Zeuge Erwin Schulz

147. Verhandlungstag 29.03.1965

1. Frankfurter Auschwitz-Prozess

»Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63

Landgericht Frankfurt am Main

147. Verhandlungstag, 29.3.1965

Vernehmung des Zeugen Erwin Schulz

Vorsitzender Richter:

[+ Sind Sie damit einverstanden, daß ich Ihre Aussage] auf ein Tonband nehme zum Zweck der Stützung des Gedächtnisses des Gerichts?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Herr Schulz, darf ich zunächst um Ihre Personalien bitten? Sie heißen mit Vornamen Erwin.

Zeuge Erwin Schulz:

Erwin.

Vorsitzender Richter:

Sie sind wie alt?

Zeuge Erwin Schulz:

64 Jahre.

Vorsitzender Richter:

Sind Sie verheiratet?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Wohnhaft in?

Zeuge Erwin Schulz:

Bremen.

Vorsitzender Richter:

Von Beruf?

Zeuge Erwin Schulz:

Kaufmännischer Angestellter.

Vorsitzender Richter:

Und mit den Angeklagten nicht verwandt und nicht verschwägert?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Herr Schulz, Sie waren während des Kriegs bei der SS und waren dort als SS-Führer wo eingeteilt?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich hatte das Einsatzkommando 5 innerhalb der Einsatzgruppe C in Rußland im Jahre 1941.

Vorsitzender Richter:

Die Einsatzgruppe C hatte ihren Standort wo?

Zeuge Erwin Schulz:

Ja, das wechselte, Herr Vorsitzender. Zunächst mal ausgehend von Berlin, dann nach Lemberg, von Lemberg nach Shitomir, und später war die Einsatzgruppe, glaube ich, in Kiew. Da bin ich aber nicht mehr dagewesen.

Vorsitzender Richter:

Also im Bereich der Heeresgruppe Süd in erster Linie.

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Und wann waren Sie nun dort bei dieser Einsatzgruppe C?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich wurde einberufen mit Ausbruch des Rußlandfeldzuges im Juni 1941.

Vorsitzender Richter:

Ja. Und wie lange blieben Sie dort?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich blieb vom, meines Erachtens, 23. Juni mit einer Unterbrechung. Ich fuhr von Rußland nach Berlin, mußte dann von Berlin noch mal zurückkehren und bin etwa um den 15. September herum nach Berlin zurückberufen worden.

Vorsitzender Richter:

41 alles?

Zeuge Erwin Schulz:

Alles im Jahre 1941.

Vorsitzender Richter:

Was hatte diese Einsatzgruppe für eine Aufgabe?

Zeuge Erwin Schulz:

Die allgemeine Aufgabe der Einsatzgruppe war Schutz des rückwärtigen Heeresgebietes.

Vorsitzender Richter:

41 alles?

Zeuge Erwin Schulz:

Alles im Jahre 1941.

Vorsitzender Richter:

Was hatte diese Einsatzgruppe für eine Aufgabe?

Zeuge Erwin Schulz:

Die allgemeine Aufgabe der Einsatzgruppe war Schutz des rückwärtigen Heeresgebietes.

Vorsitzender Richter:

Hatten Sie dabei unter anderem auch die Aufgabe, unbewaffnete Zivilisten zu töten?

Zeuge Erwin Schulz:

Zunächst einmal wurde uns in Lemberg der sogenannte Kommissarbefehl bekanntgegeben, im Zusammenhang mit dem Barbarossa-Befehl. Später, nach unserem Eintreffen in Berditschew, wurden wir darauf hingewiesen, daß die jüdische Bevölkerung eine tödliche Gefahr im Rücken der Wehrmacht sei und daß alle männlichen Juden, sofern sie nicht im Arbeitseinsatz sind, zu erschießen seien.

Vorsitzender Richter:

Sind Ihnen auch derartige Befehle zugegangen? Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie nach § 55 der Strafprozeßordnung[1] das Recht haben, die Aussage zu verweigern, wenn Sie sich selbst der Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung aussetzen müßten, soweit Sie nicht bereits deshalb verurteilt sind. Sind Sie in irgendeiner Weise verurteilt worden?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl. Ich bin in Nürnberg verurteilt worden, und zwar in dem sogenannten Einsatzgruppenprozeß, dem Ohlendorf-Prozeß. Bin zunächst bestraft worden mit 20 Jahren, bin dann begnadigt worden zu 15 Jahren und bin im Januar 1954 entlassen worden.

