sagt mir noch ungarisch: ›Weinen Sie nicht, sie gehen nur baden, in einer Stunde werden Sie sich wiedersehen und zusammensein.‹ Ich schreie das noch meiner Frau nach, die mit weit geöffneten Augen mit dem Ausdruck des Schreckens auf ihrem Gesicht ihre Kinder an der Hand führt.[6]»

Vorsitzender Richter:

[Pause] Sind noch irgendwelche Erklärungen abzugeben, Fragen zu stellen?

Ergänzungsrichter Hummerich:

Eine Frage an den Angeklagten Capesius. Sie sagten vorhin, schon aus der Tatsache, daß der Arzt auf der Rampe den Doktor Mengele gefragt hätte, ergebe sich, daß Sie es nicht gewesen sein könnten, denn zwischen Doktor Klein und Doktor Mengele habe ein dienstgradmäßiger Unterschied bestanden, zwischen Ihnen und Doktor Mengele aber nicht. Sie hätten ihn nicht zu fragen brauchen. Ist daraus der Schluß erlaubt, daß Sie selbst hätten entscheiden können, ohne Doktor Mengele zu fragen?

Angeklagter Capesius:

Ich bin nicht in die Situation gekommen, aber ich hätte jedenfalls als gleichrangiger Offizier, soweit mir bekannt ist, niemanden anderen fragen müssen bei einer Sache. Aber diese Sache hat nicht stattgefunden. Und zwar hat er in seinem Buch, wofür ich sehr dankbar bin, geschrieben, er beruft sich darauf, daß er Arzt ist. Hätte er sich bei mir darauf berufen müssen, daß er Arzt ist? Nein. Das hat er dem Doktor Klein gesagt. Das ist absolut eindeutig Doktor Klein.

Vorsitzender Richter:

Ich verstehe die Logik nicht ganz, Herr Doktor Capesius.

Verteidiger Laternser:

Wenn Sie sich kannten, dann wußte Capesius, daß er Arzt war, dann brauchte er es ihm nicht zu sagen. Wenn sich zwei Bekannte da treffen. Herr Capesius sagt eben: »Wenn er sich mir gegenüber«, jedenfalls nach dem Buche, »darauf berufen muß: ›Ich bin Arzt.‹ Das hätte er mir gegenüber nicht zu tun brauchen, wenn er es mir gegenüber gesagt hätte.«

Vorsitzender Richter:

Herr Doktor Laternser, er brauchte es überhaupt nicht zu tun. Denn erstens einmal hat er die Rote- Kreuz-Binde am Arm gehabt, zweitens einmal stand er ja bereits in der Gruppe der Ärzte, also brauchte er sich nicht darauf zu berufen. Wenn der Mann es trotzdem gesagt hat - Gott, was sagt der Mensch in dieser Aufregung nicht alles.

Verteidiger Laternser:

Ja, ja, sicher. Herr Vorsitzender, ich bitte dann nur noch festzustellen, welches die Seiten sind in dem ungarischen Text, und bitte dann, das Buch zu den Gerichtsakten zu [+ nehmen]. Welche Seiten?

Vorsitzender Richter:

Der Zeuge erklärt: »Die von mir vorgelesene Stelle befindet sich in meinem Buch auf Seite«?

Zeuge Mauritius Berner:

Beginnt auf Seite 29.

Vorsitzender Richter:

»29 bis«?

Zeuge Mauritius Berner:

[...] Bis 33.

Vorsitzender Richter:

»Bis Seite 33. Das Buch ist in ungarischer Sprache erschienen. Ich überreiche es hiermit dem Gericht.« Können Sie uns auch Ihre Übersetzung mit überreichen? »Sowie die von mir angefertigte Übersetzung der von mir vorgelesenen Stelle.« [7]

Zeuge Mauritius Berner:

Darf ich dem Herrn Doktor Laternser noch antworten?

Vorsitzender Richter:

Ja, bitte schön.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja. Ich habe zwar den Doktor Capesius gekannt, er hat mich auch gekannt. Aber er hat kein Zeichen davon [gegeben], daß er uns kennt oder daß er uns als Bekannte behandelt. Darum habe ich mich [an ihn] als einen deutschen Offizier gewandt und ihm gesagt und ihm auch wiederholt, daß ich Arzt bin und so weiter, als Begründung. Aber nicht, weil ich geglaubt habe, er weiß sonst nicht, wer ich bin oder daß ich Arzt bin.