Vorsitzender Richter:

Nun, Herr Zeuge, haben Sie sich gegen diese Einsatz- beziehungsweise gegen diese Tötungsbefehle gewehrt?

Zeuge Erwin Schulz:

Zunächst einmal habe ich mich bemüht, [Pause] möglichst Schlimmes zu verhindern. Das ist mir zu einem großen Teil auch geglückt. Aber im August 1941 wurden wir zum Einsatzgruppenchef Doktor Rasch befohlen. Und hier wurde uns mitgeteilt, daß der Befehl gegeben sei, daß nunmehr, wenn Juden zu erschießen sind, auch die Frauen und Kinder zu erschießen seien, damit dem deutschen Volke keine Rächer entstünden. Diese Begründung und diese Tatsache erschienen mir so ungeheuerlich, daß ich damals der Meinung war, daß es kein höchster Befehl sein konnte. Ich nahm damals an, daß es sich hier [...] wohl eher um [+ eine] willkürliche Maßnahme des Höheren SS- und Polizeiführers und meines Einsatzgruppenchefs handelte, die beide, um einen Ausdruck zu nehmen, sehr fanatisch waren.

Ich versuchte deshalb, mit Berlin Fühlung aufzunehmen. Das war auf dem Wege über den Funk sehr schwierig. Um einen Ausweg zu finden, beurlaubte ich einen Angehörigen meines Einsatzkommandos und gab ihm einen Brief an den damaligen Amtschef I im Reichssicherheitshauptamt, Gruppenführer Streckenbach, mit, unter Hinweis auf Vorgänge ungeheuerlicher Art, mit der Bitte, mich nach Berlin zu berufen.

Das ist dann auch geschehen, und zwar um den 20. August herum. Ich fuhr damals in zwei Tagen mit dem Wagen nach Berlin, schilderte Herrn Streckenbach das, was sich da ereignet hatte, und Herr Streckenbach wollte sich bemühen, die Dinge zu klären und abzustellen. Ich mußte dann einige Tage warten. Soweit ich unterrichtet bin, hatte inzwischen Herr Streckenbach eine Unterredung mit Gruppenführer Heydrich. Und als ich wieder hinbestellt wurde, wurde mir eröffnet, daß an den Dingen nun nichts mehr zu ändern sei.

Ich bat dann um meine Ablösung und erweiterte meine Bitte auch noch auf einen Lehrgang der Schule, den sogenannten Lehrgang der Anwärter des leitenden Dienstes, wobei ich besonders darauf hinwies, daß diese Menschen, die ja einmal als Vorgesetzte fungieren sollten, bei der Durchführung derartiger Aufgaben entweder zerbrechen oder verrohen müßten. Ich mußte noch mal ein oder zwei Tage warten. Dann wurde mir die Entscheidung mitgeteilt, daß ich abgelöst sei und daß auch der sogenannte Lehrgang der Anwärter des leitenden Dienstes aus dem Einsatz zurückgezogen werde.

Vorsitzender Richter:

Ist noch eine Frage von seiten des Gerichts? Bitte schön.

Richter Hotz:

Welches war Ihr Dienstgrad damals, Herr Schulz?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich habe die Frage nicht verstanden.

Richter Hotz:

Welches war Ihr Dienstgrad?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich war damals Oberster Polizei- und SS-Standartenführer.

Richter Hotz:

Sind Sie im Kriege noch einmal befördert worden?

Zeuge Erwin Schulz:

Im Jahre [1942]. [...]

Richter Hotz:

Und wo ist Ihre Verwendung dann gewesen? Nur ungefähr, als was sind Sie dann verwandt worden?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich bin zum Schluß Inspekteur der Sicherheitspolizei in Salzburg gewesen. Ich bin vorübergehend Nachfolger von Herrn Streckenbach gewesen, der wegen der Vorgänge in Rußland seinerzeit seinen Abschied genommen hatte und in die Waffen-SS eintrat, bin dann aber nach etwa einem Jahr abgelöst worden und als Inspekteur der Sicherheitspolizei nach Salzburg gekommen.

Richter Hotz:

Danke sehr.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Waren Sie SS-Laufbahn oder alter Polizeioffizier?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich bin alter Polizeioffizier.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Wann eingetreten?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich bin 1923 in die Polizei eingetreten.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und waren 33 welcher Dienstgrad?

Zeuge Erwin Schulz:

33 war ich Hauptmann der Schutzpolizei.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und waren dann in den Neuaufbau übernommen worden?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich bin schon im Jahre 1930 in die politische Polizei Bremen gekommen. Und aus der politischen Polizei Bremens, der sogenannten Nachrichtensammelstelle, ist dann die Staatspolizei geworden, automatisch.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Aha. Waren aber vor 33 politisch nicht gebunden?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Und hatten Sie von 33 bis 39 Truppendienststellung, oder waren Sie schon im Stab, also im Reichssicherheitshauptamt, vor 39?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein, ich bin bis 39 in Bremen gewesen.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Im Truppendienst?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein. Ich bin damals als Polizeioffizier in die Nachrichtensammelstelle, in die politische Polizei, gekommen.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ah so.

Zeuge Erwin Schulz:

Und bin dann dort

Ergänzungsrichter Hummerich [unterbricht]:

Gestapobeamter gewesen?

Zeuge Erwin Schulz:

Mit übernommen worden. Und als dann die politische Polizei in Staatspolizei umgewandelt wurde, bekam ich im Jahre 1934 die Staatspolizeistelle Bremen.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Aha. Sie waren Leiter der Staatspolizeistelle Bremen?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl.

Ergänzungsrichter Hummerich:

Ja. Danke schön.

Vorsitzender Richter:

Herr Staatsanwalt? Herr Rechtsanwalt Ormond?

Nebenklagevertreter Ormond:

Lediglich eine Frage. Ihre letzte Funktion war Inspekteur der Sicherheitspolizei in Salzburg. Und was war der letzte Dienstgrad?

Zeuge Erwin Schulz:

SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei.

Nebenklagevertreter Ormond:

Danke.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Raabe?

Nebenklagevertreter Raabe:

Keine.

Vorsitzender Richter:

Doktor Kaul? Von seiten der Verteidigung? Herr Rechtsanwalt Göllner?

Verteidiger Göllner:

Herr Zeuge, sind in der Zeit Ihrer Tätigkeit junge Offiziere an Sie herangetreten und haben erklärt, daß ihnen die Erschießung von Juden seelisch eine Qual und undurchführbar wäre?

Zeuge Erwin Schulz:

Während der Zeit meiner Tätigkeit ist mir ein derartiger Fall nicht bekannt.

Verteidiger Göllner:

Kein einziger Fall?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein.

Verteidiger Göllner:

Wie lange war Ihre Tätigkeit in ?itomir und Lemberg genau?

Nebenklagevertreter Kaul [unterbricht]:

[unverständlich]

Verteidiger Göllner:

Nein, das ist nicht beantwortet, wann er weggekommen ist. Er hat zwar gesagt, wann er hingekommen ist, aber nicht, wann [+ es] zu Ende [+ war], Herr Kollege Kaul.

Nebenklagevertreter Kaul:

15.9.41, Kollege Göllner.

Vorsitzender Richter:

Bis zum September 41, hat er gesagt.

Nebenklagevertreter Kaul:

Ich habe es notiert: 15.9.

Verteidiger Göllner:

Danke.

Zeuge Erwin Schulz:

Bis etwa 15. September.

Verteidiger Göllner:

Ist Ihnen ein Fall bekannt, daß jemand der unterstellten Mannschaften oder Offiziere erklärt hat, er weigere sich, Juden zu erschießen?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein, ein solcher Fall ist mir während meiner Tätigkeit auch nicht bekanntgeworden. [Pause]

Verteidiger Göllner:

Hypothetisch: Was hätten Sie machen müssen oder gemacht, wenn Ihnen ein solcher Fall passiert wäre?

Zeuge Erwin Schulz:

Herr Anwalt, diese Frage ist kürzlich schon mal an mich gestellt worden. Ich möchte sie auch dahingehend beantworten, daß es mir zweifellos heute ein leichtes wäre, irgend etwas zu sagen. Aber ich bitte, damit einverstanden zu sein, wenn ich Ihnen die Antwort gebe: Ich weiß es nicht, was ich getan hätte, wenn der Fall praktisch an mich herangetreten wäre.

Verteidiger Göllner:

Ich habe keine weiteren Fragen.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Gerhardt.