Vorsitzender Richter:

Ja. Sondern weil er nicht zu erkennen gegeben hat

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Ja, ja. Natürlich, er hat uns doch nicht als Bekannte behandelt.

Vorsitzender Richter:

Eben.

Zeuge Mauritius Berner:

Er ist dort gestanden als Sachverständiger. Er hat doch alle aus Siebenbürgen, aus dieser Gegend, alle Ärzte und Apotheker gekannt.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Steinacker:

Ich habe noch eine abschließende Frage.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Verteidiger Steinacker:

Herr Zeuge, habe ich Sie vorhin richtig verstanden, daß Sie den ersten Offizier als »hohen, schön, jung aussehenden Mann« beschrieben haben?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Vorsitzender Richter:

Ja, hat er gesagt.

Verteidiger Steinacker:

Ist das richtig?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, das war der Doktor Mengele.

Verteidiger Steinacker:

Das war der Doktor Mengele?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Verteidiger Steinacker:

Und in Ihrem Buch haben Sie von einem »hochgestaltigen Mann« gesprochen, ja? In dem Buch, als Sie eben verlesen haben, haben Sie vom »hochgestaltigen Mann« gesprochen. Vorhin in der Aussage haben Sie von einem »hohen, schön, jung aussehenden Mann« gesprochen, ja? Ist das richtig?

Zeuge Mauritius Berner:

Der die Selektion gemacht hat.

Verteidiger Steinacker:

Der die Selektion gemacht hat.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja. Hoch. Er war ja hoch.

Verteidiger Steinacker:

War groß? Groß?

Zeuge Mauritius Berner:

Mengele, meiner Ansicht nach war er groß. Er war höher als ich, also für mich war er groß, ziemlich hoch, ja.

Verteidiger Steinacker:

Ziemlich groß. Danke schön.

Staatsanwalt Kügler:

Eine abschließende Frage nur noch: Herr Doktor Berner, können Sie sich an die Farbe der Uniform erinnern, die der Doktor Capesius damals angehabt hat?

Zeuge Mauritius Berner:

Ist mir schwer, ich war damals

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Kann es möglich gewesen sein

Zeuge Mauritius Berner [unterbricht]:

Ich glaube, wie sagte man das, nur in Ungarisch, so gräulich, bläulich. Also in dieser Situation

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Ja, sicher, ich verstehe das.

Zeuge Mauritius Berner:

Habe ich das nicht beobachtet.

Staatsanwalt Kügler:

Ja. Danke sehr.

Zeuge Mauritius Berner:

Bitte.

Vorsitzender Richter:

Ja, was hatten Sie noch? Ja bitte, fragen Sie noch. [Pause]

Angeklagter Baretzki:

Herr Doktor, Sie sagen, Sie waren in der Bekleidungskammer, ja?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Angeklagter Baretzki:

Als Häftling.

Zeuge Mauritius Berner:

Ja.

Angeklagter Baretzki:

Können Sie sich vielleicht an den Blockführer Baretzki erinnern?

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Angeklagter Baretzki:

Kennen Sie mich?

Zeuge Mauritius Berner:

Bitte?

Angeklagter Baretzki:

Kennen Sie mich dann?

Zeuge Mauritius Berner:

Ich sehe wegen des Zwielichtes nicht.

Vorsitzender Richter:

Na, kommen Sie mal vor, kommen Sie mal vor.

Zeuge Mauritius Berner:

Vielleicht darf ich nähertreten, oder Herr Baretzki soll nähertreten.

Vorsitzender Richter:

Ja, bitte schön. Ja natürlich, ja.

Angeklagter Baretzki:

[unverständlich] Bekleidungskammer [unverständlich]

Zeuge Mauritius Berner:

Jawohl.

Angeklagter Baretzki:

Können Sie über mich was sagen? [Pause]

Vorsitzender Richter:

Der Angeklagte fragt, ob Sie ihn kennen?

Zeuge Mauritius Berner:

Ja, so vom Sehen. Ich glaube, mich erinnern zu können, daß er es war. Sein Name war bei uns ziemlich gefürchtet, weil er geschlagen hat, stark geschlagen hat. Aber ich habe mit ihm sonst nichts zu tun gehabt. Nur vom

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Haben Sie einmal erlebt, daß er einen Menschen totgeschlagen hat?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, nur vom Hörensagen habe ich das.

Vorsitzender Richter:

Und was haben Sie vom Hörensagen?