Verteidiger Gerhardt:

Ich weiß nicht, ob die Frage beantwortet ist, ich bitte um Entschuldigung. Herr Zeuge, sind dann während Ihrer Tätigkeit, in Ihrem Befehlsbereich, Erschießungen vorgekommen?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl, es sind Erschießungen vorgekommen.

Verteidiger Gerhardt:

Wer hat diese Erschießungen vorgenommen? Die Offiziere oder einfache Soldaten?

Zeuge Erwin Schulz:

Meist die einfachen Soldaten.

Verteidiger Gerhardt:

Die einfachen Soldaten. Richtig, das ist auch meine Meinung. Hatten Sie nicht die Möglichkeit, den Befehl zu erteilen, es werden keine Erschießungen durchgeführt?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein.

Verteidiger Gerhardt:

Hatten Sie nicht. Danke.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Doktor Eggert?

Verteidiger Eggert:

Weshalb, Herr Zeuge, hatten Sie diese Möglichkeit nicht?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich habe diese Frage nicht verstanden.

Verteidiger Eggert:

Was hat Sie daran gehindert, den Befehl zu erteilen, die Erschießungen von wehrlosen Männern, Frauen und Kindern werden eingestellt?

Zeuge Erwin Schulz:

Dieser Befehl konnte von mir nicht gegeben werden, da er von höherer Warte erteilt war.

Verteidiger Eggert:

Das für sich alleine ist wohl keine Beantwortung meiner Frage. Was hat Sie davon abgehalten, sich den von höherer Warte erteilten Befehlen, wie Sie sagen, zu widersetzen?

Staatsanwalt Kügler:

Die Frage ist beantwortet, Herr Vorsitzender. Ebender Umstand, daß der Befehl von oben kam, hat den Zeugen, wie er sagt, davon abgehalten, sich dem Befehl zu widersetzen.

Verteidiger Eggert:

Aber Herr Staatsanwalt, wir sind jetzt gerade am Problem, das hier zu entscheiden ist. Und

Staatsanwalt Kügler [unterbricht]:

Ja, genau das war damals offenbar die Auffassung des Zeugen. Das hat er hier gesagt.

Vorsitzender Richter:

Ja, nun wollen wir das doch erst mal beantwortet haben von dem Zeugen.

Staatsanwalt Kügler:

Das hat er bereits beantwortet.

Verteidiger Eggert:

Ich glaube nicht.

Vorsitzender Richter:

Nein. Der Zeuge hat gesagt: »Weil der Befehl von oben gekommen ist, deshalb mußte ich ihn ausführen.« Oder ausführen lassen. Und nun fragt Herr Doktor Eggert: »Und warum haben Sie nicht einfach diesen Befehl nicht weitergegeben oder inhibiert?«

Zeuge Erwin Schulz:

Ich sah mich dazu völlig außerstande. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß ich von mir aus alles getan habe oder nach meinem Dafürhalten das menschenmögliche getan habe, um

Verteidiger Eggert [unterbricht]:

Das haben Sie schon gesagt, Herr Zeuge. Weshalb haben Sie sich außerstande gesehen?

Zeuge Erwin Schulz:

Weil die Befehle waren gegeben. Und, das muß ich hier sagen, da sie allen Stellen bekannt waren, habe ich zunächst einmal angenommen, daß es sich tatsächlich um einen Befehl handelt, der genau überprüft und aus Kriegsnotwendigkeiten gegeben war. Ich hatte nicht das Gefühl, so unmenschlich diese Befehle waren, daß es sich [+ um] ein ausgesprochenes Unrecht handelt.

Verteidiger Eggert:

Was haben Sie eigentlich für einen Bildungsweg durchlaufen, Herr Zeuge? [Pause]

Zeuge Erwin Schulz:

Ich bin nach dem Abitur

Verteidiger Eggert [unterbricht]:

Sie haben das Abitur. Danke, ich habe keine weiteren Fragen.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Doktor Aschenauer.

Verteidiger Aschenauer:

Kannten Sie Herrn Streckenbach gut vorher?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl, Herr Doktor.

Verteidiger Aschenauer:

Eine zweite Frage: Welche Stellung hatten Sie nach dem 15. September?

Zeuge Erwin Schulz:

Ich bin wieder nach Berlin zurückgekehrt, und zwar als Kommandeur der Führerschule.

Verteidiger Aschenauer:

Wurde die Führerschule nach dem 15. September eröffnet? War sie vorher geschlossen?

Zeuge Erwin Schulz:

Nein, die war fortlaufend geöffnet.

Verteidiger Aschenauer:

Aber das war die Chance für Herrn Streckenbach, Ihnen zu helfen.

Zeuge Erwin Schulz:

Bitte?

Verteidiger Aschenauer:

War das die Chance für Herrn Streckenbach, Ihnen zu helfen?

Zeuge Erwin Schulz:

Herr Streckenbach war damals Amtschef I. Und ich muß es der Ordnung halber erwähnen, daß mir Herr Streckenbach näher bekannt war. Ich war gut befreundet mit ihm.

Verteidiger Aschenauer:

Danke schön.

Vorsitzender Richter:

Herr Rechtsanwalt Doktor Laternser.

Verteidiger Laternser:

Ich habe nur eine Frage, Herr Zeuge. Aus welchem Gesetz wurde die in Nürnberg gegen Sie verhängte Strafe entnommen?

Zeuge Erwin Schulz:

Das entzieht sich meiner Kenntnis, Herr Anwalt. Das weiß ich nicht genau.

Verteidiger Laternser:

War es das Kontrollratsgesetz Nummer 10?

Zeuge Erwin Schulz:

Das möchte ich wohl annehmen. Aber ich glaube, die Frage kann sehr genau beantwortet werden, denn ich habe zufällig gesehen, daß mein Nürnberger Richter, Herr Musmanno, hier im Hause ist.

Vorsitzender Richter:

Angeklagter Klehr?

Angeklagter Klehr:

Ich persönlich hätte eine Frage an den Zeugen.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Angeklagter Klehr:

Herr Zeuge, ich wollte Sie mal fragen: Bestand überhaupt die Möglichkeit vom Mannschaftsdienstgrad, diesen Befehlen sich zu widersetzen oder sie zu verweigern?

Zeuge Erwin Schulz:

Soweit ich die Dinge damals übersehen konnte, gab es diese Möglichkeit damals nicht.

Angeklagter Klehr:

Danke.

Vorsitzender Richter:

Und warum nicht?

Zeuge Erwin Schulz:

Weil der Betreffende sicherlich mit einer schweren Bestrafung rechnen mußte. Und, Herr Vorsitzender, was ich schon sagte: Die Menschen waren der Meinung, daß es sich hier um eine Kriegsnotwendigkeit handelte. Ich darf darauf hinweisen, daß der Partisanenkrieg schon damals begonnen hatte, daß laufend Plünderungen, Sabotagefälle vorkamen, Brückensprengungen und alles mögliche, so daß

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

41 in der Ukraine?

Zeuge Erwin Schulz:

Auch schon.

Vorsitzender Richter:

Im Sommer 41 in der Ukraine?

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl.

Vorsitzender Richter:

Nun, Herr Zeuge, Sie haben die Frage nicht ganz beantwortet. Sie wurden gefragt, ob es für diese Leute die Möglichkeit gegeben hätte, sich dem Befehl zu widersetzen. Sie haben die Frage dahin beantwortet: Die Leute waren damals der Auffassung, es handele sich um eine Kriegsnotwendigkeit und es müsse deshalb der Befehl ausgeführt werden.

Das ist aber nicht der Sinn der Frage gewesen, sondern der Sinn der Frage war gewesen, ob die Leute sich hätten weigern können, diese Befehle, wenn sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbar gewesen sind, auszuführen und was die Folgen davon gewesen wären.

Verteidiger Gerhardt:

Diese Frage ist beantwortet. Der Zeuge

Verteidiger Steinacker [unterbricht]:

Der Zeuge hat gesagt, keine Möglichkeit haben die Mannschaften gesehen, sich diesen Befehlen zu widersetzen. Und dann hat er erst angefügt, warum er glaubt, daß die

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Die Mannschaften sahen keine Möglichkeiten.

Verteidiger Steinacker:

[unverständlich] mit harten Strafen.

Vorsitzender Richter:

Mit harten Strafen. Und worin hätten diese harten Strafen bestanden?

Zeuge Erwin Schulz:

Da mir ein praktischer Fall nicht bekannt ist, Herr Vorsitzender, vermag ich das nicht zu sagen.

Vorsitzender Richter:

Nun, was war Ihre Dienstpflicht in solchen Fällen, wenn ein Mann sich geweigert hätte, an diesen Erschießungen teilzunehmen? Mußten Sie da einen Tatbericht einreichen? Oder mußten Sie selbst vorgehen, oder wie war das geregelt?