Zeuge Mauritius Berner:

Daß er furchtbar schlägt.

Vorsitzender Richter:

Daß er furchtbar schlägt.

Zeuge Mauritius Berner:

Schlägt, ja.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie auch etwas davon gehört, daß er eine besondere Art von Schlag hat, mit dem er die Leute mit einem Schlag totschlagen konnte?

Zeuge Mauritius Berner:

Nein, nur mit der Faust irgendwo [unverständlich] mit der Faust, glaube ich.

Vorsitzender Richter:

Ja. Und haben Sie auch gehört, daß Häftlinge an diesen Schlägen gestorben sind?

Zeuge Mauritius Berner:

Wenn ich aufrichtig sein will, und ich will aufrichtig sein und will ihn nicht belasten, er hat einen sehr schlechten Namen dort genossen, einen schlechten Ruf. Und jeder hat sich gefürchtet vor ihm, aber Details wußte ich nicht von ihm.

Vorsitzender Richter:

Haben Sie noch eine Frage?

Angeklagter Baretzki:

Nein.

Zeuge Mauritius Berner:

Aber...

Vorsitzender Richter:

Ja? Wollten Sie noch was sagen?

Zeuge Mauritius Berner:

Nachdem Doktor Capesius angibt, er hat an der Rampe nichts zu tun gehabt oder hatte nichts gearbeitet, nicht selektiert, möchte ich dem Hohen Gericht noch folgendes mitteilen, was ich nicht erlebt, aber gehört habe. Vor circa dreieinhalb Monaten ist zu mir in Jerusalem eine Frau als Patientin in der Krankenkasse, wo ich arbeite, gekommen als Kranke. Ich habe sie untersucht, und während ich ihr das Rezept geschrieben habe, sagt sie mir: »Ich höre, Herr Doktor, daß Sie nach [...] Frankfurt fahren werden, im Prozeß als Zeuge. Wissen Sie, daß ich den Doktor Capesius auch gekannt habe, persönlich? Ich habe mit ihm in demselben Haus gewohnt in Bukarest. Ich kenne auch seine Frau gut.« Ich glaube, sie hat sich schon als Zeugin gemeldet. Diese Frau behauptet, sie wäre aus Bistritz deportiert worden zusammen mit noch 4.000 Juden, und in dieser Nacht hätte alleine Doktor Capesius selektiert. Doktor Mengele war überhaupt nicht an der Rampe. Ich will dem Gericht nicht vorgreifen. Ich will es nur zur Kenntnis bringen. Ich glaube, diese Frau hat sich als Zeugin gemeldet?

Vorsitzender Richter:

Wie heißt die Frau?

Zeuge Mauritius Berner:

Die Frau heißt Frau Doktor Nebel. Sie ist die Frau eines Rabbiners, die zweite Frau eines Rabbiners.

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Hat sich bereits gemeldet.

Zeuge Mauritius Berner:

Eine geborene Späther, aus Bistritz ist sie. Sie behauptet, mit dem Doktor Capesius auch privat verkehrt zu haben, in derselben Gesellschaft in Bistritz zusammen auch Bier getrunken [+ zu haben], also eine Verwechslung [+ ist] unmöglich, und daß er sie selektiert hat in dieser Nacht und natürlich auch die anderen, die in die Gaskammer gegangen sind.

Vorsitzender Richter:

Ja. Ist bereits hier als Zeugin bekannt und ist auch bereits auf den 2. Oktober um 10.30 Uhr hierher geladen. Herr Zeuge, wenn Sie das, was Sie uns gesagt haben, mit gutem Gewissen beschwören können, dann müssen Sie nunmehr den Eid leisten.

  1. Vgl. Anlage 1 und 2 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 17.08.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 101. Kopie des Buches »Óh. Kiválasztott népem!« (1947) sowie handschriftliche Übersetzung der Seiten 29 ff.
  2. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 03.07.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 70, Bl. 13.026-13.032.
  3. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 03.07.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 70, Bl. 13.032.
  4. Vgl. kommissarische Vernehmung vom 03.07.1962 in Jerusalem, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 70, Bl. 13.031.
  5. Miklós Nyiszli: Auschwitz. Das Tagebuch eines Lagerarztes, in: Quick, Nr. 3-11, 1961.
  6. Leicht redigiertes Zitat, vgl. Anlage 2 zum Protokoll der Hauptverhandlung vom 17.08.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 101.
  7. Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung vom 17.08.1964, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 101, Bl. 607.
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