Zeuge Erwin Schulz:

Eine feste Regelung lag hierfür nach meiner Erinnerung nicht vor. Und ich könnte mir auch hier die Beantwortung der Frage heute sehr leicht machen, Herr Vorsitzender, indem ich gesagt hätte, ich hätte wahrscheinlich für den Menschen Verständnis aufgebracht. Aber ich wäre wahrscheinlich nicht davon befreit gewesen, einen Tatbericht zu machen. Denn ich bitte, darauf hinweisen zu dürfen, daß ein derartiger Fall natürlich im ganzen Kommando voraussichtlich bekanntgeworden wäre. Und daß bei einer Unterdrückung einer solchen Tatsache [Pause] der ganze Vorgang noch [mehr erschwert] worden wäre.

Vorsitzender Richter:

Also mir kommt es nur darauf an zu wissen, ob Sie nach Ihren Vorschriften in solchen Fällen einen Tatbericht hätten einreichen müssen oder ob vielleicht ohne Tatbericht irgendwelche Maßnahmen getroffen worden wären, etwa daß der Mann erschossen worden wäre.

Zeuge Erwin Schulz:

Nein.

Vorsitzender Richter:

Das gab es nicht. Es wäre ein Tatbericht eingereicht worden, so daß das Gericht in einem solchen Fall auch die Vorschrift des § 47 des Militärstrafgesetzbuches[2] hätte prüfen müssen, der Ihnen ja bekannt ist.

Zeuge Erwin Schulz:

Jawohl.

Verteidiger Laternser:

Ich habe noch eine Frage.

Vorsitzender Richter:

Ja, bitte schön.

Verteidiger Laternser:

Wegen des Zeitpunktes über den Beginn der Partisanentätigkeit: Herr Zeuge, wissen Sie, welches Datum der Aufruf Stalins trug, Partisanentätigkeit zu entwickeln, zu Beginn?

Zeuge Erwin Schulz:

Das kann ich nicht sagen. Mir ist aber aus meiner dienstlichen Tätigkeit in der politischen Polizei in Bremen bekannt, daß es schon vor 1933, glaube ich, eine Broschüre »Der Partisan« gab, in der die Partisanentätigkeit verherrlicht und als besonders wertvolle Aufgabe im Interesse der Landesverteidigung gegeben wurde.

Verteidiger Laternser:

Herr Zeuge, ich meine jetzt nicht die Werke, die nach dem Kriege über das Ausmaß der Partisanenkämpfe auch in Rußland entstanden sind. Ich meine nur: Wann hat Stalin zur Partisanentätigkeit aufgerufen? Wissen Sie, daß das schon Anfang Juli 41 war?

Zeuge Erwin Schulz:

Das weiß ich nicht, ich

Verteidiger Laternser [unterbricht]:

Ah so, dann danke schön.

Verteidiger Gerhardt:

Ich hätte noch eine Frage, Herr Vorsitzender.

Vorsitzender Richter:

Bitte schön.

Verteidiger Gerhardt:

Herr Zeuge, Sie sagten, daß es einfache Soldaten waren, die die Erschießungen nach Ihren Feststellungen vorgenommen haben. Und Sie sagten dann, daß im Falle einer Befehlsverweigerung mit einer harten Strafe hätte gerechnet werden müssen. Sie sagten dann ferner, daß Sie Feststellungen über einen konkreten Fall nicht hätten treffen können. Haben Sie Feststellungen treffen können, daß der einfache Soldat, der also in diesem Unterordnungsverhältnis beziehungsweise Überordnungsverhältnis groß geworden ist, daß der von sich aus gar nicht den Mut gefunden hat, irgendwie seinem Vorgesetzten gegenüber, einem Offizier gegenüber, seine Abneigung gegen derartige doch ungewöhnliche Dinge kundzutun?

Zeuge Erwin Schulz:

Das halte ich durchaus für möglich, Herr Anwalt. Denn ich bitte, darauf hinweisen zu dürfen, daß die Verhältnisse damals ja ganz andere waren, als die heutige Generation sie überhaupt noch zu verstehen vermag. Es wurden derartig harte Forderungen an die Menschen gestellt, und es waren auch derartig harte Strafen aus anderen Anlässen bekannt, daß ich den Umständen nach annehmen muß, daß tatsächlich die wenigsten Menschen den Mut gefunden haben, einen Befehl zu verweigern.

Vorsitzender Richter:

Wissen Sie, Herr Zeuge, ob von diesen Juden, die da in der Ukraine zusammengetrieben worden sind, auch welche nach Auschwitz geschafft worden sind?

Zeuge Erwin Schulz:

Das ist mir unbekannt, Herr Vorsitzender. Ich glaube es aber nicht.

Vorsitzender Richter:

Oder überhaupt in irgendwelche Lager, [+ nach] Treblinka oder sonstwohin?

Zeuge Erwin Schulz:

Die Namen Treblinka und Auschwitz sind mir damals völlig unbekannt gewesen.

Vorsitzender Richter:

Ja. [Pause] Fragen sind sonst keine mehr zu stellen? Welche Anträge werden bezüglich der Beeidigung gestellt?

Nebenklagevertreter Kaul:

60, Ziffer 3. Die Einsatzgruppen, von denen dieser Zeuge ein Kommando befehligt hat, waren nach unserer heutigen Erkenntnis ausschließlich Mörderbanden, die eingesetzt waren, um den Massenmord an jüdischen Menschen, den man mit »Endlösung« tarnte, zu beginnen. Das hat mit Partisanenkampf nichts zu tun gehabt und mit Partisanenbekämpfung. Das hat nichts zu tun gehabt mit der Sicherung militärischer Rückzugslinien oder des militärischen Hintergeländes. Sondern das war ausschließlich blanker, krasser Mord.

Diese Einsatzgruppen sind Mörderbanden, und sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenmorden der sogenannten Endlösung, die späterhin weiter in Auschwitz und den Vernichtungslagern vollzogen wurden. Der Zeuge ist insofern aufs innigste verbunden mit den Mordtaten, die hier den Angeklagten zum Vorwurf gemacht werden. Und ich bitte insofern, von 60, Ziffer 3 Gebrauch zu machen und seine Beeidigung nicht vorzunehmen.

Verteidiger Gerhardt:

Ich beantrage die Vereidigung des Zeugen. Ich sehe keinerlei Gründe vorliegen, die hier einer Vereidigung entgegenstehen können. Der Zeuge ist wegen seiner Taten verurteilt worden. Und ich habe nicht den Eindruck – ich glaube, auch nicht das Hohe Gericht –, daß dieser Zeuge hier in irgendeinem Punkte die Unwahrheit gesagt hat. Im Gegenteil, es ist einer der wenigen Zeugen, die erstmalig den Mut gefunden haben, in klarer Form die damaligen Verhältnisse wiederzugeben.

Verteidiger Laternser:

Wenn man die Frage juristisch beurteilt – und nicht, wie Herr Doktor Kaul sie macht –, dann braucht man sich nur den Gesetzestext vor Augen zu halten. Und dann ergibt sich, daß jedenfalls auf Grundlage von 60, Ziffer 3 – auf diese Bestimmung beruft sich ja die Nebenklage – von einer Beeidigung nicht abgesehen werden kann.

Nebenklagevertreter Kaul:

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß die Massenmorde an jüdischen Menschen, praktisch die Vernichtung der jüdischen Menschen, eine Einheit waren – ich wiederhole das immer wieder und wieder –, eine Einheit waren, deren Zentralkommandostelle im Reichssicherheitshauptamt war. Genau wie diese Zentralkommandostelle die Vernichtungslager[3]

  1. StPO § 55: »1. Der Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der im § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zuziehen würde. 2. Der Zeuge ist über sein Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren.«.
  2. MStGB § 47: »(1) Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers: 1. wenn er den erteilten Befehl überschritten hat, oder 2. wenn ihm bekannt gewesen ist, daß der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte. (2) Ist die Schuld des Untergebenen gering, so kann von seiner Bestrafung abgesehen werden.« Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Erläutert von Erich Schwinge. 6. Aufl., Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag, 1944, S. 100.
  3. »Der Zeuge Schulz bleibt gemäß § 60, Ziff. 3 StPO unvereidigt, da er als Nachfolger des ebenfalls unvereidigt gebliebenen Zeugen Streckenbach Chef des Amtes I im RSHA war und damit der Beteiligung an den Straftaten verdächtig ist, die den Gegenstand der Untersuchung bilden.« Protokoll der Hauptverhandlung vom 29.03.1965, 4 Ks 2/63, Hauptakten, Bd. 109, Bl. 1.292.
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